Liebe Leser,
am vergangenen Sonntag war in der ARD unter dem Titel „Gott und
die Welt“ ein Bericht über die Grabeskirche in Jerusalem zu sehen.
Diese teilen sich sechs christliche Konfessionen, deren Vertreter
sich seit Jahrhunderten darum streiten, wem die Kirche nun
eigentlich gehört, wer wen und wann durch die Kirche führen darf und
welche Putzmittel zur Reinigung der Kirche zu verwenden sind. Da
kommt es ab und an schon mal zu Handgreiflichkeiten unter Brüdern.
Damit im Streitfall nicht einer den anderen aussperrt, hat man sich
darauf geeinigt, den Kirchenschlüssel einem ehrenwerten Muslim
anzuvertrauen, der früh auf und abends wieder zusperrt. An seinem
Lächeln war zu sehen, was er von dieser christlichen Gesellschaft
hält, die sich auch nach zweitausend Jahren immer noch um Jesu
letztes Hemd zu raufen scheint.
In dieser Woche erschoss ein Mann im Landgericht Landshut seine
Schwägerin und dann sich selbst. Es ging um einen langjährigen
Prozess, den mehrere Geschwister um das Erbe der Eltern in Höhe von
100.000 Euro führten und dessen Ende nicht abzusehen war.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich die Treppe hinaufging
zur Wohnung der verstorbenen Mutter, wo ich bestellt war um die
Trauerfeier zu besprechen. Es war schon unten zu hören, wie sich die
versammelten Kinder um den Hausrat der Mutter stritten, die noch
nicht einmal unter der Erde war. „Herr Pfarrer“, sagte bei anderer
Gelegenheit der Sohn eines Verstorbenen nach der Bestattung zu mir,
sie haben gesagt, mein Vater hätte einen Sohn gehabt. Ich bin schon
lange nicht mehr sein Sohn. Wir haben seit Jahren kein Wort mehr
miteinander geredet.“ Kein Einzelfall. Streit bis ins Grab.
Versöhnung nicht möglich. Nicht ums Verrecken.
Kaputte Verhältnisse, die nun auch nicht mehr geheilt werden können,
sondern auf dieser Welt im Bösen bloß aufhören, als wollten sie sich
für die Ewigkeit behaupten. Und manchmal passiert es ja auch, dass
der Hass der verstorbenen Eltern die Kinder in Verhältnissen bindet,
in denen wieder Mord und Totschlag herrscht.
Habt ihr sie gesehen, die Marienversammlung unter dem Kreuz des
sterbenden Christus und den einzigen Jünger Johannes, der nicht wie
die anderen längst das Weite gesucht hat? Am Ende bleiben nur die
Lieben da. Nur die Liebe hat keine Angst vor dem Tod. Deshalb gibt
sie sich dort in besonderer Weise zu erkennen. Und das gilt auch für
den, der am Kreuz hängt und stirbt.
Der ist ja alles andere, als mit sich selbst beschäftigt; dämmert
nicht dem Unvermeidlichen entgegen. Der sterbende Christus ist
hellwach. Noch in den letzten Minuten seines Lebens widmet er sich
seiner Mission. Wo alles zu spät zu sein scheint, wo alle
Verhältnisse enden, stiftet der sterbende Christus neue
Lebensverhältnisse: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht
er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an
nahm sie der Jünger zu sich.
Da beginnt, was Jesus über sich vom Weizenkorn erzählt, das in die
Erde fällt und stirbt und Frucht bringt (Joh. 12/42). Da vollzieht
Jesus zeichenhaft das neue Gebot, das er seinen Jüngern hinterlässt:
Dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe (Joh 13,34). Mit
den Familienbanden, die am Kreuz zerbrechen, hält Jesus sich nicht
auf. Mag man bis auf den heutigen Tag die Familie als Keimzelle der
Gesellschaft beschwören und von ihrer Hochschätzung und Stärkung
notorisch weiter die Erlösung von gesellschaftlichen Problemen
erwarten - der Geschichte vom Brudermord am Anfang der Bibel zum
Trotz. Jesus war immer der Meinung, dass die Familie damit heillos
überfordert ist.
