Liebe Leser,
„Bitte lassen Sie nicht dieses Lied singen“, bat mich ein älterer Herr,
der seine goldene Hochzeit mit einem kleinen Gottesdienst in der Kirche
begehen wollte. Er hatte mir aus seinem langen Leben erzählt, von den
schweren Jahren nach dem Krieg, vom Tod des einen Sohnes, vom Verlust
seines Geschäfts. „Bitte lassen Sie nicht dieses Lied singen“, sagte er.
„Bis hierher hat mich Gott gebracht, sie verstehen, das hat so einen
zweideutigen Klang.“
„Wenn wir’s nicht sehen, Gott sieht alles“, sagt die Mama mit erhobenem
Zeigefinger zum ungehorsamen Nachwuchs. Und der Kleine lernt, dass Gott
der verlängerte Arm seiner Eltern ist. Unausrottbar ist auch für
kirchenabstinente Erziehungsberechtigte der Hang, bei pädagogischer
Ratlosigkeit alle Schutzheiligen überforderter Eltern anzurufen, vom
Knecht Rupprecht über den Nikolaus, bis zum lieben Gott. So hat der liebe
Gott schon für Kinder einen zweideutigen Klang.
Am vergangenen Freitag gab Peter F Barrenstein, der Direktor von McKinsey,
einer führenden Firma in Sachen Unternehmensberatung, dem Rheinischen
Merkur ein Interview und beklagte darin den schleppenden Strukturwandel
der Kirche, die immer mehr Marktanteile verliere. Und dann sagte er auf
die Frage, was denn die Hauptsache in der Kirche sei, wörtlich: „Die
Repräsentanten der Kirche sollten sich wieder mehr trauen zu sagen: Wir
haben etwas zu bieten, was kein Wettbewerber, der uns Marktanteile
wegnimmt, was kein Freizeit- oder Esoterikangebot bieten kann. Wer kann
euch bieten, dass euch jemand so liebt, dass er für euch am Kreuz
gestorben ist, und wer kann euch die Hoffnung geben, dass mit dem Tod
nicht alles aus ist, dass ihr aufgefangen werdet durch die Gegenwart
Gottes? Diese Nachricht nach vorn zu stellen und ihre Verbreitung zu
stützen durch eine straffe Struktur und ein funktionierendes Marketing,
das wäre ein klares Profil.“ (RM vom 8.3.02)
Dieses Wort „Gott“ ist krank. Und selbst das Kreuz auf Golgatha ist
bereits umzingelt von den Verkaufsständen der Werbestrategen. Wie hat es
der Christenglaube nur zur Weltreligion gebracht ohne
Unternehmensberatung? Das ist fast so erstaunlich, wie der in der
evangelischen Kirche bereits fest verankerte Glauben, sie stünde ohne
Unternehmensberatung im 3. Jahrtausend ihrer Geschichte vor dem Untergang.
Dieses Wort „Gott“ ist krank. Angefressen von unseren schlimmen
Erfahrungen und Enttäuschungen, von unseren Sorgen und Ängsten.
Missbraucht als Instrument der Menschenführung, als verlängerter Arm der
Mächtigen. Geschunden und gefügig gemacht als Begründung für Ideologien.
Und endlich zur Ware verkommen, zum Produkt im gnadenlosen Spiel von
Angebot und Nachfrage, dem Geschmack der Kunden schmackhaft gemacht durch
Marketingstrategen. Das Evangelium, gefällig abgepackt und zur
Dienstleistung geschrumpft, die jedem gefallen soll. Unser Kreuz ist in
Bayern lila, wie die Schokolade. Prost Mahlzeit.
