Predigt    Johannes 8/21-30    Reminiscere (Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit, Psalm 25/6)     11.03.01

"Gottes Koordinatenkreuz"

Liebe Leser,

als ich im neuen Heft die Predigtmeditation zu unserem heutigen Predigttext aufschlagen wollte, blieb ich schon im Vorwort stecken. Dort schrieb ein Pastor aus Hamburg zum Thema: Thesen zur religiösen Rede: 

„Wir sind gehalten, andauernd von Gott zu reden. Das schadet der Sache, die wir vertreten. Jede Sache, die unaufhörlich besprochen wird, entzieht sich. Ungeheures, eigentlich Unsagbares wie „Die Auferstehung von den Toten“ oder „Gottes Liebe“ wird jederzeit verwendet mit der scheinbaren Selbstverständlichkeit von Leuten, die so tun, als wüssten sie, worum es geht. Das ist trügerisch. Wir wissen oft nicht, wovon wir reden. Sonst würden wir gelegentlich ehrfürchtig schweigen. Das wäre unter Umständen das größere Zeugnis. Das dauernde Zitieren macht platt, was vertieft werden soll. ...

Es gibt nichts mehr zu kauen für den Geist. Die Rede Jesu ist meist apodiktisch, paradox und unbequem. Er bringt Menschen gegen sich auf und hinterlässt Lager. Er spricht oft so, dass man gedanklich aus der Bahn geworfen wird. Unsere Rede vermeidet das. Es soll keine Unruhe entstehen. Menschen sollen im Namen allgemeiner kirchlicher Nettigkeit im Dämmerzustand ungefähren Verstehens geschaukelt werden. ...

„Gott nimmt dich an, so wie du bist“ ist leere Standard-Formel unserer religiösen Rede. ... Die Behauptung der göttlichen Annahme ist possierlich geworden, weil wir das Gegenteil, den Entzug Gottes mitten unter uns verschweigen. Wir reden harmlos. Es steht nichts auf dem Spiel. Annahme durch Gott ist Freibier.“ (Thomas Hirsch-Hüffell, Thesen zur... in GPM 2001, 55. Jahrgang, Heft 2, S.141ff.)

Da bin ich hängen geblieben. Und mir fiel eine Andacht ein, die ich kürzlich erlebte. Da wurde salbadert, gesalbt und gesummt, allerlei Steinchen betrachtet, Kerzchen entzündet und sich dem Nachbarn liebevoll zugewendet. Eine Andacht war das, so fand ich am Ende, die mit wenig verbaler Umdekoration auch für einen Suffi-Kongress gepasst hätte, wo sie wahrscheinlich durchgefallen wäre. Die Tendenz, mit der das Niveau unserer Fernsehprogramme auf das kleinste Gemeinsame oder das „gemeinste Kleinsame“ sinkt, hat wohl auch unser Kirchenprogramm voll erfasst. Soviel „Häppy-Hippo-Metaphysik“! Soviel lackierter Staub! 

Und da kommen dann noch ein paar Aufrechte, die vor all diesen fremden Einflüssen auf unseren christlichen Glauben warnen und sie voll Angst und Entsetzen betrachten. Denen sei gesagt: Habt keine Angst! Wagt Euch hinaus auf dieses Meer der religiösen Moden. Es wird aussehen, als ob ihr auf dem Wasser lauft. Denn dieser Ozean ist an keiner Stelle tiefer als fünf Zentimeter. Wer aus dieser lauwarmen Brühe trinkt, wird nicht satt. Wer in dieses Meer freilich kopfüber hineinspringt bricht sich das Genick und den Geist und das Herz. 

„Wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden“.

Schroff und bedrohlich kommt dieses Christuswort daher und mit ihm alle Worte unseres heutigen Predigttextes. Gewalttätig rammen sie Gottes Koordinatenkreuz in die flache und versandete Welt unserer Gläubigkeit. Diese Welt Gottes ist tief und hat Raum für den finstersten Untergang. Aber über dieser Tiefe wölbt sich ein richtiger Himmel!

Aber über dieser Tiefe wölbt sich der unendliche Himmel in unendlicher Ferne. Unerreichbar wie der Andromedanebel zu dem man bei Lichtgeschwindigkeit 1,2 Millionen Jahre braucht. Das ist unsere Nachbargalaxie. Man kann sie mit bloßem Auge erkennen. Sie ist so groß wie unsere Milchstraße und hat über 100 Milliarden Sterne wie unsere Sonne. Sie liegt sozusagen vor unserer Haustüre. Sie kennen den Andromedanebel? Astrophysik, 12. Klasse, Leistungskurs? Da wurde der Andromedanebel eingemeindet in das Weltbild in Ihrem Kopf? Da wurde Ihnen etwas unvorstellbar Großes und Unerreichbares ein Begriff? Ein Begriff von was? Vom Andromedanebel?

