Predigt Johannes 9/35-41 17. Sonntag nach Trinitatis 07.10.01
"Die letzte
Instanz"
(von Pfr. Johannes Taig, Hospitalkirche)
Liebe Leser, dies ist der Schluss einer Geschichte, die fast schon ein ganz gewöhnliches, d.h. böses Ende genommen hätte. Sie haben ihn einfach vor die Tür gesetzt, rausgeworfen. Er, das war ein Mann, der schon blind zur Welt gekommen war. Jesus hatte ihn geheilt, an einem Sabbat. Das war natürlich verboten. Und so gab es unter den frommen Pharisäern eine Diskussion über Richtig und Falsch, über Gut und Böse, über das Gesetz des Mose, sprich die 10 Gebote und die Freiheit der Liebe und Güte Gottes, wie Jesus sie dem Blinden gezeigt hat. Und natürlich ging dieser Streit damals aus, wie er auch heute in der Kirche meistens ausgeht: Im Zweifel für das Gesetz. Und sie warfen ihn hinaus. Schließlich handelt es sich hier um keinen einfachen Fall. Solche Fälle lassen sich noch lösen hinter verschlossenen Türen, auf der nicht öffentlichen Sitzung des Kirchenvorstandes. Aber wenn so ein Fall erst einmal in die Öffentlichkeit gelangt ist, steht da dann nicht die eigene Glaubwürdigkeit auf dem Spiel? Was bleibt da den Pharisäern noch anderes übrig? Da war zunächst einmal dieser Blindgeborene: Ein gezeichneter, ein von eigener Schuld oder der Schuld seiner Vorfahren gezeichneter. Das war für die damaligen Menschen keine Frage. Ein solcher gehörte nicht in die Gemeinschaft der Synagoge. Von einem solchen hielt man sich fern. Jetzt konnte er wieder sehen und erzählte von dem, der ihn geheilt hatte. Aber, was hatte er den frommen Pharisäern schon zu sagen? Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns? so sagen sie zu ihm. Tja, wer so offensichtlich Schuld auf sich geladen hat, hat nichts mehr zu sagen! Und es kommt ja noch etwas hinzu: Der, der den Blindgeborenen geheilt hatte, hatte das unter nicht unerheblichem Aufwand an einem Sabbat getan. Ein klarer Verstoß gegen das dritte Gebot. So konnte das Urteil der braven Pharisäer nur lauten: Was immer da passiert war, mit Gott hatte es jedenfalls nichts zu tun. Und sie warfen ihn hinaus. Welche andere Entscheidung hätten die Pharisäer ihrem Kirchenvolk erklären können? Nach dem Gesetz entscheiden, das ist populär. Das leuchtet ein. Das Evangelium nicht. Ist es heute anders? In einem Punkt gewiss. Die Pharisäer von heute haben nicht mehr das konsequente Format der damaligen. Die damaligen hätten den Kopf darüber geschüttelt, dass der Nerv des Kirchenvolks heute offensichtlich mehr nach Lust und Laune getroffen wird. Dass offenbar heute demokratisch je nach Stadt- oder Dorflage entschieden wird, welche Gebote ehr wichtig oder ehr unwichtig sind, um das eigene Gesicht und die eigene Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Dann hätten die damaligen freilich auch ihre Freude darüber gehabt, dass bei so vielen bis auf den heutigen Tag das Jesuswort nicht angekommen ist, dass das Gesetz für den Menschen gemacht ist, und nicht der Mensch für das Gesetz. Und dass man den Splitter im Auge des anderen nicht suchen kann, solange sich im eigenen Auge die Balken biegen. Und es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und da er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an des Menschen Sohn? Das ist schon tröstlich: Während die einen noch mit ihrer eigenen Reputation, mit der Wahrung ihres eigenen Gesichtes beschäftigt sind, geht Jesus dem nach, dem das Gesicht genommen wurde. Jesus lässt den, den er in ein neues Leben gestellt hat, und der damit bei den Frommen auf die Nase fällt, nicht im Stich. Er bindet ihn an sich. Glaubst du an mich, fragt er ihn. Und er antwortet: Herr, ich glaube und fiel vor ihm nieder. Und damit ist klar, wer von nun an die letzte Instanz in seinem Leben ist. Nicht die Pharisäer, nicht das Gesetz, sondern der Christus allein, allein seine Gnade, allein sein gutes Wort. Nur wer das immer wieder im Angesicht des Christus tut, nur wer das immer wieder im Glauben ergreift, kann in der Kirche bleiben. Es stimmt ja nicht, dass nur Menschen aus der Kirche austreten, weil der Glaube ihnen nichts mehr bedeutet. Es gibt ja auch die, deren Glauben am Zerreißen und Zerbrechen ist, weil niemand ihre Not sieht. Ich weiß von einer Frau, die sich mit dem Gedanken trägt, aus