Liebe Leser,
nächtliche Gespräche haben es oft in sich. In der Nacht gehen wir
den Dingen auf den Grund. Das Reden bekommt Tiefgang. Worte werden
grundsätzlich. Und wenn wir Modernen vielleicht auch nicht mehr die
Faszination über „das moralische Gesetz in uns“ mit dem Philosophen
Immanuel Kant teilen - beim Blick in den Sternenhimmel müssen wir
mit ihm staunen über seine geheimnisvolle Unermesslichkeit und über
die geheimnisvolle Winzigkeit unseres Lebens. Wer hat bei solchem
Anblick noch nicht über eine der Grundfragen des Philosophen
nachgedacht? Was kann ich wissen, was darf ich hoffen, was soll ich
tun? Wer ist Gott und wer ist der Mensch?
Nachts geht man sich selbst und den Dingen auf den Grund. Für den
gebildeten Nikodemus und seine Kollegen ist deshalb die Nacht die
Zeit, sich mit tiefsten und letzten Dingen zu beschäftigen. Das soll
auch für uns eine Anregung sein, das Nachtmagazin oder die Talkshow
einmal abzuschalten und in uns und die Welt hineinzulauschen. Denken
ist nicht durch die Übernahme vorgefertigter Meinungen zu ersetzen
und Erkenntnis nicht durch Information.
Martin Luther zum Text: „Die Weisen der Welt fragen seit Anbeginn
der Welt: Wie kann man rechtschaffen und selig werden? Das wird
erörtert vom Anfang bis zum Ende der Welt. Auch in unserer Zeit habt
ihr es vor Augen, wie wir einander darüber in den Haaren liegen.
Alle wollen darüber urteilen, aber sie wissen keine Antwort.“
Womit wir mitten in unserem Predigttext wären. Vielleicht ist es
das, was dem im philosophischen Diskurs geübten Nikodemus längst
aufgegangen ist. Sie wissen keine Antwort. Vielleicht weiß Jesus die
Antwort. Jesus weiß die Antwort anders, als Nikodemus denkt.
Manchmal spürt man das Vergnügen, das der Evangelist Johannes an den
Missverständnissen hat, die Jesus gerade bei den Gebildeten unter
seinen Verächtern erzeugt, ob sie nun Nikodemus oder Pilatus heißen.
Aber vielleicht tun wir dem Erstgenannten Unrecht, wenn wir
betrachten, dass er es an der angemessenen Höflichkeit nicht fehlen
lässt:
Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn
niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.
Jesus, wir wissen, dass du eine unwahrscheinliche und einmalige
historische Gestalt bist. Nichts ist zu vergleichen mit deiner
Bergpredigt, deinen Reden und Gleichnissen. Dein Humanismus ist
bewundernswert und deine liebevolle menschliche Tiefe. So können
auch heute Gebildete unter den Verächtern des Glaubens reden.
Jesus knüpft an die Komplimente des Nikodemus nicht an. Er ist
keiner von diesen „Taxitheologen“. Kennen Sie die? Sie holen die
Leute dort ab, wo sie stehen und setzen sie am Ende des
Gottesdienstes, am Ende der Veranstaltung, am Ende des Abends, am
Ende der Nacht genau wieder dort ab. Man ist nicht besonders weit
gekommen, aber schön war’s wieder!
Der Dramaturg Peter Hacks schreibt schon 1976: „Man muss zugeben,
dass dem Christentum, mehr als anderen Religionen, ein Hang zur
Verschämtheit anhaftet. Es schielt nach dem Urteil der Vernunft, wie
eine Genante nach dem Stadtklatsch. Es wird um so zimperlicher, je
älter es wird, und es bringt seinem Ruf die unglaublichsten Opfer.
Zuerst genieren sich die Christen ihrer mythologischen Herkunft. Wer
zu jener Zeit über Land ging, fand auf dem Dung die Madonnen liegen,
welche die Christen aus ihren Kirchen geworfen hatten. Die Künstler
sammelten sie auf und stellten sie zu Hause in ihre Kunst- und
Wunderkammern. Seit Neustem indes finden die Künstler, wenn sie an
Misthaufen vorüberwandern, auch den Heiligen Geist, den Sohn, ja
nicht selten den Vater. Die Christen selbst haben sie fortgeworfen.
Sie haben das Christentum verkleinert, auf einen Rest von Sätzen
über Gerechtigkeit, Tugend und die Herstellung einer würdigeren
Welt; lauter Sachen auf die sich, Gott ist des Verfassers Zeuge, die
Marxisten besser verstehen.“ (Adam und Eva, Leipzig 1976, S. 103) -
was man heute, nach den Lehren der Geschichte, auch bezweifeln muss.
