Predigt     Johannes 19/16-30     Karfreitag    03.04.2015

"Der Schatten des Kreuzes"
(von Pfarrer Rudolf Koller, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

ich bin überzeugt, dass die große Mehrheit in unserer Gesellschaft auch ohne den heutigen Karfreitag auskäme. Weil er sich so schlecht kommerzialisieren lässt, kommt nach Weihnachten gleich Ostern, nach dem Schokoladen-Weihnachtsmann der Oster-Lammbraten. Ganz ähnlich ist es ja auch mit dem Kreuz, das vielen heutzutage eher ein Schmuckstück ist, als ein Zeichen, das auf das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus verweist. Nicht selten wird deshalb der Karfreitag in einem kühnen Sprung von Ostern überholt.

Aber so ganz neu ist das auch wieder nicht! Denn auch die Karfreitags-Geschichte des Evangelisten Johannes klingt so ganz anders als die der drei anderen Evangelisten. Bei ihm lauten Jesu letzte Worte: „Es ist vollbracht“ und nicht „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Freilich, diesem „Es ist vollbracht“ geht das ganze Erleiden des Karfreitags voraus. Ich frage also: Was hat er für uns vollbracht? Und warum ist es heilsam, dem Karfreitag nachzusinnen?

Beginnen wir mit den Karfreitags-Erfahrungen: Dann ist der Karfreitag der Tag der Opfer, die getötet, verfolgt, vergewaltigt und vertrieben werden durch Krieg, durch Bürgerkrieg, in religiösen oder terroristischen Auseinandersetzungen an so vielen Orten und in so vielen Ländern der Welt. Dann ist er der Tag der Frauen und Männer und Kinder, die in Syrien, im Irak, in der Ukraine, in Nigeria und Kenia Opfer werden von sinnlosem Morden und schlimmsten Grausamkeiten. Dann ist er der Tag von Millionen von Vertriebenen, von zigtausenden Verhungerter oder im Meer Ertrunkener.

Und dann sind da ja noch die Karfreitags-Erfahrungen im eigenen Leben: eine gescheiterte Ehe, geplatzte Lebensträume, Wunden, die nicht heilen, Feindschaft, die bis in den Tod währt, Krankheiten, die uns in Hilflosigkeit und Ohnmacht führen… die Liste ist nicht vollständig!

Es wird immer wieder Karfreitag. Immer wieder werden Menschen zu Opfern. Immer wieder werden Menschen an anderen Menschen schuldig, indem sie sie zu Opfern machen - bewusst oder unbewusst. Und vielen sieht man von außen nicht an, dass sie Opfer sind. Sie tragen keine sichtbaren Wunden, sie sind nicht zerrissen oder verbrannt, sie sind nicht erstickt an Giftgas-Schwaden und keine Kugel hat sie ums Leben gebracht. Sie leben weiter: die mit Worten Geschlagenen; die, die um ihre Lebensfreude gebracht wurden; die, die an Menschen zerbrochen sind. Sie leben weiter - aber anders als zuvor!

Karfreitag - Tag der Opfer? Wäre das eine zeitgemäße Übersetzung? Tag der Opfer auch ihrer eigenen Gewalt? Tag auch eines Pontius Pilatus, eines Herodes eines Kaiphas? Tag aller Diktatoren, aller hetzenden Islamisten, aller gewaltbereiten Nationalisten? Tag auch des die Frau und Kinder schlagenden Ehemannes. Tag auch also derer, die zwar Opfer erzeugen, die schlagen und morden, die zugleich aber auch Opfer sind, weil sich ihre Sinne und ihr Herz und ihr ganzes Gemüt verfinstert und verdunkelt haben. Sind sie doch nicht mehr die Menschen, die Gott gewollt hat!
Karfreitag - Tag der Opfer und Tag der Schuldiggewordenen! Tag derer, um die es finster wurde, die kein Licht mehr sehen, die in ihren Depressionen erstarren und untergehen und auch andere mit in ihren Tod reißen. Tag derer, an deren Ohr kein Wort mehr dringt.

Ich glaube wir alle haben beinahe täglich genügend Anschauungsmaterial von Karfreitagen. Und von Menschen des Karfreitags - um uns herum aber auch manchmal in uns selbst. Karfreitag ist dann auch die Erfahrung der Distanz zu Gott, eines unüberbrückbar breiten Grabens. Versuche, diesen Graben zwischen sich und Gott irgendwie aus eigener Kraft zu überwinden, hat es schon immer gegeben: die Versuche des Frommen, sich sklavisch genau an die Gebote und Verbote seiner Religion zu halten. Oder wie bei uns im Mittelalter, wo man versuchte den Trennungsgraben durch gutes Werk, durch Fasten und sogar durch Selbst-Geißelung zu überwinden.

