Liebe Leser,
der Literat Eduardo Galeano sagte im November
2003 in einem Zeitungsinterview: „Ich denke nicht, dass der Kapitalismus
ein Schicksal ist, dass die Menschheit mit nahezu griechischer
Ergebenheit hinnehmen muss. Die gegenwärtige Zeit ist kein Schicksal,
sondern eine Herausforderung. Sie besteht darin, nach wie vor an den
notwendigen Bau einer anderen Welt zu glauben. Denn die jetzige Erde
wird ja für die meisten ihrer Bewohner so erlebt, als sei sie die Hölle
eines ganz anderen Planeten. Man muss die Realität bewusst als
Herausforderung annehmen. Ohne Angst zu haben vor dem berechtigten
Zweifel, ob diese ganz andere Welt überhaupt möglich ist. So paradox das
klingt: Dieser Zweifel ist sogar gut. Er beschützt vor
Leichtgläubigkeit. Die einzige Gewissheit, von der ich überzeugt bin,
ist die Gewissheit der Zweifel, die mich jeden Morgen, von der ersten
wachen Stunde an bedrängen. Diese Zweifel sind das wichtigste Instrument
- gegen die Routine eines Denkens, das glaubt, immer linear vorgehen zu
können.
Wir alle sind Opfer der Angst. Sie ist ein großes Gefängnis, und wir
sind ihre Gefangenen. Die Mächtigen haben eine Angstmaschine geschaffen,
ihr entströmen gleichsam Gase, die paralysieren. Damit die Menschen
nicht handeln, damit sie klein gehalten werden durch eine grundsätzliche
Angst vor dem Leben.“ Soweit Galeano.
Zweifeln gegen die Angst. Zweifeln für eine neue Welt. Die Gefahr, die
Galeano für unsere Welt sieht, ist die Leichtgläubigkeit. Sie lässt uns
vor allem das glauben, was Angst macht. Die Angst lässt umso mehr in
zweifelhafte Sicherheiten kuscheln, die zu Gefängnissen werden. In
seiner Kritik an der ängstlichen Kleingläubigkeit, die das Unheil
geradezu heraufbeschwört, ist Galeano wie eine der großen Gestalten der
Bibel.
Die großen Personen der Bibel werden als Glaubende beschrieben: Noah,
Abraham, Isaak, Jakob, Mose und die Propheten, David, Salomo, Jesus,
Petrus, Paulus. Ich behaupte, sie alle waren in erster Linie Zweifler
wie Galeano behauptet einer zu sein. Sie zweifelten an scheinbaren
Sicherheiten, fragten weiter als ihre Umwelt das tat. Denn Glaube und
Zweifel sind austauschbar: Zweifel ist der wachsende Glaube daran, dass
die Wirklichkeit anders ist als bisher angenommen.
Zweifel beschreibt das, an was man nicht mehr oder immer weniger glaubt.
Und Glaube beschreibt von dort aus weiterschreitend, was man nun
umgekehrt glaubt.
Glauben wecken hieße also, Zweifel wecken an dem, was bisher als sicher
galt. Die Bibel ist darin eine Meisterin. Sie zertrümmert einerseits die
allzu wohligen Sicherheiten, eine nach der anderen. Und sie rüttelt
andererseits auch an der Verzweiflung, der dunklen Gewissheit, bis sie
in sich zusammenstürzt. Beides in gleicher Radikalität. Sie schlägt
alles, was die Sicht auf Gott verbaut, kurz und klein und erweist es
damit als vorläufig und brüchig. In ihren Worten zerschlägt die Bibel
alles Vorläufige bis nichts mehr bleibt als Gott allein und der Horizont
Gottes so deutlich und weit vor uns liegt, dass es nicht mehr in Worte
passt.
Glauben wäre so radikaler Zweifel, der immer wieder den Horizont zu
überschreiten versucht, weil er das, was er sieht, als nur vorläufig,
als Abbild, Götzenbild, als nur Teil der Wahrheit erkennt, über das er
hinaus kommen will. Ich meine, das ist Glauben - Zweifeln Richtung
Wahrheit.
Glauben wecken, davon bin ich überzeugt, heißt Zweifel zu wecken an dem
bisschen, das wir für Glauben halten, Zweifel zu wecken an dem bisschen,
dem wir die Stelle Gottes einräumen, Zweifel an dem, was uns so wichtig
geworden ist, dass wir es fein säuberlich abgeschirmt haben.
Glauben heißt, Zweifel zu wecken, den Horizont anzubohren, ob er nicht
vielleicht nur Kulisse ist.
Warum nicht mal die Holzwürmer an unsere Götter lassen, um zu sehen,
ob´s nicht vielleicht doch nur Holzklötze sind? Warum den Zweifel nicht
auch mal an die Bibel ansetzten, sie durchsehen und verbessern, was
unserer Meinung nach anders lauten müsste. Und nach einem Jahr mal die
Verbesserungen anzweifeln, sie durchsehen und mit dem Rotstift die
eigenen Verbesserungen korrigieren? Warum denn nicht? Vielleicht kommt
ein Gespräch mit Gott dabei heraus.
