Liebe Leser,
der Theologe Karl Barth predigte am 18.04.1934 über unseren
Predigttext: „Ob wir Kirche sind, darüber haben wir nicht selber zu
entscheiden. Das können wir weder einfach voraussetzen, noch durch
irgendwelche Anstrengungen herbeiführen. Denken wir in dieser Stunde
sehr ernsthaft an die beiden Gestalten des Unheils, das immer
drohend vor der Tür steht, wo Kirchenmänner beieinander sind:
entweder es wird da geredet in jener entsetzlichen kirchlichen
Sicherheit, die so tut, als ob sie die Schrift und das Bekenntnis
und den Heiligen Geist dazu in der Tasche und nun bloß noch ihre
praktische Anwendung zu diskutieren hätte.
Oder es wird da geredet in jener zappelnden Aufregung, die den
lieben Gott mit allerhand Zurüstungen und Vorbereitungen sozusagen
beschwörend meint interessieren zu sollen und zu können für das, was
man eben im Schilde führt. Sind wir ein Konvent von solchen Sicheren
oder ein Konvent von solchen Aufgeregten, dann sind wir sicher nicht
Kirche. Diesem doppelten Unheil steht in ernster Klarheit gegenüber
als die einzige Möglichkeit gerade eines kirchlichen Konventes das,
was wir hier den guten Hirten sagen hören: Ich erkenne die Meinen
und bin bekannt den Meinen, wie mich der Vater kennt und ich kenne
den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Das ist die
Antwort auf die Frage, ob wir hier Kirche sind.“ (Karl Barth,
Predigt am 18.4.1934 in Osnabrück, TEH 10,17 f.)
Die Antwort auf die Frage, ob wir hier Kirche sind, ist Jesus
Christus selbst. Er ist der gute Hirte. Er und sonst keiner.
Evangelische Kirche braucht deshalb keine Leithammel, ob sie sich
nun Papst, Bischof, Regionalbischof, Dekan oder Pfarrer nennen. Wer
sich in solchen Ämtern zwischen den guten Hirten und die Gemeinde
stellt, und diese damit in den eigenen Schatten stellt, sorgt dafür,
dass die Gemeinde aufhört, Gemeinde des einzigen guten Hirten zu
sein.
Dann ist geschafft, was der Großinquisitor in Dostojewskis „Die
Brüder Karamasow zu Christus sagt: „... so hatten auch wir das
Recht, ein Geheimnis zu predigen und die Menschen zu lehren, wichtig
sei nicht der freie Entschluss ihres Herzens und nicht die Liebe,
sondern das Geheimnis, dem sie blind gehorchen müssten, selbst gegen
ihr Gewissen. Das haben wir getan. Wir haben deine Tat verbessert
und sie auf das Wunder, das Geheimnis und die Autorität gegründet.
Und die Menschen freuten sich, dass sie wieder geführt wurden wie
eine Herde und dass ihnen die furchtbare Gabe, die ihnen soviel Qual
gebracht hatte, endlich vom Herzen genommen war.“ (zitiert nach
Rainer Oechslen, GPM, 1/1991, Heft 2, S. 211)
Mietlinge nennt Jesus diejenigen, die mit denen, die eigentlich zum
guten Hirten gehören sollen, ihre eigene Schäferei aufmachen und
Hüter und Herr in eigener Sache sein wollen. Die mit der Gemeinde
des guten Hirten ihr eigenes Ding drehen wollen und auf und davon
sind, wenn es nicht klappt. Wer sich auf die verlässt, ist
verlassen. Ach, wir Menschen können nicht einmal unseres „Bruders
Hüter“ (1. Mose 4,9) sein, ja, nicht mal unser eigener. Schlag nach
bei Robert Gernhardt: „Ich über mich: … Ich sprach nachts: Es werde
Licht! Aber heller wurd’ es nicht. / Ich sprach: Wasser werde Wein!
Doch das Wasser ließ dies sein. / Ich sprach: Lahmer, du kannst gehn!
Doch er blieb auf Krücken stehn. / Da ward auch dem Dümmsten klar, /
dass ich nicht der Heiland war.“ (R. Gernhard, Gedichte 1954–1997,
Zürich 1999, 52f.)
Das kirchliche Amt, ob es nun Papst, Bischof, Regionalbischof, Dekan
oder Pfarrer heißt, hat deshalb nur eine Berechtigung und Aufgabe:
Auf den guten Hirten Jesus Christus hinzuweisen und jeden einzelnen
in der Gemeinde dort hinzuführen und darauf zu verweisen, was der
Heidelberger Katechismus formuliert: „Dass ich mit Leib und Seele,
im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen
Heilandes Jesu Christi eigen bin, der mich … erlöst hat und also
bewahrt, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von
meinem Kopf fallen kann, ja mir auch alles zu meiner Seligkeit
dienen muss.“ (Oechslen a.a.O.)
