Predigt     Jahreslosung 2001     Kolosser 2/3    01.01.2001

"Unverschämte Rede vom Heiligen"

Liebe Leser,

Weisheit und Erkenntnis sind die Schlagworte, mit denen uns die Jahreslosung den Weg ins anfangende dritte Jahrtausend weist. Sie tut das nicht in Form eines Hilferufs, sondern sie steht wie ein Wegweiser am Wendepunkt der Zeit. 

Am Ende dieses Jahres waren die Hilferufe nach Weisheit und Erkenntnis zumindest in den Feuilletons nicht zu überhören. Und das nachdem in diesem Jahr die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts ebendort überschwänglich gefeiert wurde. Aber nachdem es Wirtschaft und Wissenschaft in England gelang, vom Parlament grünes Licht für die Herstellung und Verarbeitung von Stammzellen, sprich von anfangendem menschlichen Leben, zu bekommen, gefror zurecht vielen die Freude im Gesicht. Wieder eine Grenze überschritten, wieder ein Tabu gebrochen, angeblich für eine schöne und bessere Welt. 

Dabei mussten wir gerade in diesem Jahr schmerzlich erfahren, dass es nicht einmal einen Eingriff in das Innerste des Lebens braucht um tödliche Gefahren heraufzubeschwören. Wer kommt auf die Idee Tiermehl an Pflanzenfresser zu verfüttern? Wer maßt sich da an, elementare Lebensweisen und Lebensweisheiten mit verheerenden Folgen zu ignorieren? Genau die Wissenschaftstechnokraten, die uns in Bayern staatlich gefördert gebetsmühlenartig von der schönen neuen Gentech-Welt erzählen, in der dem Menschen endgültig die Entscheidung abgenommen ist ob er verhungern oder in geistiger Umnachtung und Hilflosigkeit einen langsamen Tod sterben möchte! Kein Wort des Umdenkens kam unserem Landesvater in der Neujahrsansprache über die Lippen. Stattdessen viel Eigenlob für die High-Tech-Offensive der bayerischen Staatsregierung. Wie inhaltsleer war da die Aufforderung zur Besinnung auf unsere Grundwerte. Ja, welche denn noch?

„Was gegenwärtig geschieht“, so der Lyriker Durs Grünbein in bitterer Melancholie, „ist vielleicht nichts als die Anpreisung uneinlösbarer Paradiese, doch schon diese ist markerschütternd. Nach den Wonnen der Atomphysik und der Bescherung mit Heimcomputern für jeden, bricht nun das fröhliche Zeitalter des Menschenmachens herein. So viel Neues im schlechten Tausch gegen den Trost des Gewohnten, so viel Aufbruch ohne Heimkehr, so viele Angriffe aufs Zentrum. Man muss schon sehr alt, sehr europäisch, das heißt, aus urwüchsigem Holz geschnitzt sein, um im Lauf eines einzigen, kurzen Menschenlebens so viele Erschütterungen zu überstehen.“ (Durs Grünbein, Leute, wollt ihr ewig sterben? Spiegel, Nr. 46, 13.11.2000, S.270ff.) 

Und Botho Strauß in der Zeit: „Zwischen der offenen Pforte zum Paradies und der offenen Pforte zur Hölle: Was geschieht da? Was geschieht zwischen offenen Türen? Es zieht. Richtig, es zieht. Wir stehen im Zug. Man friert sein Lebtag lang. Es braust und wir stehen drinnen schlimmer im Freien als draußen. Der komplette Ausfall aller Himmelsrichtungen. ... Kurz: Hilfe!...Hilfe!....Hilfe!“ (Die Zeit, Nr. 52, 2000)

Weisheit und Erkenntnis, so scheint es, sind weit und breit nicht in Sicht und schon gar nicht das, was uns heilig zu sein hätte oder hat. Der Zug des Fortschritts hat eine Bremse nach der anderen fortgeschmissen. Wer nicht aufspringt, wird überrollt. Im Führerhaus – so hat man manchmal den Eindruck - sitzen Ökonomen und Wissenschaftstechnokraten, von denen mancher den Verstand eines Albert Einstein hat – und die ethische Urteilskraft einer Amöbe. Und so zynisch das klingt, auch mit dem Supergau, auch mit dem Rinderwahn, auch mit der Katastrophe wird Geld verdient, werden Arbeitsplätze geschaffen. Und auch der misslungene Homunkulus und der genetisch runderneuerte Greis braucht Intensivmedizin und ein Pflegeheim. Und auch so wird unsere Welt immer besser und schöner. 

