Liebe Leser,
Maria von Magdala steht draußen vor dem Grab
Jesu. Sie trauert, weint. Sie erlebt das Gesetz des alles
verschlingenden Todes. Des Todes, der so viele grausame Spielarten
hat. Der uns so ohnmächtig macht, der uns schweigend Schreien und
uns so hilflos macht. So mancher unter uns hat diese schreckliche
Kränkung all seines Wollens und Machen-Könnens erlebt, am
Krankenbett eines lieben Menschen, an seinem Sterbebett, am Grab und
in der plötzlich leer gewordenen Wohnung.
„Maria steht draußen… und weint." Ihre Erfahrung ist die Erfahrung
so vieler Menschen. Abgeschnitten vom Leben zu sein, mit
durchschnittener Verbindung zu dem Menschen, ohne den das Leben
nicht mehr vorstellbar ist.
„Maria steht draußen… und weint." Tränen über Tränen und immer
wieder die alte Frage „Warum?“ und „Wie soll es weitergehen?“ Maria
beugt sich hinunter zum Grab. Ich sehe sie vor mir: gebückt und in
sich gekrümmt, den Blick gesenkt, die Augen starr. Mit
eingeschränkter Wahrnehmung, mit verdunkeltem Horizont. So sehen
Augen, wenn das, was einen lebendig gemacht hat, abgestorben ist:
alle Lebenskraft, alle Hoffnung, alles Glück. Und wenn nichts mehr
zurückzuholen ist, nichts mehr zu machen ist. Wenn alle glückliche
Vergangenheit nur noch eine einzige schmerzliche Erinnerung ist. Ja,
das tut weh, diese Ohnmacht, dieses „aus und vorbei“.
Maria erlebt das so. Sie sucht eine Geschichte, die vergangen ist.
Ein für alle Mal. Dabei war es doch ihre Geschichte! Quälende
Geister hatte Jesus von ihr ausgetrieben, sie von schlimmen Ängsten
und von tiefen Zweifeln befreit. In der Nähe zu ihm hatte sie sich
verwandelt zu einer lebendigen, lebensfrohen Frau. Er hatte ihr
alles gegeben: Heilung ihrer Zerrissenheit, Kraft und Lebensmut, ja,
und auch wieder den Glauben an einen gütigen Gott. Sie war
glücklich.
Und nun das Ende – und was für ein schreckliches am Kreuz! Am Kreuz
und mit ihm starb alles: ihre Lebensfreude, ihre Kraft und auch ihr
Glaube. Maria steht draußen. So wie trauernde Frauen und Mütter,
trauernde Männer und Väter, trauernde Töchter und Söhne draußen
stehen. Dann hat sie eine eigenartige Vision und innere Schau. Sie
sieht zwei Engel!
Engel sind Mittler zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Welt,
zwischen Licht und innerer Finsternis. Sie sind keine Vermittler
oder gar Garanten von Harmonie, von leichtem und glückseligem Leben.
Manchmal sind Engel einfach stumm und wollen doch verstanden werden.
Diese beiden Engel sprechen. Sie sprechen die Frau an. Nicht mit
Namen, noch nicht. Das bleibt Jesus allein vorbehalten. Engel, diese
Lebensboten Gottes, sprechen meistens indirekt. Das heißt, ihre
Worte warten auf die eigene Deutung, das eigene Verstehen, das
eigene Erkennen. Das muss von uns selber kommen. Was aus dem
Gehörten oder Gesehenen wird, liegt immer auch bei mir. Wir sind
immer nach Antwort gefragt. „Frau, was weinst du?"
Und Maria antwortet. Zum ersten Mal findet sie Worte, durchbricht
die Sprachlosigkeit und in ihre Starre kommt Bewegung. Mit der Klage
lässt sie ihrem Schmerz und ihren Tränen endlich freien Lauf: „Sie
haben meinen Herrn weggenommen“… mein Leben, meine Kraft, meine
Hoffnung! - „Und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“… weiß
nicht, wo alles das geblieben ist, was mich trug, was mich erfüllte
und mir Leben gab.
Maria wendet sich um. Eben war sie noch gebückt, gekrümmt und starr.
Eben hatte sie noch Augen, die nur nach unten sahen und sich nicht
bewegten. Jetzt hat sie Augen, mit denen sie Jesus sehen könnte …
Aber sie erkennt ihn nicht! Noch nicht. Noch sind ihre Augen
gehalten. Ja, Trauer beeinträchtigt die Wahrnehmung, Tränen lassen
Konturen verschwimmen. Dann zwei Fragen Jesu: „Frau, was weinst du?"
Zum zweiten Mal erklingt diese Aufforderung, den Schmerz
auszudrücken. Dann die direkte Frage: „Wen suchst du?" Den Toten?
Deinen gütigen Gott? Dein verlorenes Selbst?
Und dann, liebe Gemeinde, wird's komisch. Obwohl da keine Komödie
gespielt wird, sondern das Spiel von Leben und Tod. Und vom Leben
aus dem Tod und aus den Trauererfahrungen. Maria meint, Jesus sei
der Gärtner, oder sagen wir es deutlich: der Totengräber! Er sei der
Zuständige für Grabkultur und Pietät! Die Vorstellung des lebendigen
Christus als Bestatter entbehrt nicht einer gewissen Komik. Aber
noch erkennen ihre Augen nur das, was man in dieser Welt voller
Friedhöfe eben erwartet: Totenverehrung und Grabpflege. „Sag mir, wo
du ihn hingelegt hast, dann will ich ihn holen." Sie will aktiv
werden, will etwas tun, will mit dem, was sie schon immer tat, ins
Leben zurückkehren. Sie will sich selbst das Leben, jedenfalls ein
eingeschränktes Leben, aber immerhin Leben zurückholen. Das bisschen
Leben, das ihr noch bleibt.