Und deshalb stiftet Jesus unterm Kreuz eine neue Familie, die
familia dei, die Familie Gottes. Wir sagen nicht zu viel, wenn wir
festhalten, dass sich die Keimzelle der neuen Gemeinschaft, der
neuen Bande, die der Christus zwischen Menschen stiftet, dass sich
damit die Keimzelle der Kirche nirgendwo anders, als unter seinem
Kreuz befindet. Was die Jünger an Pfingsten vom Heiligen Geist
beflügelt der Welt verkünden, ist dann auch niemand anders, als der
gekreuzigte Christus. Unter seinem Kreuz ist der Kraftort, der
zerstörte Verhältnisse heilt und neu ordnet und uns zur Gemeinschaft
zusammenschließt. Und deshalb wird und muss eine Kirche, die diesen
Kraftort vergisst und verlässt, heillos untergehen.
Mag man diesen Ort ungemütlich finden. Er ist so ungemütlich wie die
streitenden Glaubensbrüder in der Grabeskirche von Jerusalem; so
ungemütlich wie die Erben, die sich um das Erbteil der Eltern
prügeln oder sich erschießen; so ungemütlich wie der unausrottbare
Streit und Hass unter den Menschengeschwistern, der nicht einmal am
Grab aufhören will. Wer den Gekreuzigten betrachtet, schaut sich in
den Spiegel. Hoffentlich tun wir’s dann auch.
Und halten uns nicht wieder mit der scheinheiligen Debatte auf, ob
man denn den Tod Jesu als Sühnetod oder Opfertod verstehen dürfte,
wie das auch in den Liedern unseres Gesangbuchs anklingt. Das wäre
doch schrecklich und schrecklich unzeitgemäß. Ja, so diskutieren die
hochmögenden Modernen, die über das Kreuz Christi mit der gleichen
moralischen Entrüstung wie über die Prügelstrafe für Kinder
diskutieren und in dieser Welt nach wie vor nichts geregelt kriegen.
Nein, wir brauchen nicht den Amokläufer von Winnenden, um zu
begreifen, dass unsere Welt und unser Leben vom Drang in die
Verhältnislosigkeit, den die Bibel Sünde nennt, elementar bedroht
ist. Und dass wir diesem Drang oft so erbärmlich wenig
entgegenzusetzen haben, schon in der eigenen Familie. Der Tod ist
die Vollendung der Verhältnislosigkeit, denn im Tod hören alle
unsere Verhältnisse auf.
Da ist es doch tröstlich, den Christus dort zu finden und in ihm
Gott, der sich so tief an den Endpunkt unserer Verlorenheit hinunter
beugt. Nicht ohnmächtig, sondern entschlossen, dort ganz unten neue
Verhältnisse zu schaffen. Neue Verhältnisse, die selbst seinen
himmlischen Vater mit einer Menschheit versöhnen, die nach wie vor
mehrheitlich glaubt, sich wie Pest und Cholera aufführen zu müssen.
Das Kreuz des Christus und nichts anderes ist deshalb der Punkt in
der Menschen- und Gottesgeschichte, an dem die Macht aller
Verhältnislosigkeit gebrochen wird. Es ist Wendepunkt und Kraftort,
der zerstörte Verhältnisse heilt und neu ordnet und uns zu neuer
Gemeinschaft zusammenschließt. Das Kreuz ist Zeichen der Hoffnung
für eine nur scheinbar gottverlassene Welt. Es ist deshalb Ort
grundlegender Besinnung und Umkehr.
Wäre es nicht schön, wenn unser eigener Tod einmal keine Horde von
unversöhnlichen, schießwütigen Streithammeln hinterlassen würde und
wir es schaffen könnten, neue und gute Verhältnisse zu hinterlassen
für die kommenden Generationen? Wo wäre ein besserer Ort und wo
könnte uns Besseres dazu einfallen, als unter dem Kreuz unseres
Herrn Jesus Christus?
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
16 Da überantwortete Pilatus ihnen Jesus, dass
er gekreuzigt würde.
Sie nahmen ihn aber
17 und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt
Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha.
18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten,
Jesus aber in der Mitte.
19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das
Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der
Juden.
20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus
gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in
hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache.
21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib
nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der
König der Juden.
22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich
geschrieben.
23 Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine
Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu
auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem
Stück.
24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen,
sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift
erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider
unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das
taten die Soldaten.
25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter
Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.
26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er
lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein
Sohn!
27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und
von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war,
spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet.
29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit
Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den
Mund.
30 Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist
vollbracht!, und neigte das Haupt und verschied.
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