Und heute? Für welche gute Sache opfern wir? Für den Beruf? Für unsere Familie? Für unseren Wohlstand? Und wen oder was opfern wir dabei? Am Ende gar uns selbst?

Das Neue Testament ist sich darin einig, dass es nur einen Weg über diesen Graben gibt, nur einen Weg aus den Opferungen und dem Geopfert-Werden heraus. Und der trägt den Namen Jesus Christus. In seinen Karfreitag sind unsere Karfreitags-Erfahrungen eingezeichnet. In seinem Leiden am Kreuz scheint unser Leiden und Verzweifeln auf. All unser Opfer bringen und Opfer sein ist umfangen von ihm, von dem es im Hebräerbrief heißt (Hebr. 9, 28): „So ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen, zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten zum Heil.“ Das hat auch der Evangelist Johannes vor Augen, wenn er Jesus mit den Worten sterben lässt: „Es ist vollbracht". Ja, er hat vollbracht, was Täter wie Opfer allein wieder zum Leben bringen kann.

Denn der Christus nimmt diesen Weg durch die Abgründe auf sich, um so ganz bei uns, beim Menschen zu sein - beim Täter wie beim Opfer! Und um beide zurückzubringen zum Vater im Himmel und zu seiner grenzenlosen Liebe. Denn durch sein freiwilliges Opfer durchbricht er diesen entsetzlichen Teufelskreis der Gewalt. Er durchbricht den Teufelskreis, der Gleichgültigkeit oder Jähzorn, der Angst oder Ich-Bezogenheit heißen kann. Den Teufelskreis, in dem die Welt und auch unser Leben gefangen ist. Bei ihm und durch ihn geht es uns dann wie jenem Mann, der seinen Schatten loswerden wollte.

Eine Geschichte erzählt: Ein Mann wollte seinen Schatten loswerden. Aber was er auch anstellte, es gelang ihm nicht. Er wälzte sich auf dem Boden, sprang ins Wasser, versuchte, über den Schatten wegzuspringen. Alles vergeblich. - Ein weiser Mann, der davon hörte, meinte dazu: „Das wäre doch ganz einfach gewesen, den Schatten loszuwerden! Er hätte sich nur in den Schatten eines Baumes zu stellen brauchen!"

Gemeint ist natürlich der Schatten, der die Schuld des Menschen symbolisiert, alles was ihn von Gott und seiner Menschlichkeit trennt, seine Karfreitags-Erfahrungen und seine Karfreitags-Existenz. Die Erfahrung von opfern und geopfert werden, die Erfahrung des unüberbrückbaren Abstands zu Gott. Was sagt der Weise? „Du brauchst Dich nur in den Schatten des Baumes zu stellen."

Wir brauchen uns nur in den Schatten des Kreuzes zu stellen. Denn vom Kreuz Jesu Christi geht Trost und Heil aus. Denn hier schenkt sich Gott selbst: als vollkommene Hingabe, als vollkommene Liebe zum Menschen. Und im Schatten dieses Kreuzes stehen wir nicht allein. Dort stoßen wir auf die anderen: Opfer und Täter. Dort stoßen wir auf die Soldaten, die um seinen Rock würfeln. Und dort stoßen wir auf die Frauen und den Jünger, den Jesus lieb hatte. Wir stoßen auf die Täter und die Opfer des Unrechts im Großen wie im Kleinen. Und beide dürfen neu aufleben. Beide weist er miteinander neu in diese Welt und sendet sie auf Wege des Friedens.

Denn es bleibt ja nicht beim Karfreitag. Der Gekreuzigte ist der, zu dem Gott sich rückhaltlos bekennt und dem er alle Macht gibt im Himmel und auf Erden. Deshalb ist der Karfreitag in erster Linie ein Tag der Vergewisserung über Gottes Liebe zu unserer leidenden Welt. Tag der Vergewisserung seiner Barmherzigkeit mit denen, die um ihr Leben betrogen wurden. Deshalb vergewissern auch wir uns heute dieser Liebe in der Feier des Heiligen Abendmahls, nehmen mit allen Sinnen das von Gott ausgestellte Testament entgegen, das uns jetzt schon Gemeinschaft mit ihm und untereinander und dereinst Leben ohne Ende verheißt.

Pfarrer Rudolf Koller   (Hospitalkirche Hof)

Text:

16 Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde.
Sie nahmen ihn aber
17 und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha.
18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.

19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden.
20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache.
21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden.
22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.

23 Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück.
24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.
26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn!
27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet.
29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund.
30 Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht!, und neigte das Haupt und verschied.
 


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