Predigt     Jesaja 66/13     Jahreslosung 2016     31.12.15

"Gott Mutter"
(von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)
 

Liebe Leser,

„Jeder ist für seine Gefühle selbst verantwortlich!“ Dieser auf den ersten Blick brutale Satz stammt von dem leider schon 2002 verstorbenen Psychologen Michael Lukas Moeller (Die Wahrheit beginnt zu zweit, Hamburg, 1988, S. 202). Er fordert seine Leser auf, eigenständig zu handeln und selbstverantwortlich zu sein. Das heißt, bei sich selbst anzufangen, bei sich zu bleiben und zu sich zu stehen, anstatt den Schwerpunkt seiner Gefühle in andere zu verlagern. Sicher hat auch das zurückliegende Weihnachtsfest bei vielen wieder wertvollen Anschauungsunterricht für den Wert eines solchen Ratschlags geliefert. Woran lag’s, dass die Stimmung im trauten Kreis so schnell kippte oder der Haussegen schiefhing? An bescheuerten oder fehlenden Geschenken und belanglosen Gesprächen? Daran, dass wieder alle anderen im Mittelpunkt standen und Sie am Rande? Daran, dass Ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden? Es liegt bei solchen Gemütslagen ja immer an irgendwas und irgendwem, an dem verständnislosen Ehepartner, der unbarmherzigen Gesellschaft, der schweren Kindheit. „Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest“, hat Mahatma Gandhi einmal gesagt. Du bist das Problem, nicht die anderen! Und der Psychologe würde hinzufügen: Genau! Sag, was du willst und tue es notfalls selbst, allen Ängsten und Schuldgefühlen zum Trotz. Es ist ein Schritt in die Freiheit. Was die anderen denken, ist nicht dein Problem.

Das ist kein Aufruf zum Egoismus oder zur Rücksichtslosigkeit. Denn Moeller macht gleichzeitig auf das andere aufmerksam: „(…) auf unsere unentwegte, tiefe Abhängigkeit. Wir sind beziehungsgezeugt, beziehungsgeboren und beziehungsentwickelt. Keiner könnte ohne Beziehung existieren. Das, was wir Seele nennen, besteht im Wesentlichen aus den erlebten Beziehungen, die wir verinnerlichten. Einsiedler leben nur aus ihnen. Dass Beziehungserlebnisse schon in der Kindheit so kärglich geworden sind, macht unsere seelische Armut und das Zeitalter narzisstischer Störungen aus. Dadurch wird beides noch schärfer: die Sehnsucht nach erfüllter Abhängigkeit, die uns fehlte, und das Pochen auf stärkere Autonomie, die uns von misslicher Abhängigkeit verschonen soll. Der Individualismus ist ein kollektiver Versuch, zu verleugnen, dass wir miteinander in Beziehung und damit in wechselseitiger Abhängigkeit leben. Das Ich ist keine unabhängige Größe. Was durch mich geschieht, ist das unerkannte Tätigsein auch derjenigen, die mit mir in intensiverer Beziehung leben.“ (Moeller aaO. S.166)

Der Psychologe Hans-Joachim Maaz geht im Januarheft der Zeitschrift „zeitzeichen“ noch einen Schritt weiter. Unter dem Titel „Banker, Politiker, Dealer – Woher die Wachstumsgier kapitalistischer Gesellschaften kommt“ macht er darauf aufmerksam, dass kärgliche Beziehungserlebnisse in der Kindheit Folgen haben nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft. Er schreibt: „Ein Kind wird ungenügende Liebe nicht als ein Versagen seiner Eltern verstehen können, sondern allmählich davon überzeugt sein, dass es nicht liebenswert sei. Das wird zur Quelle jeder Sucht oder Gier, aus der Illusion heraus, dass man sich Liebe doch noch irgendwie verdienen könne. (…) Auch Arbeit, Leistung, Macht, Geltung, Ruhm, Besitz, Geld, Konsum, Essen, Trinken und Sex können aus ungestillter früher Liebessehnsucht zur Droge gemacht werden. Frühe Beziehungsstörungen mit Liebesmangel, Kränkung, Verletzung, Einschüchterung und Bedrohung sind seelisch nur überlebbar, wenn die damit verbundenen Gefühle, wie Angst, Wut und Hass, seelischer Schmerz und Trauer, unterdrückt und die belastenden Erfahrungen verdrängt und verleugnet werden. (…) Die Gier ist praktisch das Endstadium dieser verhängnisvollen und letztlich hilflosen Entwicklung.“ (S. 13)

