Liebe Leser,
es gehört zum Wesen der Liebe, dass sie Kreise zieht. Wer heiratet,
erweitert seine Familie um eine weitere. Und nachdem die Eltern den
ersten Schrecken darüber überwunden haben, dass der Sohn oder die
Tochter anfangen Gedichte zu schreiben, von Liebe zu reden und
jemand mit nach Hause zu bringen, wird die Freude überwiegen, zu den
eigenen Kindern noch weitere hinzuzugewinnen. Spätestens bei den
Enkeln blicken Oma und Opa gelassen und gespannt auf die, die den
Kreis der Familie überraschend erweitern und bereichern. Beste
Freunde bleiben kaum beste Freunde, wenn mit deren Freundeskreis
nichts anzufangen ist. Im anderen Fall gewinnt man mit einem Freund
gleich weitere hinzu. Es gehört zum Wesen der Liebe, dass sie Kreise
zieht.
Mit dem allmächtigen Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde,
verhält es sich nicht anders. Seit das Christuskind, sein
menschgewordenes Wort, in der Krippe von Bethlehem liegt, beginnt
Gottes Liebe Kreise zu ziehen. Der Christus wird keine Gelegenheit
auslassen, auf das enge Band der Liebe zwischen sich und seinem
himmlischen Vater hinzuweisen. Nicht einmal dem Teufel
höchstpersönlich gelingt es, zwischen ihn und den Vater auch nur ein
Blatt Papier zu bringen. Sie bleiben unzertrennlich bis zuletzt.
„Zuletzt“ meint die Situation, in der Jesus die Worte unseres
heutigen Predigttextes spricht. Da hat er sich schon für die
Heimreise gerüstet, an die wir am kommenden Himmelfahrtstag denken,
und rüstet nun noch die Jünger aus mit dem nötigen Marschgepäck für
ihre eigene Heimreise. Denn nichts anderes ist unser Christenleben
auf dieser Welt.
Jesus weist die Jünger deshalb frei heraus darauf hin, dass seine
Mission erfüllt ist, da durch ihn die Jünger längst in den Kreis und
in das Kraftfeld der Liebe Gottes eingetreten sind, das zwischen ihm
und dem himmlischen Vater besteht. Das geht so weit, dass der
himmlische Vater schon mal vergisst, zwischen seinem geliebten Sohn
und den Jüngern zu unterscheiden. Er liebt die Jünger, als wären sie
seine eigenen geliebten Töchter und Söhne. Deshalb brauchen sie den
Christus als den, der für sie bittet, eigentlich nicht mehr, denn er
selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt,
dass ich von Gott ausgegangen bin. Der Christus, der vom Vater in
die Welt ausgegangen ist, kehrt zu seinem himmlischen Vater zurück
und bringt jede Menge neue Familienmitglieder in die Familie Gottes
mit. Die lehrt er deshalb künftig zu beten: Vater unser. So dürfen
nur seine Töchter und Söhne mit dem Allmächtigen reden.
Diese Worte der Einheit und Gottesunmittelbarkeit sind von
mystischer Größe und Macht. Zu verdanken haben wir diese Einheit
aber nicht unserer Anstrengung und unserem Aufstieg zu Gott, sondern
der Anstrengung des Christus und seinem Abstieg zu uns. Zu verdanken
haben wir diese Einheit nicht unserer Gottsuche, sondern Christus,
in dem Gott uns gesucht und gefunden hat.
Deshalb schreibt Meister Eckhart: „Es dünkt viele Leute, sie müssten
große Werke in äußeren Dingen tun, wie Fasten, Barfußgehen und
dergleichen mehr, was man Bußwerke nennt. Die wahre und allerbeste
Buße aber, mit der man kräftig und in höchstem Maße Besserung
schafft, besteht darin, dass der Mensch sich gänzlich und vollkommen
abkehre von allem, was nicht völlig Gott … ist, und sich gänzlich
und vollkommen seinem lieben Gott zukehre in einer
unerschütterlichen Liebe, dergestalt, dass seine Andacht und sein
Verlangen zu ihm groß seien. … Auch soll sich der Mensch gewöhnen,
sich in allen seinen Werken allzeit in das Leben und Wirken unseres
Herrn Jesus Christus hineinzubilden, in all seinem Tun und Lassen,
Leiden und Leben, und halte hierbei allezeit ihn vor Augen, so wie
er uns vor Augen gehabt hat. (Reden der Unterweisung 16, Quint, S.
76)
Das ist christliche Spiritualität! Und wir merken leicht den
Unterschied, wenn wir diese Woche im SPIEGEL den erhellenden Essay
von Martin Seel lesen mit dem Titel: „Wallfahrt durch das Ich“. Er
schreibt: „Im Gemischtwarenladen der Lebenshilfe ist Spiritualität
aller Sorten gefragt, wobei „Spiritualität“ alles umfasst, was die
Kundschaft mit einem Gefühl der Bedeutsamkeit des eigenen Seins
versorgt.“ (SPIEGEL Nr. 20/2009, S. 155) Zitat Ende. Die
Bedeutsamkeit des eigenen Seins hat man früher einmal z.B. mit der
Karriereleiter, dem fetten Auto vor der Villa und dem Bankkonto
nachgewiesen. Wenn nun auch „Spiritualität“ diese Bedeutsamkeit
steigern hilft, kann man zurecht von „spirituellem Materialismus“
sprechen. Und es kann einem nur schlecht werden, wenn auch die
Kirche anfängt, sich auf diesem Markt zu tummeln und „Spiritualität“
fett ins Schaufenster zu hängen. Ich habe deshalb - bis heute
freilich umsonst - dafür plädiert, dieses Wort von der kirchlichen
Speisekarte zu nehmen und durch den Begriff des „geistlichen Lebens“
zu ersetzen. Um Gottes Willen! In diesem Gemischtwarenladen der
Lebenshilfe hat die Kirche nicht das Geringste verloren. Denn in der
Kirche geht es nicht um die Bedeutsamkeit des eigenen Seins, sondern
um die Bedeutsamkeit Gottes. Das ist kein kleiner, sondern der
entscheidende Unterschied.