Da sprach Jesus abermals zu ihnen: „Ich gehe hinweg, und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen. ... Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.“

Wie weit weg ist „nicht von dieser Welt“? Schwindlig kann man werden angesichts dieser Entfernung und der Größe dieses Entzugs. Der Christus zeigt seine Unverfügbarkeit und stellt uns an die Kante unserer Welt. Haltet euch fest, bevor ihr hinunterschaut ... 

... in das unendliche Treiben der Galaxien, in denen Sterne zünden und nach Milliarden von Jahren in einem Feuerwerk wieder verlöschen, in denen Welten entstehen und wieder vergehen. Und dann denkt euere Erde und die kosmischen Sekunden, die euere Atemzüge gehen, bis ihr wieder im Staub versinken müsst. 

„Wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden“. Unverblümt sagt der Christus diese Wahrheit, damit wir uns helfen lassen. Gewaltig spannen seine Worte die Höhen und Tiefen unserer Welt auf – und bauen die einzige Brücke, die von hier nach dort führt. 

„Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin.“ So redet Jesus im Johannesevangelium von seiner Kreuzigung. Das Kreuz ist auf den ersten Blick die Ankunft im Abgrund dieser Welt. Für den Christus aber schon eine Station auf dem Weg zum Himmel. Wenn der Christus im Tod die Augen schließt ist die Brücke gebaut zwischen Erde und Himmel, Gottesferne und Gottesnähe, dieser Welt und „nicht von dieser Welt“. Wenn der Christus im Tod die Augen schließt, ist er selbst diese Brücke geworden. 

„Ich bin“ steht deshalb hier ganz allein und elementar, ohne Weg und Wahrheit und Leben, Weinstock und Brot. Hier im Kreuz ist der Urgrund all dessen, was Gott uns im Leben und im Sterben sein kann und sein will. Dieses Kreuz ist Gottes Koordinatenkreuz: Brücke durch die Unendlichkeit. Unser Weg nach Hause. 

Unser (!) Weg nach Hause. Mögen andere Wege dorthin führen. Wer weiß. Wir wissen es nicht. Es ist nicht unser Weg. Unser Weg ist der Christus. Und der ist in der Höhe und Tiefe so unermesslich, dass unser kleines Leben nicht ausreicht, ihn zu erfassen. 

Prüfet alles, und das Gute behaltet (1.Thess 5/21), zitieren gerne die den Apostel Paulus, die den christlichen Glauben für zu wenig kompatibel halten mit allem, was im Zeitalter der Globalisierung auf religiösem Gebiet angesagt ist. Übet alles, bis ihr nicht mehr wisst, was gut ist, muss es dann in Wahrheit leider oft heißen. Über ein Christentum, das auf diese Weise sein Koordinatenkreuz aus den Augen verliert und die entsprechenden Gottesdienste, könnte auch ein Dalai Lama nur traurig lachen:

„ ... Kein Leitfaden, kein Trost. Nach einer Stunde war alles vorbei. Draußen lag ein unerwartet helles Licht über dem See, und ein Wind kam auf, der mich die Unterseite der Blätter sehen ließ.“ (Michel Krüger)

Ja, die Unterseite der Blätter, die Geheimnisse des Lebens, seine Höhen und Abgründe, und die Frage der Fragen: Christus, wer bist du?

Pfarrer Johannes Taig

Text: Joh 8/21-30

(21)Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Ich gehe hinweg, und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen.
(22)Da sprachen die Juden: Will er sich denn selbst töten, dass er sagt: Wohin ich gehe, da könnt ihr nicht hinkommen?
(23)Und er sprach zu ihnen: Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.
(24)Darum habe ich euch gesagt, dass ihr sterben werdet in euren Sünden; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden.
(25)Da fragten sie ihn: Wer bist du denn? Und Jesus sprach zu ihnen: Zuerst das, was ich euch auch sage.
(26)Ich habe viel von euch zu reden und zu richten. Aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt.
(27)Sie verstanden aber nicht, dass er zu ihnen vom Vater sprach.
(28)Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir selber tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich.
(29)Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt.
(30)Als er das sagte, glaubten viele an ihn.


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