Bis sie Jesus bei ihrem Namen ruft. „Maria!“ - Leise, liebevoll,
zärtlich. So höre ich diese Anrede. Die leisen und liebevoll
tröstenden Lebensworte gehen ja am tiefsten. Es ist ja auch eine
leise Ostergeschichte, keine mit Pauken und Trompeten, die uns ganz
tief ansprechen will. Maria hört sich bei ihrem Namen gerufen. So,
wie wir das aus Kindertagen kennen, wenn wir uns verirrt hatten…und
endlich einer unseren Namen rief. So, wie wir das aus Krisenzeiten
kennen, wenn wir nicht weiter wussten und wenn uns unsere Einsamkeit
wie ein dumpfes Echo immer wieder entgegenschallte. Dann beim Namen
angesprochen zu werden…das ist wie nach Hause finden. „Maria!“ Mehr
sagt Jesus nicht. Er spricht sie nur mit ihrem Namen an. Aber das
ist wie eine sanfte Hand auf der Schulter. Wie ein tröstendes
Streichen über den Kopf. Wie ein „Fürchte dich nicht! Ich habe dich
erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein".
Jetzt wendet sich Maria um. Sie dreht sich um. Sie wird umgedreht.
Sanft und zärtlich. Sie spricht Jesus auch direkt an: „Rabbuni". Das
meint: Meister! Sie sagt Worte, wie sie sie vorher gesprochen hat,
vor ihrer Trauer. Vertraute Worte. Alles, was sie verloren hat und
was zerbrochen ist, ist in diesem Augenblick wieder da. „Mein Herr
und mein Meister, meine Hoffnung, mein Glaube, mein Lebensmut."
Alles legt sie in dieses Wort hinein: „Rabbuni". Und findet das
Leben wieder. Oder es wird ihr wiedergegeben. Jedenfalls wird Jesu
liebevolles „Maria!“ für sie ein Ruf zur Umkehr, zu einem neuen
Sehen, zu einem neuen Leben.
Aber damit ist diese leise Ostergeschichte nicht zu Ende. Es
ereignet sich noch kein Durchbruch. Es geschieht noch kein
gewaltiger Einbruch des Himmels und göttlicher Macht in ihre und
auch nicht in unsere Wirklichkeit. Die ist und bleibt angefüllt und
bedroht vom Suchen und Fragen, von lebensfeindlichen Mächten und bis
heute von allen Spielarten des Todes. Angst wird von Gott nicht
österlich weggezaubert oder weggepustet. Erfahrungen mit der
Auferstehung bescheren uns noch keine heile Welt. Angst bleibt,
Trauern bleibt, Sterben bleibt bedrohlich. Maria möchte Jesus
festhalten, will diesen Augenblick festhalten.
Jesus aber sagt: „Rühre mich nicht an!" Das markiert eine Grenze.
Das schafft eine Distanz da, wo Maria Nähe und Vertrautheit sucht.
Nein, Jesus kehrt nicht in das diesseitige Leben zurück. Er geht
weg. Er entzieht sich ihr. Und entzieht sich uns ja auch immer
wieder. Jeder macht diese Erfahrung im eigenen Glauben. Aber dennoch
weiß sich Maria namentlich erkannt von ihm. So umfassend liebevoll
erkannt, dass sie ins Leben zurückkehren kann. Er geht weg - und sie
kann nun auch gehen. Sie kann den Ort des Todes und der Trauer
verlassen. Sie muss nicht mehr draußen stehen. Sie muss nicht mehr
rückwärts sehen und nicht mehr rückwärts gehen. Sie hat gefunden,
denn sie ist gefunden worden.
Diese Erfahrung will sie weitergeben. Sie steht auf und verkündigt
den Jüngern, was sie gesehen und gehört hat. Obwohl sie keinen
direkten Auftrag von Jesus dazu hat. Aber: „Wem das Herz voll ist,
dem geht der Mund über." Aus der gebeugten und verkrümmten Maria
wird eine Frau, die aufrecht steht und aufrecht zurück ins Leben
geht. Eine Wiedergeburt, ein neuer Anfang, eine Auferstehung aus
Starre, Verzweiflung und Tod.
Liebe Gemeinde, von der Auferstehung erzählt uns diese leise
Ostergeschichte nicht direkt, sondern nur indirekt. Sie erzählt uns
aber wohl von einer bezwingenden Ostererfahrung. Keine
Machtdemonstration, nicht das Wunder der Auferstehung wird uns
berichtet. Aber von einer Auferstehung mitten am Tage, mitten in der
alltäglichen Welt wird uns erzählt. „Ich habe den Herrn gesehen, und
das hat er zu mir gesagt."
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof)
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Text:
11 Maria aber stand draußen vor dem Grab
und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab
12 und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten
und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt
hatten.
13 Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu
ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo
sie ihn hingelegt haben.
14 Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen
und weiß nicht, dass es Jesus ist.
15 Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie
meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn
weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich
ihn holen.
16 Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu
ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!
17 Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch
nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage
ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem
Gott und zu eurem Gott.
18 Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den
Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.
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