Was soll man davon nehmen um jenen Mann zu trösten, der kam um seine
Goldene Hochzeit zu feiern, und dem eigentlich gar nicht zum Feiern zumute
war? Ob irgendetwas von dem denen hilft, die einen Spruch aus unseren
heutigen Predigttext seit der Taufe oder der Konfirmation mit sich
herumtragen. Die nie mit eigenen Augen gesehen haben, dass Berge weichen
und Hügel hinfallen. Die aber sehr wohl wissen, wie sich ein Herz anfühlt,
von dem kein Stein mehr fallen will. Die sich verzweifelt zu erinnern
versuchen an die goldenen Augenblicke des Glücks und sich selbst dabei
immer in den Ewigkeiten ihrer Angst und ihres Unglücks wieder finden.
Wie lange ist ein Tag, an dem man neben dem Telefon sitzt und auf den
Anruf des vermissten und geliebten Menschen wartet. Wie lange ist eine
Stunde, die man vor der Tür nach dem Bewerbungsgespräch wartet und die
ganze Zukunft mit einem. Wie lange dauern fünf Minuten, die man im
Wartezimmer sitzt, bevor der Arzt in der Tür erscheint und mit ihm die
endgültige Diagnose?
Wer macht uns dieses Wort „Gott“ wieder gesund, an dem alle Hoffnungen
hängen und zugleich alles, was diese Hoffung bestreitet? Wer macht dieses
Wort Gott wieder gesund, wenn nicht Gott selbst! Und so tritt er in der
Tat mit den Worten unseres heutigen Predigttextes herein, wie ein
Lichtstrahl in ein dunkles Zimmer. Wie einer, der die Tür aufmacht und die
schweren Vorhänge aufzieht: Ich bin’s, der Herr, dein Erbarmer.
Das ist die Sache des Glaubens nicht, uns davon zu überzeugen, dass ein
halbleeres Glas in Wirklichkeit halb voll ist. Das ist die Sache Gottes
nicht, seinem Volk Israel die 50 Jahre Exil als einen kleinen Augenblick
zu verkaufen. Und was sind 6 Wochen Krankenhaus schon gegen die Ewigkeit?
So kann im Namen Gottes nicht getröstet werden. Gott ist kein
Marketingstratege.
Die 50 Jahre Exil, der Tag vor dem Telefon, die Stunde vor der Tür, die
Minute im Wartezimmer sind eine Ewigkeit. Und nur der Herr, der Erbarmer,
kann aus diesen dunklen Ewigkeiten eine Minute machen. Die Stunden, die
der Jesus von Nazareth sein Kreuz auf den Hügel von Golgatha schleppt um
schließlich an ihm zu hängen, sind eine Ewigkeit. Die Schläge, mit denen
man die Nägel in seine Hände und Füße treibt,
hallen hinab bis zum Anfang der Zeit und sein Schrei bis an ihr Ende. Und
nur Gott hat die Macht, diese Ewigkeit des Todes einzuhüllen und
überwinden mit seinem ewigen Leben. Von all diesen Schrecken bleiben die
Narben an Händen und Füßen, die der Auferstandene wie zum Trost seinen
Jüngern zeigt.
Ich bin’s, der Herr dein Erbarmer. Das dürfen wir heute, mitten in der
Passionszeit hören. „Und wer weiß, es könnte auch uns dann geschehen, dass
dieses kranke Wort „Gott“ in unserem Mund und in unseren Ohren wieder
gesund zu werden beginnt.“ (Karl Barth, zitiert nach GPM, 1996, Heft 2, S.
160).
Wir haben damals die goldene Hochzeit gefeiert. 50 Jahre mit allen
Hoffnungen und zugleich mit allem, was diese Hoffnung bestreitet. Sie
standen noch einmal vor dem Altar um sich segnen zu lassen. Und mir war,
als hätte ich diesen Mann zugleich weinen und lächeln sehn.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de)
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Text:
(7)Ich habe dich einen kleinen Augenblick
verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
(8)Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir
verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht
der HERR, dein Erlöser.
(9)Ich halte es wie zur Zeit Noahs, (a) als ich schwor, dass die Wasser
Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass
ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.
(10)Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine
Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht
hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer. |