Liebe Leser,
wer das Johannesevangelium aufgeschlagen hat und bis zum 35. Vers des
ersten Kapitels gelesen hat, mit dem unser heutiger Predigttext beginnt,
hat bereits Unerhörtes und Gewaltiges erfahren. Gott, das ewige Wort,
durch das alles, was ist, geschaffen ist, wurde Mensch. Wie ein Licht
strahlt es nun direkt in die Finsternis der Welt hinein. „Er war in der
Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn
nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie
viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden.“
(Joh 1/10-12) In diesen drei Sätzen ist die Essenz der Sendung, der
Missio Gottes durch seinen Sohn in unsere Welt hinein umrissen.
Nach so viel Theologie und Metaphysik tut es richtig gut, wenn unsere
Blicke auf einen Spaziergänger gelenkt werden. Wir befinden uns am
Jordan in Palästina. Hier stoßen wir auf den Wüstenprediger Johannes und
seine Anhänger. Wenn wir eine Weile schauen, werden wir auf einen
Spaziergänger aufmerksam. Und wenn nicht wir, dann wenigstens Johannes,
der seine Jünger anstupft: Schaut mal, das ist Gottes Lamm. Da ist er im
Blickfeld: Ein Spaziergänger. Ein Peripatetiker, wie der griechische
Philosoph Aristoteles? Wie kann man das wissen? Lateiner sehen hier den
„Jesus ambulantem“, den „ambulanten Jesus“. (vgl. Dietrich Neuhaus, GPM,
Nr. 2, 2005, Heft 3, S. 348) Schick und interessant in jedem Fall. Und
die Jünger heften sich an seine Fersen um Näheres in Erfahrung zu
bringen.
Da hat er sie auch schon bemerkt und er wandte sich um. Wer Jesus
nachfolgt, darf mit seiner Aufmerksamkeit rechnen. Und er wandte sich
um: Was sucht ihr?
Tja, gute Frage! Wer von uns wüsste da schon gleich eine Antwort? Wir
suchen so Manches, vom Oldtimerersatzteil bei Ebay bis zum Lebenspartner
in Kontaktanzeigen. Aber dahinter? Glück und Erfüllung, Freiheit und
Abenteuer, Frieden und Gerechtigkeit. Und schließlich nach großer Fahrt
und hartem Kampf: Ruhe und Frieden? Wären da nicht noch ein paar Fragen
offen und Antworten zu suchen, wo wir eigentlich herkommen und hingehen
und wer wir sind? Und wenn alles gesagt und gedacht ist? Wo bleiben wir
eigentlich? Wo über Nacht, wo für immer, wo nach dem Tod?
Wo bleibst du eigentlich?, fragen die Jünger. Und sie stellen die Frage
in kleinster Münze: Wo bleibst du - über Nacht? Jesus lässt sich nicht
bitten: Kommt und seht! Sie kamen und sahen die Herberge und blieben
diesen Tag bei ihm, auf jeden Fall bis zum späten Nachmittag. Das
Bleiben der Jünger ist also ein sehr ambulantes. So wie die Herberge
einer Ambulanz gleicht. Station auf der Wanderung, nicht mehr und nicht
weniger.
Ist es vermessen, in diesem gemeinsamen Bleiben in der Herberge ein Bild
für die Kirche zu sehen? Denn schließlich sind hier zwei nicht nur in
seinem Namen, sondern mit dem Christus selbst versammelt, im Gespräch
vertieft oder mit der Stärkung für den weiteren Weg beschäftigt. Das
Haus Gottes als Herberge? Die Kathedrale als Ambulanz auf dem Weg? Nicht
mehr und nicht weniger?
Vergangenen Sonntag haben wir uns im Kindergottesdienst die Frage
gestellt, ob Gott denn ein Haus braucht. Wir fanden, Gott braucht kein
Gotteshaus - aber wir! Als besonderen Ort, um mit ihm und miteinander
zusammen zu sein, mit einem Dach über dem Kopf, Herberge für unser
Gebet, Ort der Stärkung auf dem Weg durchs Leben, Bleibe für die Nacht.
Der Evangelist Johannes überlässt beim Schreiben nichts dem Zufall.
Gerade stellt er uns den menschgewordenen Logos, durch den alles
geschaffen wurde vor. Gerade klingt uns damit noch die ganze Geschichte
im Ohr vom Anfang mit Adam und Eva und deren unrühmliche Vertreibung aus
der paradiesischen Heimat. Hinterher steht vor dem Garten Eden der Engel
mit dem flammenden Schwert und auch unser Leben muss ein Abschiednehmen
sein und eine Kette von Vertreibungen. Die Suche nach einer letzten
Bleibe - vergeblich. Da lädt der Christus die allerersten Jünger zum
Bleiben in seiner Herberge ein. Wenn das kein Zeichen der Hoffnung ist.
