Liebe Leser,
zu den eher peinlichen Momenten des Weihnachtsfestes im
Familienkreis gehörte für mich in den späteren Jahren immer die
reflexartige Erinnerung der Älteren an die Weihnachtsfeste, „als ich
und meine Geschwister noch klein waren“. Wie wir uns die Nasen an
der Nörpelglasscheibe der Wohnzimmertür plattgedrückt haben, während
drinnen die Erwachsenen die Kerzen anzündeten, die auf der
Glasscheibe eine nach der anderen als verschwommener Lichtfleck
erschienen. Wie wir schließlich mit glänzenden Augen ins
weihnachtliche Zimmer nach allen Seiten schauend hinein durften, als
stünde vor dem Paradies nicht länger der Engel mit dem flammenden
Schwert. Es gibt sogar noch eine Tonaufnahme, auf der ich im zarten
Alter von zweieinhalb Jahren „Ich steh an Deiner Krippen hier“
gesungen habe, was historisch-kritisch betrachtet, völlig wahr ist.
Aber was sagt das heute über mich?
Ich weiß, die Erwachsenen hatten damals zum Fest natürlich jede
Menge Freude an unserer Kinderfreude und hoffentlich habt ihr heute
auch Kinder und Enkelkinder, deren Weihnachtsfreude euch ansteckt.
Keiner von uns kann sich schließlich dem Anblick von leuchtenden
Kinderaugen entziehen. So steinhartherzig kann gar keiner sein. Auch
nicht an der Krippe des Christuskindes, das uns wie jeder Säugling
seine hilflose Menschengestalt weinend oder lachend entgegenstreckt.
Aber wir alle würden uns entschieden wehren, wollte man uns auf das
Kind reduzieren, das wir einmal waren. Der Schriftsteller Joseph
Reding schreibt zum Weihnachtsfest: „Wenn wir Mahatma Gandhi sagen,
stellen wir uns nicht einen nackten, rosigen Säugling auf dem
obligatorischen Krabbelfell im Studio des Familienfotografen vor.
Wir sehen vielmehr einen ausgezehrten Mann, der sich in die
Gefängnisse der Besatzungsmacht schleppen lässt. ….. Wenn wir Martin
Luther King sagen, denken wir nicht an ein Negerbaby, sondern an
einen Erwachsenen in der Spitzengruppe eines Demonstrationszuges, …
an den Gemeuchelten von Memphis, Tennessee. Aber sagt man Christus,
dann schrumpft bei vielen Zeitgenossen das Vorstellungsvermögen auf
das Krippenkind zusammen. … Ob realistisch oder idealisiert: wenn
der Geburtstag von Jesus Christus gefeiert wird, bekommen die ersten
Stunden seines Lebens eine gesteigerte Aufmerksamkeit, die seinem
dreiunddreißigjährigen Leben insgesamt nie wieder zuteil wird. … Es
muss die schlichte Vermutung geäußert werden, dass viele Menschen
sich das Dasein des Christus so willkürlich zurechtkürzen, dass
viele seine ersten Lebensstunden derart angestrengt feiern und ihn
dann später kaum mehr beachten, weil fast alles an seinem kommenden
Wirken sie irritiert. … Aber – lebte Christus nur ein paar Stunden?“
(Josef Reding, „Was fällt ihnen zu Weihnachten ein“, GTB 236, 1977,
S. 34)
Da rief Jesus, der im Tempel lehrte: Ihr kennt mich und wisst, woher
ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern es
ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Ich
aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.
Lassen wir uns an diesem Weihnachtsfest von diesem Mann, der im
Tempel ruft, irritieren. Offensichtlich lebte der Christus nicht nur
ein paar Stunden. Und er bittet uns heute um Verständnis, dass er
nicht alle Jahre wieder für uns bloß ins Stroh seiner Futterkrippe
krabbeln will um das herzige Jesulein zu geben. Er bittet uns, dass
wir nicht beim Anblick seiner Geburt stehen bleiben und sagen:
Jesus, ja kenne ich, kommt aus einem Stall in Bethlehem und hat das
Alle-Jahre-wieder-Weihnachtsfest erfunden. Das Christkind bittet uns
zur Kenntnis zu nehmen, woher es wirklich kommt und was aus ihm
wird. Um Gottes Willen und um unserer selbst willen.
Um Gottes Willen. Nein, es hilft wirklich keinem weiter,
historisch-kritische Wahrheiten über dieses Kind auszugraben aus dem
Nebel der Geschichte. Mit dieser Brille bleibt man auf einem Auge
blind. Die Weihnachtsbotschaft lautet: In diesem Kind in der Krippe
kommt Gott selbst zur Welt. Vom Himmel hoch, da kommt er her und hat
sich nicht weniger vorgenommen, als diese Welt und uns nach Hause zu
bringen. Die Umstände seiner Geburt zeigen an, dass der Gottessohn
dabei wirklich jeden verdammten Winkel dieser Erde durchstöbern
wird, bis er alle gefunden hat, die Hirten auf dem Felde und auch
dich und mich.
