Predigt Johannes 5/1-15 19. Sonntag nach Trinitatis 21.10.01
"Gottes
vergessene Kinder?"
(von Pfr. Johannes Taig, Hospitalkirche)
Liebe Leser, 38 Jahre war er dort gelegen. So lange, wie das murrende Gottesvolk durch die Wüste ziehen musste (5. Mose 2/14). Ein Leben wie eine einzige Strafe. Ein Mann, der keinen Namen mehr hatte, sondern dessen Name seine Krankheit geworden war: Der Krebs auf Zimmer 42, der Lahme links hinten am Teich Betesda. Tag für Tag in dieser mit Einsamkeit vollgestopften Wartehalle der Hoffnung. Wie oft gequält durch das Glück der anderen, die jubelnd aus dem Wasser stiegen: Halleluja, geheilt! Und dann und wann ein paar Almosen verteilten: Preiset den Herrn! Bevor sie sich aus dem Staub machten auf Nimmerwiedersehen. Da hatte er nach den ersten Jahren noch den Reflex zuzuschlagen, diesen Geheilten ihr Grinsen und ihre Almosen in den Hals zu stopfen, aber auch das legt sich im Lauf der Jahre: Die Wut, die Verzweiflung, der heilige Zorn über die Ungerechtigkeit einer Welt, in der Glück und Unglück höchst ungleich verteilt sind. Jede Hoffnung ist ohne Sinn. Und so wurde er täglich abgelegt und entsorgt am Teich Betesda, in diesem Flüchtlingscamp der sinnlosen Hoffnungen. Und wir schauen ihm in die Augen in den Flüchtlingscamps dieser Tage. Menschen, die vor ihren erbärmlichen Zelten im Staub sitzen in Afghanistan. Menschen, die ihre Welt verloren haben und – man sieht es auf den Bildern ganz genau – um die herum es keine Welt mehr gibt, während im Norden der Winter schon seine eisige Faust ballt, um sie zu zerschmettern. Herr, ich habe keinen Menschen! Tiefer kann eine Klage nicht sein. Unmenschlich kann der Mensch, das Leben und die Welt sein. Übermenschlich kann eine Bedrohung, eine Aufgabe, eine Angst und ein Leid werden. Aber ohne Mensch kann der Mensch nicht Mensch sein und bleiben. Ohnmenschlich verliert der Mensch seine Würde. Ohnmenschlichkeit ist die unterste Stufe der Verdammnis: Gottes vergessene Kinder. 38 steinerne Jahre hatte dieser Mensch Zeit um darüber nachzudenken. Und deshalb lässt er die Frage Jesu, ob er denn gesund werden will, nicht an ihrer Oberfläche stehen, sondern geht sich und seiner Krankheit auf den Grund. Herr, ich habe keinen Menschen. Und er nötigt damit den Sohn Gottes, den Christus, sein heilsames Handeln nicht an seiner Oberfläche stehen zu lassen. Der Christus offenbart seine Sendung als den Weg des allmächtigen Gottes, dem ohnmenschlichen Menschen ein Mensch (!) zu werden! Es ist ja in diesen Tagen eine teilweise erbärmliche Diskussion über den Wert unserer Werte und den Wert der Religionen und welche denn ehr gefährlich und verdächtig sind und welche nicht. Die Wahrheit jeder Religion zeigt sich nicht zuletzt in der Kraft ihrer Menschlichkeit. Gerade wir Christen wissen, dass es keine wahre Erkenntnis Gottes ohne die Erkenntnis wahrer Menschlichkeit gibt und umgekehrt. Der Christus, in dem Gott Mensch wird, hat beides untrennbar miteinander verbunden und niemand darf dieses Band zerreißen. Und wenn wir uns das immer wieder vor Augen halten, dann erkennen wir sehr leicht, wo der Glaube benutzt und missbraucht wird. Wer im Namen Gottes menschliches Leben bedroht und vernichtet, ist ein Gotteslästerer. In gefährliche Gesellschaft gerät deshalb die Ethikkommission der baptistischen Glaubensgeschwister in Amerika, die in der vergangenen Woche verlautbart hat: Die Regierung besitze die "biblische Autorität", im Namen der Gerechtigkeit "tödliche Gewalt anzuwenden". Um die "Malaria des internationalen Terrorismus" zu besiegen, müsse "der Sumpf trockengelegt werden". (epd) Wer in einem Atemzug von Menschen und Bazillen redet, hat sich selbst verirrt in den Sumpf der Ohnmenschlichkeit und Gottesferne. Unmissverständlich und hart weißt Jesus seine verärgerten Jünger zurecht, die auf die Idee kommen, ein bisschen Feuer auf ein Dorf fallen zu lassen, das sie nicht aufgenommen hat: „Wisst ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Der Menschensohn ist nicht gekommen, das Leben der Menschen zu vernichten, sondern zu erhalten.