Der Psychologe attestiert nicht nur unserer Gesellschaft, dass der gesunde Narzissmus, der die eigenen Fähigkeiten, Ziele und Grenzen kennt und sich so zu schätzen weiß, Mangelware geworden ist. Stattdessen herrscht die narzisstische Störung vor, in der Menschen sich entweder für gar nicht liebenswert, mangelhaft und dringend optimierungsbedürftig oder sich für die Allergrößten halten, die weder zur Selbstkritik noch zur Annahme von Kritik fähig sind und keine Grenzen mehr kennen. Diese Typen findet man nicht nur in den Chefetagen von Autokonzernen, sondern auch auf den Chefsesseln von Unternehmen und Organisationen jeder Art und auch ganz oben in Gesellschaft und Politik. Und gar nicht so selten sogar in Kirche und Diakonie. Das erschreckende Fazit lautet: „Gewalt und Terror, Klimaveränderungen und Artensterben sind Symptome kollektiver Gier.“ Diese Gier ist letztlich die fehlgeleitete Suche – nach fehlender Liebe. Wir sind alle nicht mehr recht bei Trost!

Was empfiehlt der Psychologe? Bei sich selbst anzufangen. Die Entstehungsgeschichte des eigenen Verhaltens zu verstehen und damit die Wunden offen zu legen. Das ist schmerzvoll und dauert. Dazu braucht es eine neue „Beziehungskultur“ mehr soziale Gerechtigkeit und eine Familien-, Erziehungs- und Bildungspolitik, die Kindern hilft, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Also, schaut wieder mehr auf die Seele der Kinder und weniger auf ihren wirtschaftlichen Nutzen und ihre spätere Karriere! Und schaut wieder mehr auf Eure eigene Seele. Denn für die seid Ihr nämlich auch selbst verantwortlich.

Lang sind wir anmarschiert zur Losung für das neue Jahr 2016, das in wenigen Stunden beginnt. Gott, der Herr, spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Wir wissen es doch alle: Ein gebrochenes Herz und eine betrübte Seele werden durch die Einsicht in die eigenen Wunden nicht wirklich heil. Fehlende Liebe und auch das ungeliebte und heulende Kind in uns kann nur durch Liebe geheilt werden. Sie ist nun einmal durch nichts zu ersetzen. Das muss nicht einmal die große Liebe sein. Oft reicht schon ein offenes Ohr, eine offene Tür, ein Freund in der Ferne. Wir haben heute so viele Möglichkeiten.

Wenn da nicht unser Stolz wäre. Wir zeigen einander so gern unsere Stärken. Was wir alles wissen und können und alleine schaffen. Wie gut wir doch sind. Mit unseren Schwächen, Grenzen, mit unserem Scheitern wird es schon schwierig. Bei der Mutter kann man das. Sie weiß es eh. Hat uns heranwachsen sehen. Der kann man sowieso wenig vormachen. Aber die Kinder werden erwachsen.

Wie das Volk Israel, das Gott am Ende des Jesajabuchs zu sich ruft, wie eine Mutter ihre erwachsenen Kinder. Da hat es 50 Jahre babylonisches Exil hinter sich und eine Geschichte des Scheiterns und der Schuld. Da ist es nicht mehr niedlich und klein. Aber zu einer solchen Mutter kann man auch dann noch kommen. Gott Mutter kann man sowieso nichts vormachen. Wir können nicht erwarten, dass sie alles versteht, alles gut heißt, alles absegnet. Wir können und sollen ihr sagen, was wir wollen, wonach wir uns sehnen, was uns fehlt. Sie weiß es eh. Sie wird uns nicht alle Wünsche erfüllen. Aber sie wird uns trösten, wie nur sie es kann. Und dann wird unsere Seele auch im kommenden Jahr niemals alleine sein, auch wenn wir auf dieser Welt keine Mutter mehr haben. Auch wenn wir auf dieser Welt eine Mutter haben und hatten und uns lieber eine andere gewünscht hätten. Auch wenn hinter unseren schon alten Erwachsenengesichtern oft noch ein kleines Kind heult.

Gott Mutter wird uns trösten, wie nur sie es kann. Und so werden wir bei Trost sein und bleiben, auch wenn mal gerade kein offenes Ohr und keine offene Tür zur Verfügung steht, unsere Lieben mit sich selbst beschäftigt sind und der Freund in der Ferne auch. Dann können wir uns im neuen Jahr vielleicht manchen Liebesersatz einfach sparen. Bei Gott Mutter lernt man, dass man sich Liebe nicht verdienen kann, weil man sich ihre Liebe auch gar nicht verdienen muss. Sie ist umsonst. Sie ist immer da. Für sie ist es nie zu spät. Dass wir das immer wieder verstehen und spüren und dass dadurch unsere Seele froh wird, das schenke Gott uns allen.

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text:

Gott der Herr spricht:

13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.

 

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