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       Liebe Leser, 
      über der Erzählung von der Kreuzigung, wie sie Johannes erzählt, liegt ein 
      fast unwirklicher Zug. Ist das wirkliches Leiden und Sterben? Wir hören 
      nichts von Qualen und Schmerzen, von Tränen und Verzweiflung. Kein Schrei 
      aus der Gottverlassenheit zerreißt die Luft und das Herz. Hat Johannes 
      nicht gesehen, was die anderen Evangelisten gesehen haben? 
       
      Unwirklich kommt er uns vor, der Gekreuzigte. Wie ein Schwerarbeiter, und 
      ein souveräner und erhabener dazu. Ein Königstitel steht über seinem Kreuz 
      in allen drei Sprachen der damaligen Welt. Die oberste weltliche Macht 
      selbst, in der Person des Pilatus sorgt dafür, dass er stehen bleibt. 
       
      Ja, was ist das für eine Kraft, die den Gekreuzigten fähig macht, sich 
      jetzt kurz vor seinem Tod, noch den Seinen zuzuwenden? Er fügt und führt 
      sie zusammen: Mutter und Tante, Jünger und Jüngerin. Noch im Sterben 
      schafft Jesus neue Verhältnisse, wo die alten zu Ende gehen. Ach, das 
      möchte ich auch können, wenn ich als Pfarrer an so manchem Grab stehe und 
      sehe, wie hier alles zusammenbricht und dort die Hinterbliebenen einen 
      alten Streit nicht mal am Grabe begraben können. 
       
      Betrachten wir nur einmal, was sonst noch um das Kreuz herum geschieht. 
      Das Losen um Jesu Gewand geschieht nicht, um unsere Abscheu vor solcher 
      Pietätlosigkeit zu erregen, sondern dass die Schrift erfüllt wird. Deshalb 
      nimmt Jesus auch klaglos den Essig, bevor er seine letzten Worte spricht. 
      Worte nach schwerer Arbeit, Worte, die einer spricht, der ans Ziel gelangt 
      ist: Es ist vollbracht. Und dann fällt er dem Tod in die Arme. Da neigt er 
      das Haupt und verschied.  
       
      Wenn das nicht unwirklich ist. Unwirklich, wenn wir unsere Erfahrungen mit 
      dem Leiden und Sterben betrachten. Beides schieben wir weg, solange es 
      geht. Wir vermeiden, wenn es geht, den Kontakt zu Menschen, die solches an 
      sich tragen. Oft seufzen und klagen wir schon, bevor uns ein solches 
      Schicksal ereilt. Wollen von Gott nichts mehr wissen, angesichts des Leids 
      in der Welt. Kennen das innere und äußere sich Auflösen in Tränen, kennen 
      die Palette der Gefühle von dumpfer Verzweiflung bis zu brennender Wut. 
       
      Kann uns da der souverän und erhaben sterbende Christus, wie Johannes ihn 
      gesehen hat, ein Trost sein? Ist der Abstand zwischen seiner 
      Leidensfähigkeit, seiner Leidensbewältigung und unserer nicht gar zu groß? 
       
      Vielleicht haben sie auch schon einmal einen 
      Menschen kennen gelernt, der mitten im Leben steht, in seiner Familie und 
      Arbeit aufgeht, offen und sympathisch ist, dass sie nicht glauben wollen, 
      was dieser Mensch ehr beiläufig erzählt. Erzählt dieser Mensch also ehr 
      beiläufig, dass eine schwere chronisch verlaufende Krankheit ihn an den 
      Rand des Todes gebracht hat und vielleicht wieder bringen wird. 
       
      Manchmal und ab und zu kann man erleben, wie Menschen Schmerz und Leid in 
      einem kaum noch verstehbaren Maß durchstehen und verarbeiten. Manchmal ist 
      kaum zu begreifen, wie solch ein vom Leiden betroffener zwar noch die 
      Spuren seines Leidens an sich trägt, wie er aber dennoch Abstand zu seinem 
      Schicksal gefunden hat. Ja, wie die Verarbeitung seines Leids ihm 
      offensichtlich geholfen hat, sehr intensiv zu leben und sich den Seinen in 
      noch größerem Maße zuzuwenden.  
       
      In diese Richtung geht, was Johannes am Gekreuzigten gesehen hat und uns 
      zeigen will. Nicht, dass er Schmerzen und Qualen und all die anderen 
      unerfreulichen Umstände seines Todes vergessen und verdrängt hätte. Der 
      Evangelist bündelt vielmehr seinen Blick auf einen Punkt. Er will uns die 
      unglaubliche Treue des Christus zeigen, die alles andere in den 
      Hintergrund drängt. Die Treue des Christus zu seinem himmlischen Vater, 
      die Treue des Christus vor allem aber auch zu den Seinen. Die Treue seiner 
      Liebe zu uns Menschen. 
       
