Predigt     Johannes 7/28-29     Heiliger Abend    24.12.12

"Lebte Christus nur ein paar Stunden?"
(von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

zu den eher peinlichen Momenten des Weihnachtsfestes im Familienkreis gehörte für mich in den späteren Jahren immer die reflexartige Erinnerung der Älteren an die Weihnachtsfeste, „als ich und meine Geschwister noch klein waren“. Wie wir uns die Nasen an der Nörpelglasscheibe der Wohnzimmertür plattgedrückt haben, während drinnen die Erwachsenen die Kerzen anzündeten, die auf der Glasscheibe eine nach der anderen als verschwommener Lichtfleck erschienen. Wie wir schließlich mit glänzenden Augen ins weihnachtliche Zimmer nach allen Seiten schauend hinein durften, als stünde vor dem Paradies nicht länger der Engel mit dem flammenden Schwert. Es gibt sogar noch eine Tonaufnahme, auf der ich im zarten Alter von zweieinhalb Jahren „Ich steh an Deiner Krippen hier“ gesungen habe, was historisch-kritisch betrachtet, völlig wahr ist. Aber was sagt das heute über mich?

Ich weiß, die Erwachsenen hatten damals zum Fest natürlich jede Menge Freude an unserer Kinderfreude und hoffentlich habt ihr heute auch Kinder und Enkelkinder, deren Weihnachtsfreude euch ansteckt. Keiner von uns kann sich schließlich dem Anblick von leuchtenden Kinderaugen entziehen. So steinhartherzig kann gar keiner sein. Auch nicht an der Krippe des Christuskindes, das uns wie jeder Säugling seine hilflose Menschengestalt weinend oder lachend entgegenstreckt.

Aber wir alle würden uns entschieden wehren, wollte man uns auf das Kind reduzieren, das wir einmal waren. Der Schriftsteller Joseph Reding schreibt zum Weihnachtsfest: „Wenn wir Mahatma Gandhi sagen, stellen wir uns nicht einen nackten, rosigen Säugling auf dem obligatorischen Krabbelfell im Studio des Familienfotografen vor. Wir sehen vielmehr einen ausgezehrten Mann, der sich in die Gefängnisse der Besatzungsmacht schleppen lässt. ….. Wenn wir Martin Luther King sagen, denken wir nicht an ein Negerbaby, sondern an einen Erwachsenen in der Spitzengruppe eines Demonstrationszuges, … an den Gemeuchelten von Memphis, Tennessee. Aber sagt man Christus, dann schrumpft bei vielen Zeitgenossen das Vorstellungsvermögen auf das Krippenkind zusammen. … Ob realistisch oder idealisiert: wenn der Geburtstag von Jesus Christus gefeiert wird, bekommen die ersten Stunden seines Lebens eine gesteigerte Aufmerksamkeit, die seinem dreiunddreißigjährigen Leben insgesamt nie wieder zuteil wird. … Es muss die schlichte Vermutung geäußert werden, dass viele Menschen sich das Dasein des Christus so willkürlich zurechtkürzen, dass viele seine ersten Lebensstunden derart angestrengt feiern und ihn dann später kaum mehr beachten, weil fast alles an seinem kommenden Wirken sie irritiert. … Aber – lebte Christus nur ein paar Stunden?“ (Josef Reding, „Was fällt ihnen zu Weihnachten ein“, GTB 236, 1977, S. 34)

Da rief Jesus, der im Tempel lehrte: Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.

Lassen wir uns an diesem Weihnachtsfest von diesem Mann, der im Tempel ruft, irritieren. Offensichtlich lebte der Christus nicht nur ein paar Stunden. Und er bittet uns heute um Verständnis, dass er nicht alle Jahre wieder für uns bloß ins Stroh seiner Futterkrippe krabbeln will um das herzige Jesulein zu geben. Er bittet uns, dass wir nicht beim Anblick seiner Geburt stehen bleiben und sagen: Jesus, ja kenne ich, kommt aus einem Stall in Bethlehem und hat das Alle-Jahre-wieder-Weihnachtsfest erfunden. Das Christkind bittet uns zur Kenntnis zu nehmen, woher es wirklich kommt und was aus ihm wird. Um Gottes Willen und um unserer selbst willen.

