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      Liebe Leser,  
		
      wer ein Mensch ist, hängt ganz entscheidend davon 
		ab, in welchem Zusammenhang man ihn betrachtet. Ob er ein Rädchen im 
		System ist, menschliche Ware, ein Abbild Gottes oder gar Gott selbst 
		hängt von der gesamten Weltsicht ab, in den man ihn einordnet. Das ist 
		bei Jesus Christus nicht anders als bei jedem und jeder von uns. 
		 
		Bevor der Evangelist Johannes überhaupt anfängt, das Leben Jesu, des 
		Sohnes Gottes zu erzählen, klärt er deshalb erst einmal Grundlegendes:
		Was ist der Mensch? Wer oder was ist Gott? 
		 
		Ich lese die ersten Verse des Johannesevangeliums:  
		Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, 
		und Gott war das Wort. ... Alle Dinge sind durch 
		dieses Wort gemacht, und ohne es ist nichts gemacht, was gemacht ist. In 
		ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 
		(1/1,3,4) 
		 
		Das Licht Gottes, das Leben scheint in jedem Menschen. Es erhellt den 
		Maschinenpark der Evolution und lässt ihn von innen warm erstrahlen. In 
		der Verbindung von Gottes Licht, Gottes Geist und der Welt entsteht erst 
		die Welt, wie sie ist: als Einheit von Gott und Welt, als sinnvolle 
		Welt. Lesen wir noch einen Vers weiter:
		Und das Licht scheint in der Finsternis, aber die 
		Finsternis hat's nicht begriffen.(1/5) 
		 
		Das Unheil besteht für Johannes darin, die Menschen sich von ihrem Leben 
		distanzierten. Dass sie glaubten, man müsse sich mit Gott 
		auseinandersetzen, Gott und das Leben aus der Distanz betrachten, statt 
		es als untrennbar zu ihnen gehörig zu erleben. Die Menschen definierten 
		Erkenntnis um: Wissenschaft ist der Blick aus der Distanz.
		Aus der Einheit mit Gott werden so zwei getrennte Größen: 
		Wissenschaft und Glaube. Der Mensch wird sich fremd und Gott der in ihm 
		wohnt, wird ihm fremd. Erkennbar bleibt oft nur noch der biologische 
		Maschinenpark und der Mensch als ein Rädchen darin. 
		 
		Aber tief im Menschen, unbemerkt, verdrängt, wohnt unverlierbar etwas, 
		das Leben heißt, jenseits der Mechanik. Das Licht scheint in der 
		Finsternis. Manchmal erleben die Menschen es 
		noch, das ursprüngliche Erkennen, das auf Einheit statt auf 
		Auseinandersetzung beruhte. Dann, wenn die Bibel davon erzählt, dass 
		Mann und Frau sich einander erkennen: in der Liebe, die auch körperlich 
		wird; Die körperliche Liebe Verliebter und das mystische religiöse 
		Erleben scheinen oft die letzten Reste eines Erkennens zu sein, das aus 
		Einswerden entsteht. Eine Erkenntnis, die aus Verlieben, Verbinden, 
		Verstehen wächst, ist grundlegend anders als Erkenntnis, die aus 
		Unterscheidung, Auseinandersetzung, Scheidung erwächst.  
		 
		Die Erkenntnis der Einheit lebt aus dem Wahrnehmen des Lichtes, des 
		Geistes Gottes in jedem Menschen. Wahre Erkenntnis ist Offenheit für 
		Gott im Mitmenschen und sich selbst. Zugegeben: Es ist nicht immer 
		leicht, sich daran zu erinnern. Menschen müssen 
		daran erinnert werden, um ihrer selbst willen. Es geht schlicht darum, 
		was sie für sich in Anspruch nehmen. Wer bin ich? 
		
			- 
			
Ein Rädchen im System? Wenn es nicht mehr taugt wird 
			es ausgewechselt.  
			- 
			
Oder nehme ich für mich in Anspruch, dass Gottes 
			Licht, Gottes Geist in mir brennen, dass ich unverfügbar, wertvoll 
			bin.  
		 
		
      Menschen müssen daran erinnert werden, dass sie mehr für sich in Anspruch 
		nehmen dürfen, als ein Rädchen mit einem schlichten Zweck für's 
		System zu sein. 
		 