Wenn das keine erste Station auf dem Weg nach Hause ist. Deshalb sind
Gotteshäuser, deshalb sind Christusherbergen Orte der gesammelten
Hoffnung auf dem Weg nach Hause, Ambulanzen der Zuversicht.
Hier gilt zum ersten Mal wieder: aus einer Kirche, aus einer
Christusherberge, darf keiner vertrieben werden. Dass sie für uns
ambulant bleibt und wir hinein und wieder hinausgehen, hat allein den
Grund, dass der Christus selbst bald wieder hinaus in die Welt geht um
bei den Menschen zu sein. In der Herberge wohnt man nicht. Sie bleibt
fremd. Kirchturmdenken ist das Denken von Menschen, die Kirchenmäuse
geworden sind, aber keine Jünger Jesu. Der macht sich bald wieder auf
den Weg und ruft weitere Jünger in die Nachfolge.
Die werden auf dieser Welt nur an einem Ort bleiben: bei Christus und
seinem Wort. Wenn der Glaube eine Heimat kennt, dann Christus selbst und
sein Wort. In Gotteshäusern, in Christusherbergen, können wir uns nur
Zuhause fühlen, wenn hier Christus selbst und sein Wort im wahrsten
Sinne des Wortes auf den Tisch kommt. Alles andere hält weder Leib und
Seele, noch Himmel und Erde zusammen.
Wir müssen einem Ausleger leider recht geben, der schreibt: In unserer
evangelischen Kirche finden wir oft „Hochgestimmte Spiritualität mit
viel Gott und Segen und Geheimnis – aber Jesusrein. … Es wird eine
Geheimniskrämerei um die zentralen Gegenstände des Glaubens
veranstaltet, als würden wir Lohengrin und nicht … Jesus bezeugen. … Die
Luft für Jesus und für ein christliches Selbstverständnis, dass sich als
persönliche Jesus-Nachfolge getrauen würde zu beschreiben, ist zurzeit
in der Kirche sehr, sehr dünn.“ (Dietrich Neuhaus, GPM, a.a.O.)
Dagegen schärft Jesus seinen Jüngern ein: „Wenn ihr bleiben werdet an
meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit
erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8/31f.) Die
Herberge ist Bleibe für die Nacht. Christus und sein Wort sind Bleibe
für ein ganzes Leben. Deshalb sollte man auch in jeder Christusherberge,
in jedem Gotteshaus, genau das finden. Denn dieses Wort ist niemals
ausgehört. Ihm ist niemals zu Ende nachgedacht. Wahrheit und Freiheit
warten auf den, der dabei bleibt.
Das erfährt freilich nur der, der die Frage „Wo bleiben wir eigentlich?“
nicht in dem Sinne stellt, wie sie in diesem Jahr von Zuhörern auf
Wahlveranstaltungen wohl immer wieder gestellt wird. Als Frage, wo ich
und meine Interessen denn vorkommen und wo denn für mich etwas dabei
ist. Wahrheit und Freiheit erfährt eine Kirche nur, wenn sie sich nicht
auch noch auf solche Fragen einlässt und wie eine Partei versucht ihren
Wählern und Kunden zu zeigen, dass sie auch für sie etwas im Sortiment
hat.
Wahrheit und Freiheit erfährt der Nachfolger Jesu Christi und die
christliche Gemeinde nur, wenn sie die Fremdheit und Ambulanz des
Christus aushält und die Fremde seines Worts und trotzdem dem Ruf Jesu
folgt: Kommt und seht!
Wo bleibst du eigentlich?, fragen die Jünger am Jordan, und ahnen, dass
in der Antwort Jesu auch die Antwort auf die Frage, wo wir bleiben,
enthalten ist. Erst einmal führt sie der Christus in seine kleine
Herberge, was für den Anfang auch schon was ist: Ambulanz der
Zuversicht, dass dieser Christus weiß, wo der Weg nach Hause zu finden
ist. Wo bleibst du eigentlich?, ist deshalb eine gute Frage.
Später auf dem Weg gibt Jesus seinen Jüngern weitere Antworten auf genau
diese Frage. „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht
so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu
bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich
wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.“ (Joh
14,2f.)
Hier die Herberge, dort die Wohnung. Hier über Nacht, dort für immer.
Dort bleibt der Christus. Dort bleiben wir.
Pfarrer Johannes Taig (Hospitalkirche
Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
35 Am nächsten Tag stand Johannes abermals da
und zwei seiner Jünger;
36 und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes
Lamm!
37 Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach.
38 Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen:
Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt:
Meister –, wo ist deine Herberge?
39 Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen's und blieben
diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde.
40 Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus
nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus.
41 Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben
den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte.
42 Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist
Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt
übersetzt: Fels.
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