“ (Lukas 9/55) „Für einen Moment ist die Welt, wie sie war, beim vollem Lauf in sich zusammengesackt, als die Türme von Manhattan, die beiden Schwurfinger des Geldes, mit einem fürchterlichen Schlag abgehackt wurden...“, beginnt der Schriftsteller Botho Strauß dieser Tage seine Betrachtung. (SPIEGEL Nr. 41 vom 08.10.01, S. 225) Ohnmenschlich waren diese Taten, „Nichtung“ von menschlichem Leben ohne Ansehen der Person. Und gerade deshalb haben wir sie als Angriff auf uns alle begriffen. Als Angriff auf die Menschlichkeit schlechthin. Das Nachdenken über diese Bedrohung ist folgerichtig nicht nur eine Besinnung auf die Kräfte des Ohnmenschlichen draußen in der Welt, sondern auch mitten unter uns: Auf die schiere Macht des Geldes zum Beispiel, das nur darauf aus ist, sich selbst zu vermehren, ohne Rücksicht auf Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit aller betroffenen Menschen. „Die Sprache des Marktes dringt heute in alle Poren ein und presst alle zwischenmenschlichen Beziehungen in das Schema der Orientierung an je eigenen Präferenzen (Interessen). Das soziale Band, das aus gegenseitiger Anerkennung geknüpft wird, geht aber in den Begriffen des Vertrages, der rationalen Wahl und der Nutzungsmaximierung nicht auf,“ mahnte letzten Sonntag der Philosoph Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eine allzu gottesvergessene säkulare Gesellschaft. Gottes vergessene Kinder betrachten ihre leeren Hände und Herzen. Und ahnen, dass dieser Kampf um die Menschlichkeit nicht mit Waffen aus Pulver und Stahl zu gewinnen ist; auch nicht mit einem Sicherheitsstaat, in dem das Misstrauen zur ersten Bürgerpflicht erhoben wird. Herr, ich habe keinen Menschen! Im Flüchtlingscamp der scheinbar sinnlosen Hoffungen am Teich Betesda formuliert sich die Klage, die Frage, die nicht nur damals zum Himmel schreit. Sie verhallt nicht ungehört. Der „nichtenden“ Gewalt des Todes, dem die Gesichter der Menschen egal sind, setzt er seine schöpferische Liebesmacht entgegen, die keinen Menschen vergisst. Der Schöpfer wird seiner Welt nicht ein unnahbarer Weltenherrscher, nicht ein ehernes Gesetz, nicht die Vertröstung auf das Paradies. Er wird dem ohnmenschlichen Menschen der wahre Mensch. Der hat das Feuer im Himmel gelassen und seine Armeen in der himmlischen Kaserne – auch als er selbst zerrieben wurde im blinden Kreuzfeuer religiöser und politischer Interessen. Der hat seine wahre Menschlichkeit bewahrt noch im Tode am Kreuz. Gott hat nicht zugelassen, dass sich das Grab über diesem Leben schloss und sein Evangelium zu den Akten kam. Es bleibt Gottes letztes Wort. Und der Christus sitzt zu seiner Rechten und zur Rechten und Linken aller Menschen in den Flüchtlingscamps der sinnlosen Hoffnungen. Und deshalb gilt: Wer anderen Menschen ein Mensch wird, wird ihm begegnen! Das ist die göttliche Verheißung, die auf jeder Menschlichkeit liegt! Das mag nicht immer zu unserem Vorteil sein. Wir können bedroht werden von globalen Katastrophen, oder von den ganz persönlichen, von Krankheit und Leiden und Tod. Aber eines werden wir niemals sein: Gottes vergessene Kinder.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) |
Text:
(1)Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. |