Liebe Leser,
letzte Worte haben es in sich. Sie werden zum Abschied gesprochen;
zum Abschied auf Zeit oder zum Abschied für immer. Deshalb sind wir
geneigt, solchen Worten besonderes Gewicht zuzuschreiben. Versammelt
sich da nicht alle Bedeutung, die ein Mensch in seinem Leben fand?
Es gibt Abschiedsworte, in denen der Scheidende ein Stück von sich
selbst zurücklässt; letzte Worte, wie ein kostbares Vermächtnis. Im
Vermächtnis steckt das Wort „Macht“, und manchmal der Versuch, Macht
über die Nachkommen zu gewinnen im Guten, wie im Bösen.
„Mehr Licht!“, soll Goethe auf seinem Sterbebett gerufen haben. „Wir
sind Bettler, das ist wahr!“, sollen die letzten Worte Luthers
gewesen sein. Wenn ich mich recht erinnere, war es der Komiker W.C.
Fields, der auf seinen Grabstein schreiben ließ: „Eigentlich wäre
ich lieber in Pittsburgh.“
Auch bei Jesus ist die Quellenlage nicht eindeutig: Nach den
Evangelisten Markus und Matthäus starb er mit einem Schrei (Mk
15,37), nach Lukas mit dem Psalmwort: „In deine Hände befehle ich
meinen Geist“ (Lk 23,46). Beim Evangelisten Johannes sagt er: „Es
ist vollbracht, neigte das Haupt und verschied“ (Joh 19,30).
Wer hat sich nun richtig erinnert? Markus und Matthäus, oder Lukas,
oder Johannes. Hat Goethe das wirklich gesagt, oder Luther? Hat sich
mit dem Komiker Fields vielleicht jemand noch einen letzten Scherz
erlaubt? Steckt in solchen letzten Worten nicht manchmal der Versuch
der Nachkommen, Macht über die Verstorbenen zu gewinnen und sie dort
einzuordnen, wo sie ihrer Meinung nach hingehören? Ist Erinnerung
nicht auch beständige „Vergangenheitsbewältigung“, in der wir
notfalls mit Gewalt dafür sorgen, dass unsere Vergangenheit stimmt;
uns nicht weh tut, sondern ein guter Teil von uns wird? Erinnern Sie
sich nur an so manche Familienfeier, wo beim Erinnern an gemeinsame
(!) Vergangenheit schnell der Streit darüber ausbricht, wie etwas
„wirklich“ gewesen war. Einer eifert darum, in Erinnerung zu bleiben
und ein anderer hat Gründe, Erlösung zu suchen im gnädigen
Vergessen.
Ach, die eigene Erinnerung lässt uns aus den verschiedensten Gründen
schnell im Stich. Und deshalb ist das „ehrende Gedenken“, das an
Gräbern den Verstorbenen für „immer“ versprochen wird, nur eine von
vielen frommen Lügen, die sich vornehmlich bei solchen Anlässen
versammeln. Dazu gehören auch Volkstrauertage und andere Gedenktage
der Geschichte, an denen Erinnerungen wachgerufen werden, die viele
schon für einen Tag als Zumutung empfinden. Wie vielen wäre es
recht, wenn zu solcher Geschichte endlich das letzte Wort gesprochen
wäre.
Letzte Worte sind also alles andere als eindeutig. Und deshalb
spielen sie auch in den Evangelien eine eher untergeordnete Rolle;
nicht nur deshalb, weil mit ihnen die Geschichte des Jesus von
Nazareth nicht zu Ende ist. Jesus hat besonders im
Johannesevangelium Abschiedsreden gehalten um seinen Jüngern sich
und seine Sendung zu deuten. Unser heutiger Predigttext gehört dazu.
Der Christus war nicht der Meinung, dass das reicht.
Denn was wären seine Gestalt, seinen Taten und seine Worte heute
anderes als historische Zeugnisse? Futter für die
Historisch-Kritischen, die manch Erhellendes zu sagen haben, wenn
sie Zeitbedingtes in den Glaubensbekenntnissen und Texten aufzeigen
und viel Irreführendes, wenn sie dann mir nichts - dir nichts, auf
ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen kommen, und dann als
„historische Wahrheit“ verkünden, welche „wirkliche“ Vergangenheit
sich hier dem erstaunten Zuhörer zeigt. Nein, auch der von allen
theologie- und philosophiegeschichtlichen Übermalungen befreite
historische Jesus, kann niemals der wahre Jesus sein. Botho Strauß
dazu: „Die Ausgräber antiker Städte haben nur eine Verlassenheit
zutage gefördert, niemals eine Vergangenheit.“ („Fragmente der
Undeutlichkeit“, Hanser, 1989, S. 35) Die ausgegrabenen Knochen
haben kein Fleisch mehr. Man muss es rekonstruieren, so wie man
Totenschädeln heute neue Gesichter aus Plastilin verpasst. Und
deshalb ist der vom christlichen Glaubensbekenntnis befreite
historische Jesus dem Zeitgeist der allerliebste. Man kann mit ihm
machen, was man will und ihm das Gesicht verpassen, das zu einem
passt. Und kann dann – bei Bedarf - auch noch so tun, als sei dieses
Gesicht sozusagen „wissenschaftlich erwiesen“. Deshalb ist gerade
der historische Jesus heute nicht nur in evangelischen
Bildungswerken, sondern auch bei den Spirituellen wieder schwer
angesagt.
