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			Liebe Leser, 
			 
			‚Als ich ein Kind war, hat mir meine Mutter, eine einfache Bäuerin, 
			drei Sorten von Geschichten erzählt: unwahre, halbwahre und wahre. 
			Die unwahren, das waren die Märchen. Sagen und Legenden zählten zu 
			den halbwahren, und die biblischen Geschichten, die konnte man 
			glauben, denn das in ihnen Berichtete ist wirklich passiert. Diese 
			Geschichten waren meine eigentliche frühkindliche Literatur. Sie 
			waren viel wichtiger als die Märchen und Sagen, nicht nur wegen 
			ihres von mir geglaubten hohen Wahrheitsgehaltes, sondern auch, weil 
			sie am besten zu dem dörflich-protestantischen Milieu passten, in 
			dem ich aufwuchs. 
			 
			Vieles erlebte ich ähnlich wie Ulla Hahn es in ihrem 
			autobiografischen Roman „Das verborgene Wort“ beschrieben hatte. Sie 
			erzählt darin ihre Kindheit in einem rheinisch-katholischen Dorf. 
			Sie heißt in dem Roman Hilla und ist das Kind eines 
			bildungsfeindlichen, sprachlosen Hilfsarbeiters, und gegen diesen 
			Vater muss sie sich ihre Bildung ertrotzen. Ihr Pech, in eine 
			ungebildete Familie hineingeboren zu werden und in der geistigen 
			Enge eines kleinen katholischen Dorfes der 50er Jahre aufwachsen zu 
			müssen, war zugleich ihr Glück, denn es gab eine funktionierende 
			katholische Infrastruktur. 
			 
			Manchen mag das als ein zweifelhaftes Glück erscheinen, war es auch, 
			aber weil ihr Milieu katholisch war, hatte Hilla eine katholische 
			Großmutter. Sie brachte dem Kind das Beten bei, kaum dass es Wauwau, 
			Bäbä und Hamham sagen konnte. „Lieber Jott mach misch fromm, dat ich 
			in dä Himmel komm.“ Das Kind liebte diesen Vers, nicht so sehr 
			seines Inhaltes wegen, den es kaum verstand, sondern um des Reimes 
			willen, wegen der Sprachmelodie, seines magischen Klangs, weil er 
			sich anhörte wie ein Zauberspruch. Das dadurch erweckte Gefühl für 
			Reim und Rhythmus ließ das Kind nach weiteren Sprüchen gieren, und 
			die Großmutter brachte ihr gerne viele weitere Gebete und fromme 
			Reime und Heiligensprüche bei. Im Religionsunterricht und in der 
			Kirche lernte sie das „Vater unser“, das Glaubensbekenntnis, die 
			Mantras der Litaneien und Liturgien, Kirchenlieder, viele Texte von 
			hoher sprachlicher Qualität. In der Kirche berauscht sie sich am 
			Klang des Lateins, der „Sprache Gottes“. „Die Kirche war in so einer 
			armseligen Dorfgemeinschaft der Kulturträger“, sagte Ulla Hahn in 
			einem Spiegel-Interview. „Wo habe ich zum ersten Mal einen schönen 
			Raum gesehen, Überfluss, schöne Gewänder, Kerzen? Wo zum ersten Mal 
			Musik gehört? Worte, die nicht nur zum Schimpfen da waren? In der 
			Kirche. Das war ungeheuer wichtig.“ 
			 
			Das, was Ulla Hahn da im Spiegel-Interview gesagt hat, hätte auch 
			ich sagen können. Auch ich hatte so eine ähnliche Kindheit, 
			allerdings in der protestantisch-fränkischen Variante. Die ersten 
			Reime, an die ich mich erinnere, lauten: „Mit Gott fang an, mit Gott 
			hör’ auf, das ist der schönste Lebenslauf.“ … Dass Gott meine 
			Existenz wollte, er mich mit meinem Namen kennt, auf mich schaut, 
			und mit mir etwas vorhat, war für mich ein selbstverständliches 
			Faktum, schließlich kennt er jeden Erdenwurm persönlich.‘ 
			 
			So erzählte es der Schriftsteller Christian Nürnberger. („Warum 
			McKinsey für die Kirche keine Lösung ist“, Vortrag beim 34. Rhein. 
			Pfarrerinnen- und Pfarrertag am 3. November 2003 in Bonn). 
			 