Eine Kirche, die diesen Unterschied vergisst, hat ganz
offensichtlich die Angst eingeholt, vor der Jesus seine Jünger
warnt. Und alles spricht dafür, dass diese Angst in der Kirche heute
zu ihrem tiefen Schaden regiert: Die Angst vor der eigenen
Bedeutungslosigkeit. Und deshalb wird eifrig daran gebastelt, die
eigene Bedeutsamkeit zu steigern. Kein Thema, kein geschichtliches
Ereignis, keine Katastrophe ist zu schade oder zu ungeeignet, um
besonders von der evangelischen Kirche „spirituell“ vereinnahmt zu
werden. Und wenn sie damit in die Zeitung oder ins Fernsehen kommt,
hat sie es geschafft und hält ihre mediale Präsenz für das
Qualitätsmerkmal kirchlicher Arbeit schlechthin.
Eine solche Kirche ist im Sinne des Evangelisten Johannes ganz
Kosmos, ganz Welt, ganz Finsternis. Sie versucht sich selbst Sinn,
Bedeutung und Ziel zu sein. Nur vor diesem Hintergrund sind Sätze
aus Kirchenpapieren zu verstehen, in denen zu lesen ist, man wolle
wieder mehr Menschen in der Kirche beheimaten. Aber ihr, als Töchter
und Söhne Gottes wisst, dass die Kirche auf dieser Welt nur Herberge
sein kann; Rastplatz auf dem Heimweg zu unserem himmlischen Vater.
Beheimatet sind wir in Christus und durch ihn in Gott.
Aber selbst eine angstgesteuerte Kirche hat unser Verständnis. Denn
die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit ist uns nicht fremd.
Welt, Kosmos, Finsternis springen auch uns immer wieder an. In
hundert Jahren ist alles vorbei, sagen wir fröhlich. Und halten es
doch am Bett eines Sterbenden oft nicht aus, weil uns die Wahrheit
an die Kehle springt, dass auch für uns schon ein Plätzchen auf dem
Friedhof an der Plauener Straße wartet und das hoch und heilig
versprochene immerwährende Angedenken nicht einmal für den gilt, der
es in die Geschichtsbücher schafft. Die gewaltigen leuchtenden und
finsteren Massen, die in der eisigen Kälte des Firmaments ihre Bahn
ziehen, sind gleichgültig gegenüber unserem Schicksal, unseren
Hoffnungen und Tränen. Und wir kennen die Panik, in unserem so
verdammt kurzen Leben an unserem Lebensentwurf, an unseren
Ansprüchen, Wünschen und Zielen gescheitert zu sein. Bald schon
wird’s eng. Angst hat mit Enge zu tun. In der Welt habt ihr Angst.
Es gehört zum Wesen der Liebe, dass sie Kreise zieht, immer weiter,
unaufhaltsam. Mit dem allmächtigen Gott, Schöpfer des Himmels und
der Erde, verhält es sich nicht anders. Seit das Christuskind, sein
menschgewordenes Wort, in der Krippe von Bethlehem liegt, beginnt
Gottes Liebe Kreise zu ziehen. Lehrt uns, unsere Welt und unser
Leben noch einmal neu und anders zu verstehen. Führt uns in die
Weite, in der nicht der gestirnte Himmel über uns, sondern Gott
selbst Horizont unseres Lebens ist. Dadurch wird unsere Welt und wir
selbst noch kleiner und bedeutungsloser, als beim Blick in den
Himmel. Dadurch verlieren unsere Ansprüche, Wünsche und Ziele jede
Bedeutung. Aber, o Wunder, wir finden uns wieder im Kreis seiner
Lieben, als Gottes geliebte Töchter und Söhne. Dort dürfen wir
„Vater unser“ sagen. In diesem Vater ist alles: Gestern, heute und
morgen, die alte und die neue Welt, das Leben schlechthin. Dort sind
wir aufgehoben mit unserem kleinen Leben, mit unserem Dank und
unseren Klagen. Darum sollen wir uns gänzlich und vollkommen Gott
zukehren in einer unerschütterlichen Liebe, dergestalt, dass unsere
Andacht und unser Verlangen zu ihm groß seien. … Nichts ist sicherer
als das Dach zweier Hände im Gebet.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Christus spricht:
22 Und auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich
will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure
Freude soll niemand von euch nehmen.
23 An dem Tag werdet ihr mich nichts fragen.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas
bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben.
24 Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so
werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei.
25 Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Zeit, dass ich
nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus
verkündigen von meinem Vater.
26 An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage
euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten will;
27 denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und
glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin.
28 Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich
verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.
29 Sprechen zu ihm seine Jünger: Siehe, nun redest du frei heraus
und nicht mehr in Bildern.
30 Nun wissen wir, dass du alle Dinge weißt und bedarfst dessen
nicht, dass dich jemand fragt. Darum glauben wir, dass du von Gott
ausgegangen bist.
31 Jesus antwortete ihnen: Jetzt glaubt ihr?
32 Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr
zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst.
Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.
33 Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In
der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt
überwunden.
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