der Kirche auszutreten, weil sie die Unbarmherzigkeit, Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit ihrer Nachbarn nicht mehr aushält. Ihrer Nachbarn aus der Gemeinde. Die ihren Schmerz gern herausschreien möchte, aber genau weiß, dass sie sich lächerlich machen und ihr Gesicht verlieren würde. Eine Frau, deren Schmerz nur der versteht, der ihre Geschichte kennt. Aber wer will sie schon hören? Vielleicht ist sie einfach ein Sonderling, oder nicht ganz richtig im Kopf. Was hat sie denn schon zu sagen? Und dann ist sie ja leicht an den Rand zu drängen, wie alles in unserer Gesellschaft, was schwach ist, oder gescheitert, was kein Geld hat und keine Lobby, was trauert und krank ist, was man nicht sehen und hören will. Wer hat denn den Blindgeborenen am Straßenrand gesehen oder sehen wollen? Der Christus allein. Der macht die Blinden sehend. Für beides: Für die in Jesus Christus Mensch gewordene Güte und Gnade Gottes und für die Not des anderen Menschen. Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in die Welt gekommen, damit die, die nicht sehen, sehend werden und die, die meinen, den Durchblick zu haben, als Blinde dastehen. Solches hörten etliche der Pharisäer, die bei ihm waren, und sprachen zum ihm: Sind wir denn auch blind? Eine Frage, wie sie jedem von uns gut ansteht. Damit der Christus uns offene Augen geben kann. Nein, ganz blind sind wir ja nicht. Vielleicht nur auf einem Auge. Vielleicht haben wir von Manchem eine Ahnung. Eine Ahnung von der Güte Gottes, eine Ahnung von der Not anderer Menschen. Wärt ihr blind, sagt Jesus, dann hättet ihr keine Sünde. Wenn ihr aber sagt, wir sind sehend, dann bleibt eure Sünde. Wer nur Ahnungen folgt, kommt nirgendwo an. Wer nur im Trüben fischt, fängt nichts. Deshalb will das Gericht des Christus klare Verhältnisse, das heißt klare Sicht auf das Evangelium von Gottes Liebe und Gnade. Es soll nicht in die Hände, nicht in die Verfügbarkeit derer fallen, die blind bald ihren eigenen Interessen folgen und dann wieder anderen. Nicht die Interessen der Kirche und auch nicht die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit entscheidet, wem das Evangelium gilt und wem nicht. Das Evangelium liegt ausschließlich im Interesse und in der Gewalt des Gottes, der Mensch wird, um die Mühseligen und Beladenen zu suchen und zu erquicken. Und deshalb öffnet das Evangelium die Augen gerade für die Menschen, denen es in besonderem Maße gilt. Von einer Frau aus unserer Gemeinde habe ich vorhin erzählt. Sie ist kein Einzelfall. Gott sagt uns die Namen und die Adressen dieser Menschen nicht. Vielleicht würde das eine jener Wellen von Betroffenheit, Entrüstung und Hilfsbereitschaft auslösen, wie sie heute modern sind und doch niemandem helfen; am wenigsten dieser Frau. Denn sie braucht nicht unsere Betroffenheit und das leicht hingesagte Wort. Sie braucht Nachbarn, die ihre Not sehen und bereit werden, sich ihre Geschichte anzuhören und wenn es den ganzen Abend dauert. Sie braucht Menschen, die für sie sprechen und sich schützend vor sie stellen, wie der Christus das für den Blindgeborenen tut. Und deshalb gibt uns das Evangelium nicht Namen und Adressen, sondern es schenkt offene Augen. Es entwickelt unsere eigene Übersicht, Vorsicht, Rücksicht, und Einsicht im Umgang miteinander. Einsicht hoffentlich auch in die Zerbrechlichkeit unseres eigenen Lebens. Wie schnell findet sich einer aus der Mitte am Rand unserer Gesellschaft wieder. Wie schnell gibt es aus scheinbar ewig geordneten Verhältnissen ein böses Erwachen. Wie schnell werden aus denen, die andere disqualifizieren, solche, die selbst disqualifiziert sind. Gut, wenn wir dann den Christus finden, der uns nicht am Rand der Straße oder in der Ecke stehen lässt, sondern dem wir unser Leben trotz allem anvertrauen dürfen. Gut, wenn wir dann aber auch Menschen haben, die auf diesen Christus vertrauen und sehen gelernt haben, die statt moralisch abzuqualifizieren, Wege und Raum zum Leben anbieten. Die Frau, von der ich erzählt habe, braucht sie. Wir alle brauchen sie. Wir brauchen sie mitten in der Kirche: die Jünger Jesu Christi.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) |
Text:
(35)Es kam vor Jesus,
dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn? |