			Was er erzählt, hebt sich so wohltuend von allem ab, was wir in 
			wissenschaftlichen Berichten lesen: Dass z.B. schon bei der Geburt 
			fast alles festgelegt ist, nicht nur die Haut- , Haar- und 
			Augenfarbe. In unseren Genen sei, so lesen wir bang, längst 
			festgeschrieben, an welchen Krankheiten wir einmal leiden und wie 
			wir sterben werden. Auch ob wir Gutes oder Böses tun, hätte 
			letztlich mit unseren Genen zu tun. Wer in eine bildungsarme Familie 
			geboren wird, bringt es in unserem Bildungssystem nicht weit. Was 
			die Statistiken sagen, könnte ja vielleicht auch an den Genen 
			liegen. Unser Leben ist also nichts anderes als der trostlose 
			nachgeburtliche Ablauf eines einmal aufgezogenen Uhrwerks. So endet 
			vorläufig die Aufklärung des modernen Menschen, der einmal meinte in 
			die Freiheit auszuziehen, als er die Vernunft auf den Thron setzte, 
			auf dem einmal Gott oder sagen wir besser die Kirche saß. Was ist 
			ihm von seiner Freiheit geblieben? Wenn er Pech hat, stehen heute 
			Wissenschaftler und potentielle Eltern schon vor seinem tiefgefrorenen, kryokonservierten Embryo, untersuchen und 
			diskutieren, ob er zu gebrauchen oder zu verwerfen sei, und doktern 
			so lange an ihm herum, bis das programmierte Uhrwerk seines Lebens 
			zur Zufriedenheit seiner Erzeuger ablaufen wird. Dann wird 
			entschieden, ob und wann er zwecks späterer Geburt ins Fruchtwasser 
			darf. Was für ein Wahnsinn. Was für eine elende Knechtschaft von 
			Geburt an.  
			 
			„Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen“, 
			hätte Nikodemus an dieser Stelle zu Jesus gesagt (Johannes 8/33). 
			Und Jesus hätte lächelnd genickt. Mit Nikodemus weiß er, dass für 
			den frommen Juden die Geburt aus dem Fruchtwasser nicht ein bloß 
			fleischlicher, biologischer Vorgang ist. Wer als Jude geboren wird, 
			der wird in die Gemeinschaft des Volkes Gottes geboren und über dem 
			spannt sich mit der Geburt der Himmel der Verheißungen Gottes, der 
			sein Volk in die Freiheit führt.  
			 
			Und deshalb macht es ja auch so viel Sinn, dass wir mit unseren 
			Kindern ausgiebig Weihnachten feiern und sie um die Krippe 
			versammeln, wo ihnen und uns eine Geburt aus Fruchtwasser gezeigt 
			wird, die noch etwas ganz anderes ist. Diese Geburt ist die 
			Schnittstelle, an der sich Wasser und Gottes Geist, Wort und 
			Fleisch, Himmel und Erde verbinden. Dass verstehen schon Kinder, 
			dass sich seit Weihnachten auch über ihrem Kinderbett nicht nur der 
			irdische, sondern auch der göttliche Himmel spannt. Und wir 
			Erwachsenen singen: Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du 
			schon bei dir bedacht, wie du mein wollest werden. (EG 37/2) Haben 
			wirs begriffen, dass wir damit an der Krippe von Gottes Geburt in 
			mir und zugleich von meiner Geburt in Gott singen? Unser erster 
			Schrei erklingt nicht nur im Kreißsaal dieser Welt, sondern im 
			gewaltigen Raum der Geschichte Gottes. Jeder von uns wird aus dieser 
			Geschichte nicht mehr wegzudenken sein.  
			 
