Liebe Leser,
„Jeder ist für seine Gefühle selbst
verantwortlich!“ Dieser auf den ersten Blick brutale Satz stammt
von dem leider schon 2002 verstorbenen Psychologen Michael Lukas
Moeller (Die Wahrheit beginnt zu zweit, Hamburg, 1988, S. 202). Er
fordert seine Leser auf, eigenständig zu handeln und
selbstverantwortlich zu sein. Das heißt, bei sich selbst anzufangen,
bei sich zu bleiben und zu sich zu stehen, anstatt den Schwerpunkt
seiner Gefühle in andere zu verlagern. Sicher hat auch das
zurückliegende Weihnachtsfest bei vielen wieder wertvollen
Anschauungsunterricht für den Wert eines solchen Ratschlags
geliefert. Woran lag’s, dass die Stimmung im trauten Kreis so
schnell kippte oder der Haussegen schiefhing? An bescheuerten oder
fehlenden Geschenken und belanglosen Gesprächen? Daran, dass wieder
alle anderen im Mittelpunkt standen und Sie am Rande? Daran, dass
Ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden? Es liegt bei solchen
Gemütslagen ja immer an irgendwas und irgendwem, an dem
verständnislosen Ehepartner, der unbarmherzigen Gesellschaft, der
schweren Kindheit. „Sei du selbst die Veränderung, die du in der
Welt sehen möchtest“, hat Mahatma Gandhi einmal gesagt. Du bist das
Problem, nicht die anderen! Und der Psychologe würde hinzufügen:
Genau! Sag, was du willst und tue es notfalls selbst, allen Ängsten
und Schuldgefühlen zum Trotz. Es ist ein Schritt in die Freiheit.
Was die anderen denken, ist nicht dein Problem.
Das ist kein Aufruf zum Egoismus oder zur Rücksichtslosigkeit. Denn
Moeller macht gleichzeitig auf das andere aufmerksam: „(…) auf unsere
unentwegte, tiefe Abhängigkeit. Wir sind beziehungsgezeugt, beziehungsgeboren und beziehungsentwickelt. Keiner könnte ohne
Beziehung existieren. Das, was wir Seele nennen, besteht im
Wesentlichen aus den erlebten Beziehungen, die wir verinnerlichten.
Einsiedler leben nur aus ihnen. Dass Beziehungserlebnisse schon in
der Kindheit so kärglich geworden sind, macht unsere seelische Armut
und das Zeitalter narzisstischer Störungen aus. Dadurch wird beides
noch schärfer: die Sehnsucht nach erfüllter Abhängigkeit, die uns
fehlte, und das Pochen auf stärkere Autonomie, die uns von
misslicher Abhängigkeit verschonen soll. Der Individualismus ist ein
kollektiver Versuch, zu verleugnen, dass wir miteinander in
Beziehung und damit in wechselseitiger Abhängigkeit leben. Das Ich
ist keine unabhängige Größe. Was durch mich geschieht, ist das
unerkannte Tätigsein auch derjenigen, die mit mir in intensiverer
Beziehung leben.“ (Moeller aaO. S.166)
Der Psychologe Hans-Joachim Maaz geht im Januarheft der Zeitschrift
„zeitzeichen“ noch einen Schritt weiter. Unter dem Titel „Banker,
Politiker, Dealer – Woher die Wachstumsgier kapitalistischer
Gesellschaften kommt“ macht er darauf aufmerksam, dass kärgliche
Beziehungserlebnisse in der Kindheit Folgen haben nicht nur für den
Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft. Er schreibt: „Ein Kind
wird ungenügende Liebe nicht als ein Versagen seiner Eltern
verstehen können, sondern allmählich davon überzeugt sein, dass es
nicht liebenswert sei. Das wird zur Quelle jeder Sucht oder Gier,
aus der Illusion heraus, dass man sich Liebe doch noch irgendwie
verdienen könne. (…) Auch Arbeit, Leistung, Macht, Geltung, Ruhm,
Besitz, Geld, Konsum, Essen, Trinken und Sex können aus ungestillter
früher Liebessehnsucht zur Droge gemacht werden. Frühe
Beziehungsstörungen mit Liebesmangel, Kränkung, Verletzung,
Einschüchterung und Bedrohung sind seelisch nur überlebbar, wenn die
damit verbundenen Gefühle, wie Angst, Wut und Hass, seelischer
Schmerz und Trauer, unterdrückt und die belastenden Erfahrungen
verdrängt und verleugnet werden. (…) Die Gier ist praktisch das
Endstadium dieser verhängnisvollen und letztlich hilflosen
Entwicklung.“ (S. 13)
Der Psychologe attestiert nicht nur unserer Gesellschaft, dass der
gesunde Narzissmus, der die eigenen Fähigkeiten, Ziele und Grenzen
kennt und sich so zu schätzen weiß, Mangelware geworden ist.
