Liebe Leser, „Eine ‚kaiserliche
Botschaft‘ hat Franz Kafka eine der kleinen, so prägnanten
Erzählungen in dem Erzählband ‚Ein Landarzt‘ genannt. Der Kaiser -
so heißt es - hat dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen,
dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne
geflüchteten Schatten, gerade dir hat der Kaiser von seinem
Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Er hat den Boten niederknien
lassen, hat ihm die Botschaft ins Ohr geflüstert und hat ihn auf den
Weg geschickt. Der Bote ist ein kräftiger, unermüdlicher Mann. Er
schafft sich Bahn durch die Menge, findet Widerstand, boxt sich
durch. Aber die Menge ist zu groß, die Wohnstätten nehmen kein Ende.
Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest
du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an deiner Tür. Aber er
kämpft sich durch, die Höfe nehmen kein Ende, und stürzte er endlich
aus dem äußersten Tor - aber niemals, niemals kann es geschehen -,
liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt,
hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und
gar nicht mit der Botschaft eines Toten. - Du aber sitzt an deinem
Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.“ (zitiert nach
Hans Werner Dannowski, GPM 3/2000, Heft 4, S. 427)
Ein Ausleger schreibt: „Ist die Geschichte Kafkas von der
kaiserlichen Botschaft nicht an meiner Erfahrung näher dran, als
Jesaja 49? In einer ruhigen Stunde, in der ich mein Leben überdenke,
am Abend eines Tages vielleicht, träume ich der großen,
entscheidenden Botschaft des Lebens entgegen. Ja, ich ahne, sie ist
unterwegs. Ja, ich habe es ja auch erfahren, dass ich - ähnlich wie
der (…) Prophet es ausdrückt - gewollt, geliebt bin. Ich habe einen
Namen, mit dem ich gerufen, durch den ich anerkannt bin, bin nicht
ein zufälliges Stück Materie, das von irgendwo herunterfällt und
wieder eingeschmolzen wird. Aber eine eher individuelle, eine
isolierte, auch eine sehr bedrohte Erfahrung ist das doch. ‚Ich aber
dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst
und unnütz‘: Das kann ich voll und ganz nachempfinden. Dass ich
eingegliedert bin in einen guten Sinn einer Geschichte, die auch
alle anderen meint, dass das Leben von Menschen zum Spiegel der
Herrlichkeit Gottes wird und dass das Heil bis an die Enden der Erde
reicht: Das ist doch eher ein Traum. Den ich nicht verwerfen will,
sonst träumte ich ihn nicht. Aber irgendetwas scheint die
Realisierung aufgehalten zu haben, im Dickicht der Weltgeschichte
steckt die gute Botschaft fest.“ (Hans Werner Dannowski, a.a.O., S.
427f)
Im Dickicht der Weltgeschichte, im Dickicht der Kirchengeschichte,
im Dickicht der persönlichen Geschichte, steckt die gute Botschaft
wirklich allzu oft fest. Wer so spricht, beweist Realitätssinn. Und
der ist das Schlechteste nicht. Denn sonst wird aus dem Traum ein
gefährlicher Traum. Glaube darf an der Realität leiden und
verzweifeln, aber sehen muss er sie. Er darf wie der Prophet Jeremia
sogar an Gott verzweifeln (vgl. Klagelieder Jeremias, Kap 3). Aber
Glaube, der die Realität nicht mehr wahrnimmt, wird zur
realitätsfernen Schwärmerei. Er wird verrückt.
„Der Lyriker Kurt Drawert, der aus Brandenburg stammt und bis 1993
in Sachsen gelebt hat, hat in einem seiner Gedichtbände eine Rede
veröffentlicht, die er 1994 bei der Verleihung des
Uwe-Johnson-Preises gehalten hat. In dieser Rede hat er
eindrucksvoll das Gefühl von Unwirklichkeit beschrieben, das er aus
den kommunistischen Systemen des Ostens kennt. Eine Unwirklichkeit,
die wohl aus der säkularisierten Idee von der Erlösung stammt, die
diese Systeme getragen hat, und die die Realität immer nur aus dem
Abstand des Anspruchs an das Reale zu sehen und zu bewerten
vermochte. ‚Also das, was das System von sich wahrnahm, war nicht,
was es vorfand, sondern was es über sich dachte‘. Eine in Wahrheit
abgeschaffte Wirklichkeit war die Folge, ein ‚permanenter Blick auf
das Leben aus der Perspektive einer angenommenen Vollkommenheit‘.