Lassen wir uns deshalb von dem Christus, der im Tempel ruft,
irritieren um unserer selbst willen. Irgendwann sind die Kinder im
Bett und das Kinder- und Familienweihnachtsfest ist gefeiert und wir
sitzen noch da mit unserem Glas in der Hand. Es gibt die
Nörpelglasscheibe meiner Kinderzeit immer noch, aber keiner zündet
für mich mehr die Kerzen an und öffnet die Tür. Der Engel mit dem
flammenden Schwert hat wieder das Regiment übernommen vor der Tür
zum Paradies. Und tief im Herzen weiß jeder, wann diese Tür zur
Kinderweihnachtswelt für ihn für immer zugefallen ist.
In welchem Alter passiert das im Kopf? Wann sehen wir ein, dass
Zukunft nicht mehr bedeutet, einen Platz auf dieser Welt zu erobern
und eine Stellung im Leben zu finden? Wann wird uns so richtig
bewusst, dass wir sterblich sind und der Tod auf uns wartet? Ja, das
tut weh.
Macht nichts, liebe Gemeinde. Macht wirklich nichts. Denn das Kind
in der Krippe bleibt auch nicht das herzige Jesulein. Es schickt
sich an diese Welt und uns zu erlösen und zu befreien; und nimmt es
dabei noch mit ganz anderen Dingen auf als mit zugefallenen Türen
zur Kinderweihnachtswelt. Der Christus nimmt es mit dem Tod auf. Und
der Kummer und der Schmerz, den ihr - vielleicht gerade an
Weihnachten besonders – empfindet, gehört dazu.
„Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne,
die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne.
O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht',
wie schön sind deine Strahlen!“ (EG 37,3)
So hat es Paul Gerhard im bekannten Weihnachtslied 1653 gedichtet,
als er sich selbst an der Krippe stehen sah. Paul Gerhard, der den
dreißigjährigen Krieg in Deutschland erlebte und dessen Leben ein
Leben mit Höhen und Abgründen war. Wir wollen gar nicht so genau
wissen, was seine Augen alles sehen mussten. Hier schaut ein sehr
erwachsener Mensch in die Krippe – und schaut durch das Kind in der
Krippe hindurch mitten ins Herz Gottes hinein.
„Eins aber, hoff ich, wirst du mir, mein Heiland, nicht versagen:
dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen.
So lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir
ein, dich und all deine Freuden.“ (EG 37,9)
Was habe ich damals nur gesungen mit meiner Kleinkinderstimme zum
Entzücken meiner Anverwandten? Das gehört eigentlich gar nicht in
Kindermünder. Das gehört in die Münder von Menschen, die wissen,
dass sie sterben müssen. Das gehört in die Münder von Menschen, die
schon an Sterbebetten gesessen und an Gräbern von geliebten Menschen
gestanden sind. Das gehört in die Münder von Menschen, die wissen,
wie zerbrechlich sie sind und wie finster die Nächte der eigenen
Seele sein können.
Wer die mittelalterlichen Altäre und Darstellungen von Szenen der
Weihnachtsgeschichte genau betrachtet, wird immer wieder ein
Krippenkind finden, dessen Züge nicht wirklich die eines Säuglings
sind. Als trüge dieses Christusgesicht schon kurz nach seiner Geburt
die Spuren und Furchen des ganzen menschlichen Lebens, ja der ganzen
Menschheit an sich. Kein Kind eben nur für die Kinderweihnachtswelt,
sondern ein Kind für alle Welt. Gute Gründe, dass wir uns noch
einmal über das Wunder der Weihnacht beugen, wenn die Kinder im Bett
sind. Von diesem Kind singen wir an Weihnachten: „Heut schließt er
wieder auf die Tür zum schönen Paradeis; der Cherub steht nicht mehr
dafür. Gott sei Lob, Ehr und Preis.“
Gott kommt zur Welt. Im Stall von Bethlehem schlägt er die Augen
auf. In dieser Heiligen Nacht bitten wir Gott im Himmel, dass er
auch in uns, in den finsteren Nächten unserer eigenen Seele die
Augen aufschlägt, dass auch in uns das Christuskind geboren wird und
mit ihm Glaube und Hoffnung und Liebe.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
28 Da rief Jesus, der im Tempel lehrte: Ihr
kennt mich und wisst, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus
bin ich gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt
hat, den ihr nicht kennt.
29 Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich
gesandt.
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