Predigt    Johannes 11/46-53   Judika   25.03.2007

"Auf dass sie eins seien"
(Von Vikar Jörg Mahler, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

„Die Juden sind schuld am Tode Jesu!“ – so hallte es jahrhundertelang von den Kanzeln, ob im Mittelalter oder in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Die Juden sind schuld am Tode Jesu – diese Behauptung war der Auslöser für eine grausame Judenfeindschaft der Christenheit: Man verfolgte die, die unseren Herrn und Erlöser ans Kreuz gebracht haben. Dabei berief man sich auf solche Texte wie unseren Predigttext.

Johannes erzählt, wie Mitglieder des Hohen Rates in Jerusalem beschließen, Jesus zu beseitigen. Sie hören davon, dass er Menschen geheilt, ja sogar Tote auferweckt hat. Und das schreckt sie auf: „Lassen wir ihn, dann werden sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer, und nehmen uns Land und Leute.“. Politisch plausibel ist diese Angst: Denn wenn immer mehr Menschen Jesus nachfolgen, dann könnte ein Unruheherd im Land entstehen, und dann würden die Römer eingreifen, und es würde das passieren, was einige Jahrzehnte später tatsächlich geschehen ist: Der Hohe Rat wird seiner Machtposition enthoben, der Tempel zerstört und das Volk zur Auswanderung ins Exil gezwungen. Also sagt sich der kalkulierende Politiker: „Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe. Dieser Unruhestifter Jesus muss weg – oder wir verlieren unsere Macht, und unser Volk verliert sein letztes Stück Selbstverwaltung.“.

Sind also die Juden schuld am Tode Jesu? Zum einen ist es doch irrsinnig, dass das für viele bis ins letzte Jahrhundert hinein die Rechtfertigung dafür war, Juden zu verfolgen: Geht das überhaupt, dass man die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, über Generationen hinweg? Und zum anderen: Waren es wirklich pauschal die „Juden“, die Jesus ans Kreuz brachten? Nein, es war eine kleine Gruppe von jüdischen Machthabern. Und ohne die Römer hätten sie nie ein Todesurteil vollstrecken können. Ohne die Römer? Nein, ohne einen bestimmten Römer, den Statthalter des Kaisers in Judäa. Also nicht: die Römer und die Juden sind schuld am Tode Jesu, sondern: Menschen sind schuld, die Angst vor Veränderung haben, die sich nicht einlassen wollen auf das Neue, das mit Jesus beginnt, Menschen, die an ihrer Macht kleben, die über Leichen gehen, um ihren eigenen Vorteil zu sichern – Menschen, die es damals gab, und Menschen, die uns auch heute nicht unbekannt sind. Diese Menschen brachten Jesus ans Kreuz, und sie bringen ihn noch heute ans Kreuz.

Johann Heermann fragt angesichts des Kreuzes Christi: „Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen?“, und er erkennt, was wir vorhin gesungen haben: „Ach, meine Sünden haben dich geschlagen; ich, mein Herr Jesu habe dies verschuldet, was du erduldet.“ (EG 81,3). Wir merken, dass die Frage nach der Schuld am Tode Jesu nichts Historisches ist, sondern offen und transparent für unsere Zeit und uns selbst.

Heute behauptet Gott sei's gedankt niemand mehr, die Juden hätten schuld am Tode Jesu. Aber dennoch gibt es in unserem Volk und weltweit eine latente Judenfeindlichkeit – man lausche nur einmal vielen Stammtischgesprächen, wo immer noch von einer jüdischen Weltverschwörung gesprochen und Juden als geldgierig abqualifiziert werden. Und wer kennt nicht die Vorurteile gegenüber anderen Völkern?: Die Polen stehlen, die Rumänen sind Tresorknacker, die Amerikaner sind Kriegstreiber, die Türken unterdrücken ihre Frauen. Wer einen Osteuropäer sieht, der hält seinen Geldbeutel fest und sein Blick verfinstert sich. Gleiches gilt aber auch umgekehrt: So nehmen beispielsweise viele Polen Deutschland durch die Brille der Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach wahr, so als wollten wir alle wie Frau Steinbach die Rückübertragung des nach dem zweiten Weltkrieg enteigneten Landes.
Wer dagegen Menschen anderer Nationen persönlich kennenlernt, der gewinnt einen anderen Blick. Während meines Auslandsstudiums in Rumänien ist mir z.B. viel Offenheit und Freundlichkeit begegnet, wovon mancher Deutsche sich eine Scheibe abschneiden könnte.