      Diese Liebe hat keine Angst vor dem Tod. Diese Liebe lässt sich vom 
      Leiden, vom Tod nicht ersticken. Ja, sie entfaltet gerade dort ihre größte 
      Kraft. Über dem Karfreitag liegt der Sieg der Liebe Gottes über Teufel und 
      Tod. Davon will der Evangelist erzählen ... 
       
      ... damit wir all dem nicht als bloße Betrachter fernbleiben; damit wir 
      nicht stehen bleiben beim Staunen über die Kraft des Christus und mutlos 
      werden angesichts der Größe seines Vorbilds; damit wir uns selbst unter 
      dieses Kreuz begeben und all das Leid unserer Welt mitbringen, das uns 
      überwältigt, ängstlich und hilflos macht. 
       
      Der Gekreuzigte ruft uns hinein in die Schar, die unter seinem Kreuz 
      versammelt ist, zu Maria, Johannes und den anderen. Nicht, um uns unsere 
      Unfähigkeit zu zeigen, sondern um auch uns dort seine Zuwendung zu geben. 
      Der Gekreuzigte zeigt uns, dass die Liebe Gottes nicht Halt macht, wo all 
      unsere Hoffnung aufhört. Sie durchbricht selbst die Mauer des Todes. Als 
      der Christus sein Haupt neigt und stirbt öffnet sich ein Weg, wo 
      eigentlich keiner mehr sein kann. Als es vollbracht ist, ist ein Weg 
      offen, wo keiner mehr sein kann. Und der führt ins Leben. 
       
      Auf diesem Weg ist uns der Christus voraus. Aber wir haben ihn. Der 
      Evangelist Johannes zeigt uns das Leiden und Sterben des Christus als eine 
      große Ermutigung. Sein Leib ist für dich gegeben, sein Blut für dich 
      vergossen. Der Christus ist uns voraus und gibt uns unter dem Kreuz Anteil 
      an allem, was er uns voraus hat. Die Seinen unter dem Kreuz erfahren es, 
      als Stiftung neuer Verhältnisse und neuen Lebens in seiner Gemeinde. Unter 
      dem Kreuz ist Familie Gottes entstanden, die mit ihm, dem Ewigen und 
      Allmächtigen eine gemeinsame Zukunft hat. Auch wenn uns einmal der Weg 
      dorthin führt, wo keiner mehr ist. Wo der Gekreuzigte ist, geht ein Weg 
      und der führt ins Leben. 
       
      Und deshalb können wir von ihm gar nicht genug erzählen und hören, gerade 
      angesichts von Krieg, Leid und Tod in unserer Welt und in unserem Leben. 
      Deshalb sind wir als seine evangelische Gemeinde nirgendwo anders 
      versammelt als unter dem Kreuz. Dort fügt er uns als seine Gemeinde 
      zusammen, Väter und Mütter, Söhne und Töchter, Schwestern und Brüder; 
      damit wir uns gegenseitig an die Hoffnung erinnern, die der Gekreuzigte 
      schenkt. Seine Kraft, ist in den Schwachen mächtig. 
       
      Ab und zu treffen wir Menschen, an denen etwas davon sichtbar wird. 
      Menschen, die erzählen, was andere umhaut. Menschen, denen selbst im 
      Leiden Kraft zuwächst, sich dem Leben und anderen zuzuwenden. Wir liegen 
      nicht falsch, wenn wir in ihnen Christuskraft sehen, Kraft des 
      Gekreuzigten. Der ruft uns manchmal auch durch das eigene Leid unter sein 
      Kreuz, damit wir ihn besser kennen lernen, damit wir nicht nur in guten, 
      sondern auch in schlechten Tagen wissen, dass unser Glaube und unsere 
      Hoffnung nicht vergeblich ist. Durch unseren Herrn Jesus Christus.  
       
       
        
      
        Pfarrer Johannes Taig   
      (Hospitalkirche Hof) 
      (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter www.kanzelgruss.de)  | 
    
      
      Text:  
       19,16 Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er 
      gekreuzigt würde. 
      Sie nahmen ihn aber, 
      19,17 und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt 
      Schädelstätte, auf hebräisch Golgatha. 
      19,18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, 
      Jesus aber in der Mitte. 
      19,19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; 
      und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. 
      19,20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus 
      gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in 
      hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. 
      19,21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: 
      Der König der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der 
      Juden. 
      19,22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich 
      geschrieben. 
      19,23 Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine 
      Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch 
      das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. 
      19,24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, 
      sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt 
      werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich 
      geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die 
      Soldaten. 
      19,25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter 
      Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. 
      19,26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb 
      hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 
      19,27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und 
      von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. 
      19,28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht 
      er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. 
      19,29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit 
      Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. 
      19,30 Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist 
      vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.  |