Die Frage bleibt: Worum geht es in der Kirche? Ja, um das Reich
Gottes im Himmel und auf Erden. Um die Frage, wer Gott ist und wer
wir Menschen sind. Ums Jenseits und ums Diesseits. Um Glaube, Liebe
und Hoffnung und um Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Schon wahr,
dass man solche Themen sehr gut bei einem Glas Wein zu zweit in der
Nacht besprechen kann. Schon wahr, dass das Reden darüber auch in
die Öffentlichkeit gehört. Aber wenn es dort geschieht, sollte auch
Theologie dabei sein und nicht bloß Politik. Wie sollen denn die
guten Werte, gegen die keiner was hat, Menschen und ihr Handeln gut
machen? Wie kommt das, was wir für Gut halten, wie kommt das Reich
Gottes in den Menschen hinein?
Amen, Amen, sagt Jesus, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von
neuem geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er das Reich
Gottes nicht sehen. Weder im Himmel noch auf Erden!
Wie soll das gehen, fragt der philosophisch geschulte Nikodemus
beharrlich? Was ist die Methode? Und wir könnten Nikodemus heute zu
der Fraktion in der Christenheit schicken, die aus der Wiedergeburt
eine Bekehrungsmethode gemacht hat, weil auch in der Christenheit
immer wieder zur Geltung drängt, dass man für sein Heil auch etwas
tun, sich anstrengen, all seinen Willen zusammennehmen und sich
entscheiden muss. Wiedergeburt als Methode, das hätte Nikodemus
leicht begriffen. Amen, Amen, sagt Jesus, ich sage dir: Es sei denn,
dass jemand von neuem geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er
das Reich Gottes nicht sehen.
Was sagt Jesus da eigentlich so beharrlich? Jesus sagt, es gibt
keine Methode, um aus Wasser und Geist geboren zu werden, so wie es
auch keine Methode gibt, auf diese Welt geboren zu werden. Geboren
werden ist ein passiver Vorgang. Keiner von uns konnte etwas dazu
tun, dass er geboren wurde und seine Augen im Licht dieser Welt
aufschlug.
Und genauso verhält es sich mit der geistlichen Geburt. „Fürchte
dich nicht“, sagt Gott beim Propheten Jesaja, „denn ich habe dich
erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.“(
Jesaja 43/1) Da bleibt uns nur übrig, aufzuhören uns zu fürchten,
aufzuhören mit dem Versuch, aus eigener Vernunft und Kraft an Jesus
Christus unsern Herrn zu glauben und zu ihm zu kommen (vgl. Luthers
Auslegung zum 3. Glaubensartikel). Die geistliche Geburt ist ganz
Gotteswerk. Sie geschieht – würde Meister Eckhart sagen – wenn Gott
in uns geboren wird und dort seine Augen aufschlägt.
Glauben heißt: Gott machen lassen! Glauben heißt, das eigene Herz
und den eigenen Verstand, von allem, was wir schon immer haben und
wissen weg – und hinzuwenden zu dem dreieinigen Gott, der sich so
weit zu uns herunterbeugt, das wir ihn finden: als der Vater, der
mich und unsere Welt geschaffen hat, als der Sohn, der uns als
Menschenbruder begleitet und erlöst hat, als der Heiligen Geist, dem
Band der Liebe, der von Gott erzählt, den rechten Glauben schenkt
und das rechte Tun. „Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du
schon bei dir bedacht, wie du mein wollest werden.“ (EG 37/2) Gott
als Geheimnis der Welt.
Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der ich bedauert habe, dass ich
mich an meine eigene Taufe als Säugling nicht erinnern kann. Heute
finde ich es gut so. Es ist, als wäre mir meine Taufe entzogen, wie
meine Geburt. Niemand kann sie mir nehmen, nicht einmal ich selbst.
So bleibt sie ganz Wasser und Geist. So hört sie nicht auf zu sagen:
Gott ist auch das Geheimnis meines Lebens. Deshalb soll der
Christenmensch nach Martin Luther täglich in seine Taufe
zurückkriechen und neu daraus hervorkommen. (vgl. Großer
Katechismus, Vierter Teil: Von der Taufe)
Gott sei Dank bringt die Christenheit immer wieder tüchtige
Theologen, Denker, Dichter, Ethiker und Philosophen hervor, die in
ihrer Zeit etwas zu sagen haben. Die der Geist Gottes hinfahren
lässt, wo er will und die sich deshalb durch keine kirchliche
Planung einfangen und kaltstellen lassen. Gott sei Dank. Aber auch
die, liebe Gemeinde, lieber Nikodemus, können zur Nacht nur die
Hände falten, wie die kleinen Kinder und ihr Herz in die Hand Gottes
legen. Damit es Ruhe findet in ihm.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern
mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden.
2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen,
du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen
tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.
3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage
dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er
das Reich Gottes nicht sehen.
4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn
er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und
geboren werden?
5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn,
dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in
das Reich Gottes kommen.
6 Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist
geboren ist, das ist Geist.
7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem
geboren werden.
8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du
weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem,
der aus dem Geist geboren ist.
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