Noch haben wir es vielleicht nicht gemerkt. Noch tummeln sich viele Jungen spaßverliebt auf ihren Fantasofas. Noch sind viele der Gemütlichkeit ihrer Schöner-Wohnen-Welten mit multimedialem Unterhaltungsanschluss nicht überdrüssig. Aber wie lange noch und bestimmt nicht in Ewigkeit. Und dann wird es wieder solche geben, „die sich aus den goldenen Verliesen erheben und zum Licht am Ende des Entlüftungsschachtes hinaufstreben“. (Strauß. a.a.O.)

Hinaufstreben zu Weisheit und Erkenntnis! Denn die muss immer wieder neu gesucht, bedacht und manchmal auch erlitten werden. Auch in der christlichen Gemeinde. Die Jahreslosung ist ja zunächst nicht ein Wort an die Welt, sondern ein Wort an die christliche Gemeinde in Kolossä. In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Sie müssen gesucht, bedacht und manchmal auch erlitten werden. 

Es ist Unfug, wenn die Kirche mit seichten, leichtverdaulichen Angeboten diejenigen wieder hereinholen will, die auch sonst nicht bereit sind, religiösen Fragen die Aufmerksamkeit zu widmen, die sie z.B. der Gebrauchsanweisung ihres Videorekorders zukommen lassen. Was sollen Predigten, die ihre Botschaft immer kurzweiliger und schlichter sagen, weil den Hörern angeblich mehr als fünf Minuten mitdenken ohne Unterhaltungswert nicht zuzumuten sind. Was sollen all diese Taxitheologien, die sagen: Man muss den Hörer dort abholen, wo er gerade steht? Und ihn dann womöglich wieder dorthin zurückbringen. Da steht er dann heute noch! 

Die Jahreslosung enthält eine lockende Aufforderung zur Bewegung und weist uns die Richtung: Entdeckt die Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Nehmt die Schaufeln eueres Geistes und euerer Herzen und fangt an zu graben. Hier im Evangelium von Jesus Christus werdet ihr fündig. Oder mit Jesu eigenen Worten: „Wenn ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8/31) Hier lässt sich Wegweisung finden, hier stimmen die Himmelsrichtungen, hier ist ein Koordinatensystem menschlicher Existenz, ein Zuhause für alle, Anfang und Ziel allen Lebens. 

Die Schätze des Evangeliums haben wir zu heben, nicht nur um dem Schicksal des bösen Knechts im Gleichnis zu entgehen, der sein anvertrautes Pfund lieber vergräbt und versteckt, statt mit ihm zu arbeiten. Auch die Welt hat ein Recht darauf! Auch die Welt hat ein Recht darauf, von diesen Schätzen zu erfahren und zwar auch dann, wenn sie sich ihr in den Weg stellen. 

Dazu gehört die unverschämte Rede vom Heiligen, zu Gott Gehörigen, das dem Menschen entzogen bleibt, vor dem er Einhalten muss, dass er als Geheimnis bestaunen, aber nicht antasten darf, nicht ohne sich und seine Welt in tödliche Gefahr zu bringen. 

Die Rede von Gott entmythologisiert die Welt und ihre Ideologien. Diejenigen, die vor zehn Jahren hämisch das Scheitern der sozialistischen Utopien kommentiert haben, versprechen uns heute das Paradies auf Erden durch die Segnungen des elektronischen und gentechnischen Fortschritts. Die Heilsversprechen haben einfach das Pferd gewechselt. Besser und richtiger werden sie deshalb nicht. 

Die Rede von Gott macht den Menschen nicht kleiner, sondern größer. Sie macht ihn als ein Wesen erkenntlich, das Gott aller Liebe wert ist. Und entbindet ihn damit von der Sisyphosarbeit, sein eigener Schöpfer und Erhalter zu sein und sich selbst in den Himmel zu heben, weil er das erstens nicht kann und weil zweitens Gott das für ihn tut. Sie macht den Menschen als ein Wesen erkenntlich, dessen Anfang und Ende, Herkunft und Heimkehr in den Händen Gottes ruht und der deshalb als von Gott geliebtes Geschöpf auf der Welt sein darf. 

Der Mensch, der auch dort vorstürmt, wo Engel zögern, der die Zäune um das Heilige niederreißt und elementare Lebensweisen und Lebensweisheiten missachtet, der die Grenze ins Göttliche überschreitet, wird untergehen. 

Der Mensch, der darauf vertraut, dass Gott die Grenze zur Welt überschreitet, um heilsam bei uns zu sein mit seinem Wort und Sakrament, mit seinem Trost und Segen, - der Mensch wird leben. 

In dem Christus hat Gott diese Grenze zur Welt überschritten. Und deshalb liegen in ihm alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Bedenken und entfalten wir sie im neuen Jahr. Um Gottes Willen und zum Wohl unserer Welt. 

Hintergrund: 
Durs Grünbein, Leute, wollt ihr ewig sterben?

http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,103317,00.html

Pfarrer Johannes Taig

Text: Kol. 2/3

Paulus schreibt an die Kolosser: 

„In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.“

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