		Das Johannesevangelium erzählt von einem Menschen, der so sehr er selbst 
		war, so sehr eine Einheit mit dem Leben bildete, das ihn als Gottes Atem 
		durchströmte, dass er als Sohn Gottes, ja als Gott selbst angesehen 
		wurde: Jesus Christus. Als der Verfasser des 
		Johannesevangeliums sein Evangelium niederschrieb, lebte der Mensch, 
		dessen Leben er erzählte schon nicht mehr auf Erden. Wichtig aber war, 
		dass es einen Menschen gegeben hatte, der so sehr im Einklang mit Gott 
		stand, dass er eine Einheit mit Gott bildete und Gott selbst in ihm 
		erfahrbar wurde: Jesus Christus. 
		Dass es einen solchen Menschen gab, bedeutete: Alle hatten Recht, die 
		vor und nach ihm daran erinnerten, dass ein Mensch mehr ist als ein 
		Zahnrädchen im System, dass jeder Mensch ein Abbild Gottes ist und 
		göttliche Würde besitzt. Jeder, der vor und nach 
		Jesus Christus daran erinnerte, bekam durch Jesus Christus
		Recht. Denn in Jesus Christus wurde er greifbar: 
		Der Mensch, der so sehr eine Einheit mit dem Leben bildete, das ihn als 
		Gottes Atem durchströmte, dass er als Sohn Gottes, ja als Gott selbst 
		angesehen wurde. Ein Mensch, wie er von Gott gedacht war: der 
		eigentliche Mensch. 
		 
		Sie hatten Recht, die Erinnerer der Würde. Der 
		Verfasser des Johannesevangeliums nennt Johannes den Täufer als einen 
		solchen Erinnerer vor Christus. Er selbst sieht sich als dessen 
		Nachfolger und nennt sein Zeugnis deshalb Johannes-Evangelium.
		Ich lese die entsprechenden Verse, in denen er sich auf Johannes 
		den Täufer bezieht: 
		 
		Es ward ein Mensch von Gott gesandt, der hieß 
		Johannes. Dieser kam zum Zeugnis, dass er von dem Licht zeugte, auf dass 
		sie alle durch ihn glaubten. Er selbst war nicht das Licht, sondern er 
		zeugte nur von dem Licht. Er erzählte von dem wahrhaftigen Licht, 
		welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.(1/6-9) 
		 
		Der Verfasser des Johannesevangeliums will die Arbeit des Johannes 
		weiterführen und schreibt sein Evangelium. Wie 
		könnte heute jemand aussehen, der daran erinnert, dass jeder Mensch ein 
		Abbild Gottes ist und göttliche Würde besitzt? Wie könnte ein heutiger 
		Johannes aussehen? 
		 
		Stellen wir ihn uns als einen jungen Mann vor. Er möchte mit seinem 
		Vater ins Gespräch kommen, über das Leben, über Gott – und natürlich 
		letztlich über sich selbst. Er spricht davon, dass er in einer 
		Ausstellung in einem der großen Museen der Welt ein Video gesehen habe. 
		Dort seien zwei Menschen bei der Liebe gezeigt worden. Sie schienen von 
		innen heraus zu leuchten. Der junge Mann erzählt von seinen Gedanken. Er 
		wird sein Studium abbrechen. Er möchte Kunst machen. Der Vater ist 
		empört: „Mensch, in welchem Traum lebst du eigentlich?! Herzenswärme, 
		Licht, das aus dir rausstrahlt? Schau, dass du deine Altersversorgung 
		gebacken kriegst. Licht im Herzen, zzzh.“ 
		
       
		Der junge Mann lässt sich nicht beirren. Er hat das Gefühl, seinen Vater 
		kaum zu kennen. Natürlich kennt er ihn irgendwie. Aber was weiß er 
		eigentlich über die Träume, über die Gefühle seines Vaters? Wer bin ich 
		für meinen Vater? Der junge Mann fragt. Der Vater 
		blockt: "Fragen stellst du: Wo komme ich her? Von 
		Gott? Deine Mutter hat's damals mit dem Verhüten 
		verpeilt. So sieht's aus. Mann, wenn ich's 
		heut noch mal zu machen hätte! Wo könnt ich heut schon sein, wenn ich 
		dich nicht am Bein hängen gehabt hätte. Die Welt 
		ist der Maschinenpark der Evolution: Ursache, Wirkung, mehr nicht. Das 
		Leben ist Mechanik, Schätzchen.  
		Anfassen zählt!" 
		 