Wir können diesen Text von Johannes angesichts seiner Wirkungsgeschichte nicht lesen, ohne vor einer undifferenzierten Abqualifizierung anderer Nationen zu warnen! Daraus können Konflikte und Feindschaften entstehen! Theoretisch wissen wir darum, aber in vielen Gesprächen taucht dann doch eine gewisse Einseitigkeit auf. Mich rüttelt unser Predigtwort wach, mich aktiv dagegen zu wehren, wenn Völker pauschal verurteilt werden, oder wenn über Ausländer hergezogen wird. Ich fühle mich dazu aufgerufen, solchen Anfängen bei uns zu wehren – da wo es mir möglich ist!

Doch zurück zum Zentrum unseres Predigttextes, dem Ausspruch des Hohenpriesters: „Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“ Er ahnt nicht, wie wahr seine Aussage ist. Das Tiefgründige dieser Erzählung liegt darin, dass hier eine Handlung auf zwei Ebenen abläuft: Im Vordergrund steht der Bericht über die Beratung und den Beschluss des Hohen Rates, im Hintergrund geht es aber um die wahre Bedeutung des Sterbens Jesu. Hier wird sich zeigen, dass der Hohepriester Recht hat: Es ist besser, einer sterbe für das Volk, bevor sie alle verderben. Kaiphas wird zum „Propheten wider Willen“: Nur einer ist es, der das Volk im wahrsten Sinne des Wortes vom Verderben erlösen kann: nämlich der Sohn Gottes, der in diese Welt gekommen ist, Schuld und Tod auf sich nimmt, und sie im Kreuz überwindet.

Johannes kommentiert die Szene, die er uns erzählt, mit den interessanten Worten: Jesus sollte sterben, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen. Sein Tod, und das ist hier das Auffällige, hat also nicht nur eine individuelle Dimension für den einzelnen Glaubenden, nämlich Vergebung und Neubeginn. Vielmehr wird auch die Gemeinschaft der Menschen in den Blick genommen: Sein Tod soll sie zusammenbringen – die verstreuten Kinder Gottes.

Und tatsächlich: Die Botschaft von Kreuz und Auferstehung hat sie erreicht, die verstreuten Kinder Gottes. In kürzester Zeit hat sich das Christentum ausgebreitet und wuchs zu einer Weltreligion. Menschen wurden zusammengebracht, in eine neue Gemeinschaft gestellt, zusammengehalten von ihrem Herrn Jesus Christus, den sie bezeugen und dem sie begegnen in Wort und Sakrament.

Doch dann muss ein Johann Christian Nehring 1704 dichten: „Schaue die Zertrennung an“. Die zu einer Gemeinschaft Zusammengerufenen sind aufgespalten in viele Kirchen und Konfessionen, und erkennen sich z.T. gegenseitig nicht als Christen oder als Kirche an. Da erlebe ich, dass die katholische Kirche eine „ökumenische Trauung“ versagt, nur weil der katholische Partner nicht versprechen will, die Kinder im katholischen Glauben zu erziehen. Da höre ich, wie gemischtkonfessionelle Ehepaare darunter leiden, dass sie nicht gemeinsam zum Tisch des Herrn kommen dürfen, und so ihnen das tiefste Erleben der christlichen Gemeinschaft versagt bleibt. War Jesu Tod also letztendlich doch nicht dazu da, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen?

Ich frage mich, woran es liegt, dass die zerstreuten Kinder Gottes nicht zusammenfinden! Vielleicht liegt es daran, dass es auch in unseren Kirchen solche Hohenpriester und Ratsmitglieder gibt, die aus Furcht oder Überheblichkeit alles beim Alten lassen wollen. Da mag ein Kirchenfürst denken: Wenn wir die anderen anerkennen, dann verlieren wir ja unsere Exklusivität! Und damit verlieren wir auch Macht. Da mag ein Gemeindeleiter denken: Die anderen sind doch keine wirklichen Christen, wir können mit denen keine Gemeinschaft haben. Denn wir, wir haben uns alle wirklich zu Christus bekehrt und wir geben den Zehnten! Da mag ein Christ Angst davor haben, dass eine Beliebigkeit in die Glaubensaussagen einkehrt, wenn man alles gelten lässt.

