Liebe Leser,
in seinem Buch „Niemand anderes“ lässt der Schriftsteller Botho
Strauß eine Frau einen Brief an den Mann schreiben, der sie
verlassen hat und im Begriff ist, eine andere zu heiraten. Sie
schreibt:
„Mein Gott, was haben wir getan? Herz, hörst du mich? Es gibt Tage,
da kann ich nur schreien. Schrei nach dir. Das nackte Grauen würgt
mich, sobald ich gewahr werde, dass ich dich nichts mehr fragen
kann, nie wieder von dir angesprochen, erblickt, verführt,
verstanden, verlangt, gesucht, umarmt werden soll (...) Es ist zu
spät. Ich habe alles verwirkt. Ich bin allein. Ich werde diesen
Brief niemals abschicken. Niemals! Zum Glück gibt es dich, schreibt
sie, zum Unglück mich (…).
Eile, eile, mein Brief! Halt ihn, halt ihn auf, den Kirchgänger, den
Bräutigam (...) dein Fest unter meinem Geschrei (...) geht unter
(...) verschlungen von der Schallwoge deines Namens, mit dem ich
dich rufe (...) die Glocke! Ja, nur zu, verabscheue mich! Sieh, ich
bring dir Geschenke, ich bring dir meine glücklichsten Stunden,
meine schlimmsten Erniedrigungen, meine Sorgen, meine Schmerzen und
Enttäuschungen, meine Gelüste und meine Verwünschungen. (...) Nur
zu! Schimpfen und schlagen könnt ihr mich. Doch was ich sage, ist so
sicher und fest wie das Dach zweier Hände im Gebet. Ich spreche im
Zorn mit dir, ich rufe dich zärtlich, ich frage dich, ich verurteile
dich, ich krieche zu dir, ich trete dir auf den Nacken – nichts,
nichts hör ich von dir. Keine Antwort, kein Zeichen, keine
Nachricht. Als gäb es dich nicht. Bin ich denn nur noch ein Stück
schreiendes, lallendes, entsetztes Papier? Das sich gleich ein
letztes Mal aufbäumen wird in den Flammen deines schönen Kamins –
ich schreibe mir die Seele aus den Pfoten und du wirfst sie ins
Feuer!“ (Botho Strauß, Niemand anderes, München 1990, S. 32ff.).
Maßlos sind diese Worte enttäuschter Liebe. Und wenn wir sie vor dem
Hintergrund der Worte aus dem Jesajabuch lesen, dann haben wir
unseren heutigen Predigttext schon fast verstanden. Auch er ist
maßlos, er flüstert und schreit, er schmeichelt und schimpft, bis an
die Grenze der Gotteslästerung. Er ist der Brief des Gottesvolkes an
seinen Gott, geschrieben aus enttäuschter Liebe. Darf man so denn
mit Gott reden und rechten? Die Liebe fragt nicht danach!
Besonders in ihrer letzten Verzweiflung, bevor die Verbitterung
einsetzt. Aber noch sind die Worte an den, der sich abgewandt hat,
nicht verklungen. Noch liegt das verheißungsvoll Verbindende in der
Luft in Gestalt großer Erinnerung. Du Gott, voll Eifer und Macht,
voll herzlicher Barmherzigkeit in deiner herrlichen Wohnung. Einst
waren wir wie Vater und Sohn, wie Mutter und Tochter. Einst waren
wir Menschen, die ihre Identität und Heimat fanden im „zu dir
Gehören“. Erinnerst du dich? Ach, könnte es nicht mehr so werden,
wie einst? Noch ist die Schwelle nicht überschritten, die die
aufbrausende Hoffnung von der Totenstille der Resignation trennt.
Noch ist der seidene Faden der Hoffnung nicht gerissen. Zum Glück
gibt es dich, zum Unglück mich!
Ist es nicht so, dass wir uns manchmal erst im Unglück wiederfinden
mitsamt unserer Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Glauben, nach
Gott? Hören wir auf, in dieser Adventszeit unsere Hoffnungen zu
zählen, wie das Kleingeld im Portmonee und über Gott zu reden und
nachzudenken wie über einen alten Einrichtungsgegenstand, der für
das dritte Jahrtausend vielleicht nicht mehr zu unserer modernen
Einrichtung passt. Wenn uns im Schein der Kerzen die eigene innere
Obdachlosigkeit ans Herz fasst, dann haben wir den Einstieg in diese
Adventszeit geschafft. Wer Hoffnung finden will, der darf die Tür
seiner Hoffnungslosigkeit nicht nur weihnachtlich schmücken und
dekorieren. Er muss hindurchgehen!