			Das ist es, was Jesus mit der Geburt aus Wasser und Geist meint. 
			Jede Geburt ist so eine Geburt. Auch die Geburt aus Geist ist wie 
			die Geburt aus Fleisch und Fruchtwasser ein völlig passiver Vorgang. 
			Man kann keine fromme Methode daraus machen, so wie die Vernunft 
			daran scheitern wird, aus der Geburt eine biologischen Methode zu 
			machen. Es ist ein großes Verhängnis, dass wir meistens nicht danach 
			fragen, was etwas ist, oder worin seine Wahrheit besteht, sondern 
			danach, was wir aus dem, was wir vorfinden, machen und welchem 
			unserer Zwecke wir es dienstbar machen können.  
			 
			Dagegen gilt für die Geburt aus Wasser und Geist, dass wir das, was 
			wir sind, auch erkennen, werden und bewähren (vgl. Heinrich Assel, 
			GPM 2/2009, Nr. 3, S. 307). Natürlich weiß der hohe Geistliche 
			Nikodemus, dass seine Geburt kein rein biologischer Vorgang war, 
			sondern auch ein geistlicher. Aber hat dieses geistliche Mitglied 
			des Volkes Gottes seine Geburt als geistliche Geburt schon 
			wahrgenommen und im Leben bewährt? Warum schleicht er nachts zu 
			Jesus, wenn keiner ihn sehen kann? Warum stellt er sich dumm und 
			fragt nach Methoden? So reden Leute, die Angst haben. Angst haben, 
			der Wahrheit über sich endlich ins Gesicht zu sehen und nach ihr zu 
			leben.  
			 
			Jeden von uns hat ein Lehrer im Lauf der Schulzeit schon gefragt, ob 
			unserer biologischen Anwesenheit im Klassenzimmer auch eine geistige 
			entspreche. Genau danach fragt Jesus Nikodemus mitten in der Nacht. 
			Ob er denn als der, der er in Wahrheit ist, als aus Geist Geborener, 
			als aus und in Gott geborener, schon das Licht dieser Welt erblickt 
			hat, und ob damit seiner biologischen Anwesenheit auch eine 
			geistliche entspricht. Leicht kann er dies erkennen an Jesu Wort 
			über den Geist, der weht wo er will und den, der aus Geist geboren 
			ist, hinführt, nein hinfahren lässt, wohin er will. Das ist 
			Freiheit.  
			 
			Wie anders sollen denn Christenmenschen Salz der Erde sein, als dass 
			sie werden, was sie sind: Biologisch und zugleich aus Geist 
			Geborene, die der Geist Gottes hinfahren lässt, wohin er will. 
			Solange wir es vorziehen, doch lieber ein Rädchen zu bleiben im 
			Uhrwerk dieser Welt, unser Fähnlein lieber in den Wind hängen und 
			unserer Ängste pflegen, verpassen wir das Beste: Dass Gott meine 
			Existenz wollte, er mich mit meinem Namen kennt, auf mich schaut, 
			und mit mir etwas vorhat. Schließlich kennt er jeden Erdenwurm 
			persönlich. Seine Kinder sind wir! 
		
      	Pfarrer Johannes Taig   
      (Hospitalkirche Hof) 
      (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter 
      www.kanzelgruss.de)  | 
			
			Text: 
			1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern 
			mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. 
			2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, 
			du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen 
			tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 
			3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage 
			dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er 
			das Reich Gottes nicht sehen. 
			4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn 
			er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und 
			geboren werden? 
			5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, 
			dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in 
			das Reich Gottes kommen. 
			6 Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist 
			geboren ist, das ist Geist. 
			7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem 
			geboren werden. 
			8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du 
			weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, 
			der aus dem Geist geboren ist. 
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