Ein entsprechendes System von Verwaltung und Macht sorgte dafür, die
Welt nach diesem angeblichen Wissen um die Wahrheit zu ordnen. Die
Realität floss einem dabei aus den Fingern, die Scheu vor Konflikten
führte zur Handlungsarmut, und die eigentliche Krankheit ist die
Verweigerung von Krankheit und führt endlich zur Verrücktheit.“
(Hans Werner Dannowski, a.a.O., S. 424)
Und was ist heute los in unserem Land? Besorgte Bürger wollen mit
der Realität, dem Dickicht der Weltgeschichte nichts mehr zu tun
haben und träumen von Ruhe und Frieden im Kreise der eigenen
Volksgenossen. Auch der Rechtsradikalismus hat seine säkularisierte
Idee von Erlösung. Mögen die fremde Welt und ihre fremden Menschen
draußen bleiben oder sofort wieder gehen – und alles wird wieder
gut. Schmeißt die Bösen raus, dann bleiben die Guten übrig. Wohin
solche falschen Träume, solche Schwärmerei und solcher
Realitätsverlust führen, sollten wir aus der Geschichte des
Nationalsozialismus und des Kommunismus gelernt haben. Ihre
Verbrechen und deren Opfer schreien noch heute zum Himmel. Deshalb
brauchen wir heute Politiker, die Realitätssinn besitzen und unser
Land mit Vernunft, ruhiger Hand und Augenmaß durch das Dickicht
unserer Weltgeschichte führen, allen Aufgeregtheiten, allem
kleinlichen Gezänk und aller lautstarken Hysterie zum Trotz. Das
würde genügen!
Fromm tun oder fromm sein, müssen sie deshalb nicht. Aber gerade
wenn sie es sind, sollten sie wissen: Heil nur für das eigene Volk
und der Rest der Welt soll schauen, wo er bleibt? Nicht einmal der
Gott des Alten Testaments träumt solche Träume. Er entgrenzt dem
Propheten sein Versprechen des Heils für sein Volk Israel zum Heil
für die ganze Welt. Da muss der Prophet eigentlich noch verzagter
werden. War seine Mission zum eigenen Volk schon von gefühlter
Vergeblichkeit, wie soll er da zum Heil der ganzen Welt antreten?
Aber Gott sei Dank hat Gott uns und allen, die im Dickicht der
Weltgeschichte scheinbar so vergeblich arbeiten nicht nur den
Propheten zur Seite gestellt. Die Christen haben dieses
Gottesknechtslied aus dem Jesajabuch als Hinweis auf Jesus, den
Christus gelesen. Denn zu seinem Leben passt in besonderer Weise,
was Jesaja beschreibt. Er hat auf besondere Art von Gott gepredigt.
Auch er wusste sich zuerst zu den Schafen Israels gesandt, bis Gott
ihm seinen Auftrag entgrenzte. Auch sein Weg war nach weltlichen
Maßstäben ein Weg des Scheiterns. Er endete im Verbrechertod am
Kreuz. Aber am Ostermorgen lässt Gott nicht zu, dass dieser Weg der
Gewaltlosigkeit und Liebe beerdigt wird. Am Ostermorgen setzt Gott
das Evangelium, die frohe Botschaft von Jesus dem Christus für immer
in Kraft.
Im Sommerurlaub saß ich in der evangelischen Kirche in Zingst auf
den Bänken, auf denen auch Dietrich Bonhoeffer im Sommer 1935 öfter
gesessen war. Bald war sein alternatives Predigerseminar in Zingst
und Finkenwalde verboten. Bald war das Attentat auf Hitler
gescheitert, bald landete er im Gefängnis und am Galgen in
Flossenbürg. Als Vaterlandsverräter galt er bis 1998. Heute wird er
als „Evangelischer Heiliger“ (Wolfgang Huber) gefeiert. War sein
Leben nicht auch ein Scheitern? Ein Scheitern, das Bonhoeffer mit
klarem Realitätssinn gesehen hat? Wie alles andere auch! Während
seine Kirche geblendet die falschen Träume der Nazis mitträumte. Was
würde er heute einer Kirche sagen, die aus Angst vor dem eigenen
Untergang, einen Traum nach dem anderen von einer besseren,
interessanteren Kirche träumt und sie mit einem Reformprogramm nach
dem anderen ins Werk setzen will? Er hätte ihr gesagt, was der
Hebräerbrief fordert und was ihm allein Kraft und Halt für seinen
Weg gab: „Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender
des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz
erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur
Rechten des Thrones Gottes.“ (Hebräer 12,2)
Schließen wir mit dem Glaubensbekenntnis Bonhoeffers von 1934:
Ich glaube,
dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube,
dass Gott uns in jeder Notlage
so viel Widerstandskraft geben will,
wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.
In solchem Glauben müsste alle Angst
vor der Zukunft überwunden sein.
Ich glaube,
dass Gott kein zeitloses Fatum ist,
sondern dass er auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet und antwortet.
Darauf sagen wir Amen!
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
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Die Predigt zum Hören
Text:
1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker
in der Ferne, merkt auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe
an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter
war.
2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem
Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen
Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt.
3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich
mich verherrlichen will.
4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine
Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein
Lohn bei meinem Gott.
5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem
Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und
Israel zu ihm gesammelt werde - und ich bin vor dem HERRN wert
geachtet und mein Gott ist meine Stärke -,
6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme
Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen,
sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein
Heil reiche bis an die Enden der Erde.
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