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		Liebe Leser,
		 mit einem Gedicht von Gottfried Benn möchte ich beginnen. Es heißt
		 
		 
		HÖR ZU 
		 
		Hör zu, so wird der letzte Abend sein, 
		wo du noch ausgehn kannst: du rauchst die „Juno“,  
		„Würzburger Hofbräu“ drei, und liest die Uno, 
		wie sie der „Spiegel“ sieht, du sitzt allein 
		 
		an kleinem Tisch, an abgeschlossnem Rund 
		dicht an der Heizung, denn du liebst das Warme. 
		Um dich das Menschentum und sein Gebarme, 
		das Ehepaar und der verhasste Hund. 
		 
		Mehr bist du nicht, kein Haus, kein Hügel dein, 
		zu träumen in ein sonniges Gelände, 
		dich schlossen immer ziemlich enge Wände 
		von der Geburt bis diesen Abend ein. 
		 
		Mehr warst du nicht, doch Zeus und alle Macht, 
		das All, die großen Geister, alle Sonnen 
		sind auch für dich geschehn, durch dich geronnen, 
		mehr warst du nicht, beendet wie begonnen - 
		der letzte Abend - gute Nacht. 
		 
		(ders., Sämtliche Gedichte, Stuttgart 1998, S. 489) 
		 
		Zweifellos ist das ein modernes Gedicht. Es stammt aus den 60er Jahren 
		des letzten Jahrhunderts. Auch wenn es die Zigarettenmarke Juno nicht 
		mehr gibt, alles andere gibt’s auch heute noch. Der Dichter schämt sich 
		nicht, die Oberfläche seiner Existenz zu schildern. Die Summe der 
		Gewohnheiten; die verhasste Banalität und Kälte seiner Welt, gegen die 
		auch die Heizung nicht wärmen kann; die Enge der Wände, zwischen denen 
		das eigene Leben abläuft; die fehlende Aussicht. Mehr warst Du nicht, so 
		könnte die klägliche Summe seiner Existenz abschließend lauten. Doch er 
		setzt dieser Summe sein „doch“ entgegen. Kracht noch einmal durch den 
		doppelten Boden seines Daseins. Zeus und alle Macht, das All, die großen 
		Geister, alle Sonnen – sind auch durch dich geschehn, durch dich 
		geronnen. Man hat Gottfried Benn diese Strophe vorgeworfen. Das sei 
		aufgesetzt und wenig glaubwürdig. Die typisch moderne Kritik an solchen 
		Versen lautet: Wir haben uns mit unserem Schicksal abzufinden. Wir haben 
		uns abzufinden mit dem „Spiegel“, der „Juno“ und den drei „Würzburger 
		Hofbräu“ am Feierabend. Wir haben uns abzufinden mit der Oberfläche, der 
		Banalität und der fehlenden Aussicht. Mehr haben wir nicht zu sein. So 
		sehen Helden der Moderne aus: Ein paar Jahrzehnte möglichst klaglos 
		funktionieren – und dann gute Nacht.  
		 
		Wann sind Sie das letzte Mal durch den doppelten Boden Ihrer Existenz 
		gekracht? Wann standen Sie das letzte Mal am Abgrund und schauten hinab 
		in unendlichen Raum und unendliche Zeit? Beim Gedanken an den eigenen 
		Tod? Am Sterbebett eines geliebten Menschen? Womit wir mitten in unserer 
		Geschichte vom königlichen Beamten wären. Am Sterbebett des eigenen 
		Kindes ist die Oberfläche des Lebens zerbrochen wie ein Spiegel. 
		Angesichts des Abgrunds, der sich hier auftut, kann wohl auch die 
		Aussicht, die der Dichter anbietet, nicht wirklich trösten. Ja, wir sind 
		aus Sternenstaub gemacht. Aber von welcher Art sind denn die Zeiten und 
		Räume, in denen wir für Augenblicke aufblitzen? Finden wir uns, mit Jean 
		Paul gesprochen, vielleicht alleine wieder in der „weiten Leichengruft 
		des Alls“?  
		 
		Nur scheinbar ist das eine ganz alltägliche Wundergeschichte. Schon weil 
		der Evangelist Johannes sie erzählt, können wir auf Überraschungen 
		gefasst sein. Da kommt also jener Mann, dessen Kind todkrank ist und 
		bittet Jesus zu kommen und seinem Sohn zu helfen. Und bekommt eine 
		wirklich seltsame Antwort: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so 
		glaubt ihr nicht.“ Eine Feststellung, in der eine Frage stecken könnte: 
		Suchst du nur einen Heiland, der die zerbrochene Oberfläche deines 
		Lebens auf wundersame Weise wieder heil macht und die zerbrochenen 
		Stücke wieder zusammenfügt, damit du wieder denken, fühlen und handeln 
		kannst wie bisher? Suchst du einen Kundendienst für die Katastrophen 
		deines irdischen Lebens? Oder einen Guru, der die armselige Oberfläche 
		deines Daseins spirituell auf Hochglanz bringt?  
		 