		Wir lassen in der Geschichte des jungen Manns und seines Vaters zwanzig 
		Jahre ins Land gehen. Der Vater hat einen schweren Herzinfarkt erlitten. 
		Sein Sohn besucht ihn im Krankenhaus. Die beiden hatten lange Zeit 
		keinen Kontakt gehabt und nur über die Mutter verkehrt. Der Sohn ist 
		Künstler geworden. Nicht sehr erfolgreich, aber es reicht. Er macht 
		Videos - alle sehr dunkel. Nur die Stellen, an denen sich Menschen 
		berühren, durch Augenkontakt, durch ihre Hände, durch Briefe, fällt 
		Licht ein. Und er fotografiert: meist Rinderherzen aus einer 
		Schlachterei. Er wäscht sie und tätowiert Bibeltexte darauf. Es 
		entstehen Bilderzyklen: „Das Herz meiner Mutter“, heißen sie, oder „mein 
		Herz“. Er bringt dem kranken Vater einen 
		Ausstellungskatalog mit ins Krankenhaus. Der Katalog zeigt Bilder aus 
		der Reihe „Mein Herz“. 
		 
		Als der Sohn das Zimmer betritt, schweigt der Vater. Der Sohn gibt ihm 
		den Katalog. Der Vater nimmt ihn grußlos. Auf der ersten Seite ist ein 
		kleines Vorwort zu lesen, einige Verse aus dem 1.Kapitel des 
		Johannesevangeliums: 
		 
		Das Licht war in der Welt, und die Welt ist durch 
		dieses Licht gemacht; und die Welt erkannte es nicht.
		Er, der das Licht war, kam in sein Eigentum; und die Seinen 
		nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, 
		Kinder Gottes zu werden ...; welche nicht von dem Geblüt noch von dem 
		Willen des Fleisches noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott 
		geboren sind. Und das Wort ward Fleisch und 
		wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit 
		als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. ... 
		Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. 
		(1/10-16) 
		 
		Der Vater blättert wortlos im Katalog. Nach einer Weile sagt der Sohn: 
		"Fass mich an, Vater! Spürst du's nicht? 
		Du bist nicht allein. Ich sprech dich nicht als Zahnrad an. Übrigens, 
		für Mutter hat damals nicht die Mechanik gezählt. Ich habe mit ihr 
		gesprochen. Aber du hast immer nur deine bekackte Mechanik gekannt. 
		Maschinenpark der Evolution und dein ganzer Mist. Komm, fass mich an, 
		Vater. Mutters Liebe ist Fleisch und Blut geworden. Mutters Liebe, sonst 
		wäre ich nicht hier, Vater. Es gibt wahrlich einen schöneren Anblick als 
		deine defekte Mechanik. Nach einer Pause spricht 
		der Sohn weiter: Du weinst nachts, Vater. Die Schwestern haben es 
		gesagt. Deshalb bin ich hier. Ich dachte, dass du dich verändert hast. 
		Wenn du mir sagst, dass nur deine morschen Dichtungen schuld sind, dass 
		die Tränen auslaufen, gehe ich wieder." Der Sohn 
		blieb sitzen. Der Vater sagt nichts. 
		 
		Was ist der Mensch? 
		 
		Im Weltbild des Johannes ist Jesus ein Mensch, in dem Gott und Welt so 
		ursprünglich beieinander liegen wie vor Beginn der Zeit. An ihm ist zu 
		erkennen, was es heißt, Mensch zu sein. Wer 
		bereit ist, sich auf das Leben ansprechen zu lassen, dem gibt er die 
		Macht, Kind Gottes zu werden wie er. 
		
      
      
      Vikar Michael Krauß    (Hospitalkirche 
      Hof) 
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      Text: 
      
		 15 Johannes gibt Zeugnis von 
		ihm und ruft: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird 
		kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich. 
		16 Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. 
		17 Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist 
		durch Jesus Christus geworden. 
		18 Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des 
		Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt.  |