Warum nicht mal Sprengsätze und Abrissbirnen ranlassen an die Bunker
unserer Überzeugungen, ob sie denn wirklich halten oder ob sich´s im
Freien nicht besser lebt? Beim Überprüfen unserer Grundüberzeugungen
wird es vermutlich richtig schweres Gerät brauchen. Schließlich haben
wir unser Leben auf diese Bunkermauern gegründet.
Warum nicht mal die Grabplatten aus all dem anbohren, was allzu hart
geworden ist, vielleicht lebt darunter ja noch was? Warum nicht mal den
Grund des Meeres aufbohren um zu sehen, ob´s nicht doch nur eine
Badewanne ist?
Jesaja tut in unserem Predigttext genau das, was ich eben in
verschiedenen Bildern beschrieben habe: Er bohrt unsere Wirklichkeit an,
um zu sehen, ob dahinter nicht noch eine andere Welt, eine andere
Wirklichkeit zu finden ist. Er infiziert uns mit seinem Zweifel an der
Welt, wie er sie vorfindet oder anders ausgedrückt: Er weckt in uns den
Glauben an eine andere Welt, die hinter den Kulissen bereits besteht und
die es wahrzunehmen gilt.
Jesaja setzt den Bohrer an und durchlöchert unsere dunkle Gewissheit,
dass Zerstörtes zerstört bleibt;
Er bohrt die dunkle Gewissheit an, dass manche nie verstehen werden;
Er durchlöchert die todbringende Überzeugung, dass wer mal abgestürzt
ist, nicht mehr hochkommt;
dass Terrorismus nicht zu stoppen ist;
dass Armut und Hunger Schicksal sind, und Lüge, Bestechung und Betrug
nun mal zum Geschäft gehören.
Jesaja bohrt unsere dunklen Gewissheiten an. Er tut dies sanft, anders
als andere Propheten, die donnern gegen die Arroganz der Welt. Jesaja
bohrt sanft Gucklöcher in die Bunker unserer Angst. Denn er weiß, dass
er Gefängnisse aufbohrt, die verängstigte Menschen bergen. Man muss
Verängstigte vorsichtig befreien: Nicht Wände sprengen, sondern
Gucklöcher bohren und einladen hindurchzusehen. Der Blick hindurch in
die Freiheit in eine andere Welt, macht Mut, hinaus zu gehen, wenn die
Mauern fallen.
Wenn wir durch die Bohrlöcher blicken, sehen wir eine andere Welt.
Vielleicht weckt sie in uns den Zweifel, der uns nach draußen treibt -
hinaus aus den Gefängnissen der Angst - für eine andere Welt. Es gilt
gerade für unsere Zeit, sich daran zu erinnern, dass selbst der weite
Horizont des Meeres nicht das Ende der Welt markiert.
In der Aufklärung hat man das löbliche Projekt gestartet, über den
Horizont der Welt hinauszusegeln. Aber irgendwie hat man sich, noch
bevor das Schiff die Docks verlassen hatte, in der Takelage der Physik,
Chemie, Biologie und Sozialwissenschaften verheddert. Es dürfte sich
lohnen, das Projekt Aufklärung neu zu starten, die Horizonte anzubohren,
damit wir nicht meinen aufgeklärt zu sein und doch übers Mittelalter
nicht hinausgekommen sind. Die Weite unseres Horizonts markiert nicht
das Ende der Welt: Damals wie heute nicht. Lassen wir also Jesaja die
Horizonte anbohren und sehen wir durch die Löcher nach draussen. Dort
sehen wir:
Die Wüste blüht, die geistig Tauben, ewig Blödgeglaubten verstehen, die
Elenden, Armen und Verängstigten freuen sich am HERRN. Terror, Tyrannei
und Unrecht haben ihr Ende gefunden und die Welt sieht klar. Wenn das
keine ermutigend gute Aussicht auf den Horizont Gottes ist. Vielleicht
weckt der unendliche Horizont Gottes die Sehnsucht, ihm entgegenzusegeln
über den Rand unserer Welt hinaus. Mögen sei verrotten, die Bunker der
Angst. Uns ruft das Meer.
Der Friede Gottes, der größer ist als all unsere Vernunft, der fülle
unsere Segel durch den Geist Jesu Christi.
Vikar Michael Krauß
(Hospitalkirche Hof) |
Text:
17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so
soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land
ist, soll wie ein Wald werden.
18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die
Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;
19 und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten
unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus
sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil
anzurichten,
21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach,
der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des
Unschuldigen.
22 Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob:
Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht
mehr erblassen.
23 Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in
ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen
Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten.
24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und
die, welche murren, werden sich belehren lassen. |