		Nein, Letzteres hat der zu Tode geängstigte Vater wirklich nicht im 
		Sinn. Herr Jesus, sagt er mit Ausrufezeichen. Hier geht es um Leben und 
		Tod, um Sein und um Nichtsein. Und genau das ist die Kategorie, in die 
		der Christus gehört. „Geh hin, dein Sohn lebt!“ Wir stellen uns vor, wie 
		dieser Satz aus dem Munde des Christus verklingt. Die Sonne scheint, wie 
		sie vorher schien. Die Mücken tanzen in der heißen Luft, wie vorher. 
		Alles scheint zu sein, wie es immer war. Die Oberfläche der Welt hat 
		sich kein Bisschen verändert.  
		 
		Aber der Mensch glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte. Das hat sich 
		geändert. Dieser Mensch steht nicht länger an einem Abgrund, der ihn aus 
		leeren Augenhöhlen anstarrt. Statt der blinden Augen des Schicksals, 
		blicken ihn die offenen Augen des Christus an. Zum Glauben kommt ein 
		Mensch, wenn der Christus in ihm die Augen aufschlägt. Das ist besser 
		als Zeus und alle Macht, das All, die großen Geister, alle Sonnen. In 
		der Seele dieses armen Mannes zündet der Christusstern. Diese Geschichte 
		gibt uns eine Vorstellung davon, was aus der Begegnung mit Christus 
		hervorgeht: Leben, Leben schlechthin, ewiges Leben. Denn das Leben ist 
		im eigentlichen Sinn nichts und niemand als der Christus selbst. 
		(Johannes 14,6) 
		 
		Von den Weisen aus dem Morgenland wird erzählt, wie sie dem 
		Christusstern folgten, bis sie ihn fanden. Bemerkenswert ist, wofür der 
		Predigt zu dieser Geschichte am Ende oft die Zeit fehlt: Dass diese 
		Menschen – nachdem sie den Christusstern gefunden hatten – auf einem 
		anderen Weg nach Hause gingen. Engel sprachen zu ihnen und wiesen ihnen 
		den Heimweg. Wer zu dem Mann, der ebenfalls den Christusstern gefunden 
		hatte, sprach, wird uns geschildert. Seine Knechte kamen ihm 
		entgegengelaufen und brachten Nachricht vom Leben. Aus der Todeswelt, 
		aus der er herkam, ist auf dem Nachhauseweg eine Welt des Lebens 
		geworden. Kleiner kann seine Geschichte nicht erzählt werden und kleiner 
		kann die Geschichte des Glaubens nicht erzählt werden. Es ist die 
		Geschichte, die wir im Weihnachtslied gesungen haben: „Das ewig Licht 
		geht da herein, gibt der Welt ein’ neuen Schein.“ (EG 23,4) 
		 
		Kann gut sein, dass das Zerbrechen der Oberfläche des eigenen Lebens 
		nicht die Katastrophe ist, für die wir sie halten. Kann gut sein, dass 
		wir erst durch den doppelten Boden unserer Existenz krachen müssen, 
		bevor wir überhaupt einmal Ausschau halten und der Schwerkraft der Dinge 
		entfliehn. Kann gut sein, dass erst dann, wenn wir nichts mehr 
		festhalten können, nicht einmal uns selbst, dem Christus die Stunde 
		schlägt, uns zu halten. Damit wir mit allen, denen der Christusstern 
		leuchtet, den Weg nach Hause finden.  
		 
		Mit einem Gedicht haben wir begonnen, mit einem Gedicht von Rose 
		Ausländer schließen wir:  
		 
		Über dir 
		Sonne Mond und Sterne 
		 
		Hinter ihnen 
		unendliche Weiten 
		 
		Hinter dem Himmel 
		unendliche Himmel 
		 
		Über dir 
		was deine Augen sehen 
		 
		In dir 
		alles Sichtbare 
		und 
		das unendlich Unsichtbare 
		 
		(Rose Ausländer, In dir, in: Helmut Zwanger, Gott im Gedicht, Tübingen 
		2007, S. 148) 
		 
      
		
      	Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche 
      Hof) 
      (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
      
      www.kanzelgruss.de)  | 
      Text: 
      
		 46 Und Jesus kam abermals nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein 
		gemacht hatte. Und es war ein Mann im Dienst des Königs; dessen Sohn lag 
		krank in Kapernaum. 
		47 Dieser hörte, dass Jesus aus Judäa nach Galiläa kam, und ging hin zu 
		ihm und bat ihn, herabzukommen und seinem Sohn zu helfen; denn der war 
		todkrank. 
		48 Und Jesus sprach zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so 
		glaubt ihr nicht. 
		49 Der Mann sprach zu ihm: Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt! 
		50 Jesus spricht zu ihm: Geh hin, dein Sohn lebt! Der Mensch glaubte dem 
		Wort, das Jesus zu ihm sagte, und ging hin. 
		51 Und während er hinabging, begegneten ihm seine Knechte und sagten: 
		Dein Kind lebt. 
		52 Da erforschte er von ihnen die Stunde, in der es besser mit ihm 
		geworden war. Und sie antworteten ihm: Gestern um die siebente Stunde 
		verließ ihn das Fieber. 
		53 Da merkte der Vater, dass es die Stunde war, in der Jesus zu ihm 
		gesagt hatte: Dein Sohn lebt. Und er glaubte mit seinem ganzen Hause. 
		54 Das ist nun das zweite Zeichen, das Jesus tat, als er aus Judäa nach 
		Galiläa kam. 
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