Aber der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in
meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern,
was ich euch gesagt habe.
Jesus von Nazareth geht, wird Teil der Menschheitsgeschichte, um im
Heiligen Geist, durch den er wirkt und spricht, um so gewaltiger
gegenwärtig zu sein. Der Heilige Geist weckt nicht sentimentale
Erinnerungen an einen gläubigen Juden und einen großartigen
Philosophen und Lehrer; er vergegenwärtigt das Reden und Handeln des
Christus damals und heute und in alle Ewigkeit. Er vergegenwärtigt
den historischen Jesus von Nazareth als den Christus. Der Heilige
Geist wird damit auch zum wirkmächtigen Gegner all derjenigen, die
ihm Gewalt antun möchten und ihn auf ihre Weise subsumieren wollen
in ihre theologischen, spirituellen, therapeutischen und moralischen
Systeme. Aber dort lässt er sich nicht einsperren. Der Heilige Geist
weht wo er will. Und er weht in Fülle. „O welch eine Tiefe des
Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!“ (Römer
11/33)
Und er weht denen ins Gesicht, die den Christus und den Glauben mit
letzten Worten in den Schubfächern der Geschichte verschwinden
lassen wollen. Der Christus behält sich vor, sich selbst immer
wieder sehr lebendig in Erinnerung zu rufen. Der Heilige Geist ist
ein Freigeist im besten Sinn des Wortes und doch zugleich – und
gerade deshalb - ein unbedingter Diener des Evangeliums, in dem alle
Freiheit – auch die unsere - beschlossen liegt. Man kann ihn deshalb
leicht von anderen Geistern dadurch unterscheiden, dass er den
Christus und sein Wort predigt und in Erinnerung ruft und sonst gar
nichts.
Der Heilige Geist sorgt dafür, dass die Worte des Christus etwas zu
sagen haben und aufleuchten in den Gefahren der Zeit. Deshalb ist
die vornehmste Bitte der Gemeinde an Pfingsten, dass Gott uns durch
seinen Heiligen Geist sein Wort immer wieder neu aufschließt, damit
es uns Wegweisung geben kann; damit es nicht aufhört für jeden
persönlich und für uns als christliche Gemeinde mahnend und
tröstlich zu sprechen.
Wen der Heilige Geist ermahnt, den lässt er nicht abstumpfen. Den
lässt er auch die traurigen Gedenktage der eigenen und gemeinsamen
Geschichte aushalten, weil es besseren Trost gibt, als das
Vergessen. Hier ist der Christus, dessen Liebe und Gnade die Macht
haben, alle Wunden zu heilen. Der bewältigt Vergangenheit ohne
Gewalt. Wen der Heilige Geist ermahnt, den lässt er nicht
abstumpfen. Den lässt er nicht taub werden für die Seufzer der
Kreatur und die Schreie der Schwachen, die keine Lobby haben und
nicht im Fernsehen gezeigt werden.
Ausleger haben immer wieder darauf hingewiesen, dass in den
Abschiedsreden Jesu die Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiliger
Geist eine überragende Rolle spielt. Der Heilige Geist ist das
vinculum caritatis, das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn. Und
es weitet sich gleichsam und schließt die Jünger und uns mit ein.
Deshalb muss gelten, dass der Geist, der seine Jünger an Christus
und sein Wort erinnert, gleichzeitig der Geist ist, mit dem sich der
Christus an uns erinnert.
Deshalb ist bei ihm nicht nur Antwort auf die Frage zu finden, wer
Gott ist, sondern auch Antwort auf die Frage, wer wir eigentlich
sind. Da der Heilige Geist der Tröster ist, kann diese Antwort nur
tröstlich ausfallen. Betrachten wir vor diesem Hintergrund die
Gedanken, die wir über uns selber haben und die Gedanken, die andere
über uns haben, getrost als etwas Vorletztes. Ebenso die letzten
Worte, die auf Totenbetten und an Gräbern gesprochen werden. Wir
bleiben nicht in den Erinnerungen unserer Nachkommen. Aber davor
muss unser Herz sich weder fürchten noch erschrecken. Wir bleiben
dem Christus im Heiligen Geist in Erinnerung. Und das sind nicht
Worte, wie sie uns durch den Kopf gehen, wenn wir uns erinnern.
Worte, die Gott denkt und spricht rufen ins Leben.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Christus spricht:
25 Das habe ich zu euch geredet, solange
ich bei euch gewesen bin.
26 Aber der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird
in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles
erinnern, was ich euch gesagt habe.
27 Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht
gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und
fürchte sich nicht.
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