Deshalb ist das Predigtamt das höchste Amt in der Kirche. Es gewinnt
und hat Autorität nicht aus sich selbst, sondern indem es Anteil hat
am königlichen Wortamt Jesu Christi. Es bittet an Christi Statt:
Lasst euch versöhnen mit Gott (2. Kor. 5,20). Es kann daher niemals
autoritär sein. Denn die Autoritätsform des Evangeliums ist die
Bitte. Und neben dieser Autorität darf es in einer evangelischen
Kirche keine anderen Autoritäten geben. Hat die evangelische Kirche
das vergessen?
Hat sie es vielleicht auch deshalb vergessen, weil die Gemeinde
ihrem Hirten Jesus Christus nicht mehr zuhören will? Oder ist sie
bequem, ängstlich und feige geworden? Gerade dann wird sie anfällig
für Führungsansprüche der falschen Leute. Für den guten Hirten
besteht nämlich kein Zweifel, dass seine Herde, dass seine Gemeinde
aus keineswegs dummen und führungsbedürftigen Mitgliedern bestehen
soll und besteht. Denn sie kennen ihn und hören seine Stimme. Sie
merken genau, ob der, der ihnen predigt, ihnen den guten Hirten
predigt, oder das, was er selbst im Schilde führt. Sie merken genau,
ob der, der ihnen predigt, mit der Stimme des guten Hirten redet,
oder seine eigene Politik betreibt.
Martin Luther hat deshalb immer wieder betont, „dass eine
christliche Versammlung und Gemeinde Recht und Macht habe, alle
Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen“ (WA
11, 408–415) und hat sich genau auf diese Stelle bezogen. Gerade an
dieser Stelle wird aber auch deutlich, dass dieses Recht und diese
Macht einer Gemeinde nicht zukommt aus demokratischen Gründen. Es
wird ja heute für ein Menschenrecht gehalten, sich überall
einzumischen und mitzubestimmen und seine Bedürfnisse anzumelden und
wehe, wenn nicht flott reagiert wird. Und eine kopflose
Kirchenleitung scheint atemlos hinter allem her zu hecheln, was auf
den Marktplätzen von ihr gefordert wird.
Recht und Macht alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein-
und abzusetzen, kommt nur der Gemeinde zu, von der Jesus sagt: Die
Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den
Vater. Es ist also eine Gemeinde gemeint, die selbst auf die Stimme
des guten Hirten hört und eine innige Beziehung zu ihm hat - aus
freiem Entschluss ihrer Herzen und aus Liebe. Es ist eine Gemeinde
gemeint, die ihr Gewissen am guten Hirten geschult hat.
Deshalb findet Jesus es tragisch, wenn eine solche Gemeinde die
Freiheit einer solchen Beziehung zu ihm, dem guten Hirten, aufgibt
für den blinden Gehorsam gegenüber den Großinquisitoren und für die
Bequemlichkeit von diesen am Nasenring durchs Leben geführt zu
werden. Es ist tragisch, wenn eine solche Gemeinde lieber schweigt
und wegschaut und ihrem Gewissen den Mund verbietet; und statt auf
die Wahrheit und den guten Hirten zu schauen, lieber auf die
Insignien weltlicher und kirchlicher Macht schaut und denkt: Die
werdens schon wissen; die werdens schon richten. So passen die
Großinquisitoren und eine Kirche, die die Stimme des guten Hirten
nicht mehr hört, zusammen.
Die Antwort auf die Frage, ob wir Kirche sind, ist Jesus Christus
selbst. Wer ein Amt hat, hat den guten Hirten zu verkünden. Wer
unter der Kanzel sitzt, hört auf seine Stimme in Wort und Sakrament.
„Denn es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche
sei, nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres
Hirten Stimme hören. Denn so beten die Kinder: Ich glaube eine
heilige christliche Kirche.“ (Martin Luther) Das muss genügen. Wer
mehr Kirche will, bekommt weniger.
Mag sein, dass eine solche Kirche, und die in ihr sind, einmal stark
und einmal schwach sind. Sie folgen auch darin ihrem Herrn Jesus
Christus, dessen Weg über das Kreuz auf Golgatha führt. Mag es
Zeiten geben, in denen die Predigt auf taube Ohren stößt. Die Kirche
hat keine andere Autorität als die Autorität des bittenden Christus.
Man sagt: Ein Volk hat meistens die Herren, die es verdient. Die
Kirche hat einen Herrn, den sie nicht verdient. Der bittet um
Gefolgschaft unter Einsatz seines Lebens. Mit weniger sollten wir
uns nicht zufrieden geben.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Christus spricht:
11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte
lässt sein Leben für die Schafe.
12 Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht
gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht –
und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –,
13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.
14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen
mich,
15 wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse
mein Leben für die Schafe.
16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall;
auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und
es wird eine Herde und ein Hirte werden.
27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen
mir;
28 und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr
umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.
29 Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und
niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen.
30 Ich und der Vater sind eins. |