Stattdessen herrscht die narzisstische Störung vor, in der Menschen
sich entweder für gar nicht liebenswert, mangelhaft und dringend
optimierungsbedürftig oder sich für die Allergrößten halten, die
weder zur Selbstkritik noch zur Annahme von Kritik fähig sind und
keine Grenzen mehr kennen. Diese Typen findet man nicht nur in den
Chefetagen von Autokonzernen, sondern auch auf den Chefsesseln von
Unternehmen und Organisationen jeder Art und auch ganz oben in
Gesellschaft und Politik. Und gar nicht so selten sogar in Kirche
und Diakonie. Das erschreckende Fazit lautet: „Gewalt und Terror,
Klimaveränderungen und Artensterben sind Symptome kollektiver Gier.“
Diese Gier ist letztlich die fehlgeleitete Suche – nach fehlender
Liebe. Wir sind alle nicht mehr recht bei Trost!
Was empfiehlt der Psychologe? Bei sich selbst anzufangen. Die
Entstehungsgeschichte des eigenen Verhaltens zu verstehen und damit
die Wunden offen zu legen. Das ist schmerzvoll und dauert. Dazu
braucht es eine neue „Beziehungskultur“ mehr soziale Gerechtigkeit
und eine Familien-, Erziehungs- und Bildungspolitik, die Kindern
hilft, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Also, schaut
wieder mehr auf die Seele der Kinder und weniger auf ihren
wirtschaftlichen Nutzen und ihre spätere Karriere! Und schaut wieder
mehr auf Eure eigene Seele. Denn für die seid Ihr nämlich auch
selbst verantwortlich.
Lang sind wir anmarschiert zur Losung für das neue Jahr 2016, das in
wenigen Stunden beginnt. Gott, der Herr, spricht: Ich will euch
trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Wir wissen es doch alle:
Ein gebrochenes Herz und eine betrübte Seele werden durch die
Einsicht in die eigenen Wunden nicht wirklich heil. Fehlende Liebe
und auch das ungeliebte und heulende Kind in uns kann nur durch
Liebe geheilt werden. Sie ist nun einmal durch nichts zu ersetzen.
Das muss nicht einmal die große Liebe sein. Oft reicht schon ein
offenes Ohr, eine offene Tür, ein Freund in der Ferne. Wir haben
heute so viele Möglichkeiten.
Wenn da nicht unser Stolz wäre. Wir zeigen einander so gern unsere
Stärken. Was wir alles wissen und können und alleine schaffen. Wie
gut wir doch sind. Mit unseren Schwächen, Grenzen, mit unserem
Scheitern wird es schon schwierig. Bei der Mutter kann man das. Sie
weiß es eh. Hat uns heranwachsen sehen. Der kann man sowieso wenig
vormachen. Aber die Kinder werden erwachsen.
Wie das Volk Israel, das Gott am Ende des Jesajabuchs zu sich ruft,
wie eine Mutter ihre erwachsenen Kinder. Da hat es 50 Jahre
babylonisches Exil hinter sich und eine Geschichte des Scheiterns
und der Schuld. Da ist es nicht mehr niedlich und klein. Aber zu
einer solchen Mutter kann man auch dann noch kommen. Gott Mutter
kann man sowieso nichts vormachen. Wir können nicht erwarten, dass
sie alles versteht, alles gut heißt, alles absegnet. Wir können und
sollen ihr sagen, was wir wollen, wonach wir uns sehnen, was uns
fehlt. Sie weiß es eh. Sie wird uns nicht alle Wünsche erfüllen.
Aber sie wird uns trösten, wie nur sie es kann. Und dann wird unsere
Seele auch im kommenden Jahr niemals alleine sein, auch wenn wir auf
dieser Welt keine Mutter mehr haben. Auch wenn wir auf dieser Welt
eine Mutter haben und hatten und uns lieber eine andere gewünscht
hätten. Auch wenn hinter unseren schon alten Erwachsenengesichtern
oft noch ein kleines Kind heult.
Gott Mutter wird uns trösten, wie nur sie es kann. Und so werden wir
bei Trost sein und bleiben, auch wenn mal gerade kein offenes Ohr
und keine offene Tür zur Verfügung steht, unsere Lieben mit sich
selbst beschäftigt sind und der Freund in der Ferne auch. Dann
können wir uns im neuen Jahr vielleicht manchen Liebesersatz einfach
sparen. Bei Gott Mutter lernt man, dass man sich Liebe nicht
verdienen kann, weil man sich ihre Liebe auch gar nicht verdienen
muss. Sie ist umsonst. Sie ist immer da. Für sie ist es nie zu spät.
Dass wir das immer wieder verstehen und spüren und dass dadurch
unsere Seele froh wird, das schenke Gott uns allen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Gott der Herr spricht:
13 Ich will euch trösten,
wie einen seine Mutter tröstet.
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