Um Gottes Willen. Nein, es hilft wirklich keinem weiter, historisch-kritische Wahrheiten über dieses Kind auszugraben aus dem Nebel der Geschichte. Mit dieser Brille bleibt man auf einem Auge blind. Die Weihnachtsbotschaft lautet: In diesem Kind in der Krippe kommt Gott selbst zur Welt. Vom Himmel hoch, da kommt er her und hat sich nicht weniger vorgenommen, als diese Welt und uns nach Hause zu bringen. Die Umstände seiner Geburt zeigen an, dass der Gottessohn dabei wirklich jeden verdammten Winkel dieser Erde durchstöbern wird, bis er alle gefunden hat, die Hirten auf dem Felde und auch dich und mich.

Lassen wir uns deshalb von dem Christus, der im Tempel ruft, irritieren um unserer selbst willen. Irgendwann sind die Kinder im Bett und das Kinder- und Familienweihnachtsfest ist gefeiert und wir sitzen noch da mit unserem Glas in der Hand. Es gibt die Nörpelglasscheibe meiner Kinderzeit immer noch, aber keiner zündet für mich mehr die Kerzen an und öffnet die Tür. Der Engel mit dem flammenden Schwert hat wieder das Regiment übernommen vor der Tür zum Paradies. Und tief im Herzen weiß jeder, wann diese Tür zur Kinderweihnachtswelt für ihn für immer zugefallen ist.

In welchem Alter passiert das im Kopf? Wann sehen wir ein, dass Zukunft nicht mehr bedeutet, einen Platz auf dieser Welt zu erobern und eine Stellung im Leben zu finden? Wann wird uns so richtig bewusst, dass wir sterblich sind und der Tod auf uns wartet? Ja, das tut weh.

Macht nichts, liebe Gemeinde. Macht wirklich nichts. Denn das Kind in der Krippe bleibt auch nicht das herzige Jesulein. Es schickt sich an diese Welt und uns zu erlösen und zu befreien; und nimmt es dabei noch mit ganz anderen Dingen auf als mit zugefallenen Türen zur Kinderweihnachtswelt. Der Christus nimmt es mit dem Tod auf. Und der Kummer und der Schmerz, den ihr - vielleicht gerade an Weihnachten besonders – empfindet, gehört dazu.

„Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne,
die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne.
O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht',
wie schön sind deine Strahlen!“ (EG 37,3)

So hat es Paul Gerhard im bekannten Weihnachtslied 1653 gedichtet, als er sich selbst an der Krippe stehen sah. Paul Gerhard, der den dreißigjährigen Krieg in Deutschland erlebte und dessen Leben ein Leben mit Höhen und Abgründen war. Wir wollen gar nicht so genau wissen, was seine Augen alles sehen mussten. Hier schaut ein sehr erwachsener Mensch in die Krippe – und schaut durch das Kind in der Krippe hindurch mitten ins Herz Gottes hinein.

„Eins aber, hoff ich, wirst du mir, mein Heiland, nicht versagen:
dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen.
So lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein, dich und all deine Freuden.“ (EG 37,9)

Was habe ich damals nur gesungen mit meiner Kleinkinderstimme zum Entzücken meiner Anverwandten? Das gehört eigentlich gar nicht in Kindermünder. Das gehört in die Münder von Menschen, die wissen, dass sie sterben müssen. Das gehört in die Münder von Menschen, die schon an Sterbebetten gesessen und an Gräbern von geliebten Menschen gestanden sind. Das gehört in die Münder von Menschen, die wissen, wie zerbrechlich sie sind und wie finster die Nächte der eigenen Seele sein können.

Wer die mittelalterlichen Altäre und Darstellungen von Szenen der Weihnachtsgeschichte genau betrachtet, wird immer wieder ein Krippenkind finden, dessen Züge nicht wirklich die eines Säuglings sind. Als trüge dieses Christusgesicht schon kurz nach seiner Geburt die Spuren und Furchen des ganzen menschlichen Lebens, ja der ganzen Menschheit an sich. Kein Kind eben nur für die Kinderweihnachtswelt, sondern ein Kind für alle Welt. Gute Gründe, dass wir uns noch einmal über das Wunder der Weihnacht beugen, wenn die Kinder im Bett sind. Von diesem Kind singen wir an Weihnachten: „Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis; der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob, Ehr und Preis.“

Gott kommt zur Welt. Im Stall von Bethlehem schlägt er die Augen auf. In dieser Heiligen Nacht bitten wir Gott im Himmel, dass er auch in uns, in den finsteren Nächten unserer eigenen Seele die Augen aufschlägt, dass auch in uns das Christuskind geboren wird und mit ihm Glaube und Hoffnung und Liebe.

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text:

28 Da rief Jesus, der im Tempel lehrte: Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt.
29 Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.
 


Archiv
Homepage Hospitalkirche