Und genau das tut unser heutiger Predigttext. Das zerrissene Herz
sucht den aufgerissenen Himmel. Adventszeit trägt an Altar und
Kanzel die Farbe Lila. Lila wie die Passion.
Jetzt hilft nicht einmal mehr die Besinnung auf wertvolle Tradition.
Abraham weiß von uns nichts und Israel kennt uns nicht. Eine
Ungeheuerlichkeit! Lebt das Gottesvolk nicht von den Traditionen,
die seine Mütter und Väter gebildet haben? Jetzt aber gilt: Was über
Generationen tragfähig war, trägt nicht mehr. Eine Ohrfeige für
alle, die sich für die Pflege und Erhaltung von Traditionen stark
machen und die das, was sie von der Zukunft erwarten, auf die
Beobachtung dessen stützen, was gewesen ist. Rückschau bringt hier
nicht weiter. Zur Hoffnung geht’s nur noch vorne raus.
Komm unser Gott, bevor wir für immer verstummen! Die letzte Hoffnung
ist zur einzigen Hoffnung geworden. Zeit ist Adventszeit oder für
immer verloren. Das zerrissene Herz sucht den aufgerissenen Himmel.
Zum Unglück gibt es mich - aber zum Glück gibt es dich! Die finstere
Klage der enttäuschten Liebe hat den Mut, auch Gott jene
Leidenschaftlichkeit der Trauer und der Liebe zuzutrauen. Die Klage
verlässt die letzte Reserve in der Hoffnung, dass auch Gott sich aus
der Reserve locken lässt, dass unser Schmerz ihn nicht kalt lässt,
dass unser Schrei ihn ins Herz trifft.
Im Advent und an Weihnachten geht es um nichts anderes. Der
leidenschaftliche Schrei einer verlorenen Welt, trifft in das Herz
eines leidenschaftlichen Gottes, den seine Liebe in Bewegung setzt
um zur Welt zu kommen. Und Meister Eckhart würde uns durch die
Jahrhunderte zurufen: Gott kann gar nicht anders!
Deshalb darf unsere Welt im Advent sein, was sie ist, finster und
gottverlassen, voll Sehnsucht und Schmerz. Und wenn wir zum
Jahreswechsel wie Sand hineinstürzen in die Mitte des Stundenglases
und es eng wird ums Herz, dann weicht dem nicht aus. Da hilft es
nicht, seinen Astralleib zu pflegen und für die Aura zu sorgen. Die
Allgegenwart Gottes ist ein theologischer Begriff, der uns nur allzu
oft dazu verführt, unsere Wirklichkeit und Gott trostlos und
hoffnungslos zur Deckung zu bringen.
Hier ist die Welt und Gott ist im Himmel!, so lautet das Motto des
Advent. Ohne diese Differenz keine Verzweiflung. Ohne diese
Differenz keine Hoffnung. Hier ist die Welt und Gott ist im Himmel!
Aber er kommt! Möchte auch in Dir zur Welt kommen und zünden, wie
der Stern von Bethlehem. Gott sucht sich keine andere für seine
gefallene, hässliche und nicht mehr liebenswerte - Welt. Er kommt,
um sie zu erlösen, um sie wieder liebenswert zu machen.
Er lässt uns nicht ohne Antwort, Zeichen und Nachricht. Er wirft die
Briefe unseres Herzens nicht ins Feuer. Die Schallwogen der Glocken,
die seinen Namen rufen, tragen sie ihm zu. Kein Ohr hat gehört, kein
Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die
auf ihn harren. Das ist so sicher und fest, wie das Dach zweier
Hände im Gebet.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
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Die Predigt zum Hören
Text:
15 So schau nun vom Himmel und sieh herab
von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und
deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart
gegen mich.
16 Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und
Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; „Unser Erlöser“,
das ist von alters her dein Name.
17 Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz
verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner
Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!
18 Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre
Widersacher haben dein Heiligtum zertreten.
19 Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest,
wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.
Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge
vor dir zerflössen,
64 1 wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht,
dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir
zittern müssten,
2 wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest
herab, dass die Berge vor dir zerflössen!
3 Auch hat man es von alters her nicht vernommen. Kein Ohr hat
gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut
denen, die auf ihn harren.
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