Angesichts solcher menschlicher Ängste und Schwächen schöpfe ich zunächst einmal großen Trost und großes Vertrauen aus dem Evangelium, denn es heißt: Jesus wird die zerstreuten Kinder Gottes zusammenbringen, und nicht ich und nicht wir – das entlastet uns, und zugleich stimmt es uns hoffnungsvoll, dass Gott auch gegen den Augenschein wirken kann, dass er, während im Vordergrund vieles zum Verzweifeln aussieht, im Hintergrund Heilsgeschichte schreibt. Es ist die Kirche Jesu Christi, er ist ihr Haupt, und er allein vermag es, sie zusammenzuführen.

Und wenn ich aufmerksam beobachte, dann sehe ich, wie hier und dort auch ein Pflänzlein der Einheit aufgeht und gedeiht: Da treffen sich engagierte Christen zum ökumenischen Gespräch. Oder da tauscht sich ein Freikirchler mit einem Landeskirchler aus. Dabei lernt man plötzlich das Andere zu schätzen und entdeckt neue Dimensionen für seinen eigenen Glauben in der Tradition der anderen Kirchen. Ich persönlich schätze an der katholischen Tradition die feierliche Liturgie: Da sind Symbole und Rituale, die den Glauben spürbar machen, die nicht allein den Verstand ansprechen, sondern den Menschen ganzheitlich einbeziehen, ob durchs Bekreuzigen, Knien, den Weihrauch oder das Singen der feierlichen Messgesänge. Ich schätze an vielen Freikirchen, dass man deren Mitglieder eine Freude am Glauben ansieht, dass sie offen und einladend auf andere Menschen zugehen, und vielleicht mehr als andere versuchen, ihr Christsein authentisch zu leben. Und ich schätze an unserer lutherischen Tradition die Klarheit der Verkündigung und die Konzentration auf das Gotteswort und Jesus Christus.

Offenheit und Interesse sind die Bedingungen dafür, dass wir einander näherkommen. Bei dem anderen immer nur das Negative zu sehen, das nimmt ihn nicht ernst und führt nur tiefer in die Abgrenzung. Aus dem Gespräch heraus können wir gemeinsam unseren je eigenen Glauben vertiefen. Dabei müssen wir freilich der Gefahr widerstehen, die Grenzen zwischen den Konfessionen völlig zu verwischen und zu sagen: Wir glauben ja doch alle das Gleiche. Nein, da gibt es Unterschiede, und das mit gutem Grund! Unser Ziel kann kein profilloser Einheitsbrei sein! Aber diese Unterschiede dürfen nicht verhindern, sich gegenseitig als Teil der einen Kirche Jesu Christi wahrzunehmen und sich gegenseitig anzuerkennen. Damit ist das Ziel aller ökumenischen Bemühungen also keine Einheitskirche, sondern eine versöhnte Verschiedenheit von Kirchen, die gemeinsam ihren Herrn bezeugen, den Gekreuzigten und Auferstandenen, und die sich gemeinsam an seinem Tisch versammeln.

Wer Jesus Christus als den Blick behält, der die Kinder Gottes durch seinen Tod und seine Auferstehung zu einer Gemeinschaft zusammenführen will, der ist auf dem Weg zu einem Miteinander der Konfessionen unterwegs. Und durch ihn wirkt Gott, der sich seine eine Kirche baut und einst zusammenführen wird, denn Gott ist da am Werke, wo Menschen die Erfahrung machen, dass sie Teil der einen allumfassenden Kirche sind. Diese Erfahrung und den lebendigen Austausch mit Schwestern und Brüdern anderer Konfessionen schenke Gott uns allen.

Vikar Jörg Mahler  (Hospitalkirche Hof)

Text: 

46 Einige aber von ihnen gingen hin zu den Pharisäern und sagten ihnen, was Jesus getan hatte.
47 Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen.
48 Lassen wir ihn so, dann werden sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute.
49 Einer aber von ihnen, Kaiphas, der in dem Jahr Hoherpriester war, sprach zu ihnen: Ihr wisst nichts;
50 ihr bedenkt auch nicht: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.
51 Das sagte er aber nicht von sich aus, sondern weil er in dem Jahr Hoherpriester war, weissagte er. Denn Jesus sollte sterben für das Volk
52 und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen.
53 Von dem Tage an war es für sie beschlossen, dass sie ihn töteten.
 


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