Liebe Leser,
sie kamen nur bis zum Checkpoint 300. Die Straße nach Bethlehem war
gesperrt. Als sie sich näherten, schwenkte der Turm eines Schützenpanzers
in ihre Richtung und die Kanone schaute sie mit einem leeren Auge an.
„Papiere“, bellte eine Stimme. Ach, sie hatten keine. Sie waren nicht die
Abordnung des Vatikan und auch nicht die der russisch-orthodoxen Kirche.
Sie waren nicht die Außenminister aus den christlichen Abendländern. Die
hätten es vielleicht bis zur Geburtskirche in Bethlehem geschafft. Sie
waren nur die Hirten auf dem Felde.
„Wir müssen nach Bethlehem“, sagte der mutigste von ihnen, konnte auf
Nachfrage aber keinen vernünftigen Grund angeben. „Die Engel“, sagte der
kleinste, „wir haben Engel gesehen und sie haben uns nach Bethlehem
geschickt. Denn uns ist heute ein Kind geboren.“ Es war zu spät, ihm jetzt
noch den Mund zuzuhalten. Im Posten war das Gelächter schon am Brüllen.
„Das“, sagte ein Gesicht hinter einer Maschinenpistole, „ist die
dämlichste Geschichte, die ich je gehört habe. Und jetzt verschwindet
dorthin, wo ihr hergekommen seid.“ Und die Hirten kehrten wieder um,
fluchten auf den Krieg und die böse Welt. Weihnachten stieß im Jahr 2002,
wie fast alle Jahre, auf unüberwindliche Schwierigkeiten.
Es ist deshalb wirklich eine alte Geschichte, in der die Urahnen dieser
Hirten es bis nach Bethlehem schafften. Kein Wunder, dass 2000 Jahre
später eine fortschrittliche Welt diese Geschichte für frei erfunden oder
für einen Mythos hält; was jeder, der sich mit der Welt ein bisschen
auskennt, sofort einsieht. Aber das Träumen lässt sich nicht verbieten und
die Sehnsucht auch nicht. Ein paar soll es noch geben, die an Weihnachten
ein offenes Herz haben. Auch wenn die Jugendseite unserer Zeitung
Weihnachten für ein Fest der „toten Hose“ hält: Nix los mit oder ohne
Moos. Wird es einmal eine Generation geben, die ihr Herz vergisst und auf
der Suche nach Sinn nur noch in ihre Hosen schaut? Man stellt sich vor,
wie sie nicht nur am Checkpoint 300 die Hosen gestrichen voll haben.
Man muss schon ein wenig beherzt sein um sich nach Bethlehem aufzumachen.
Wie die Urahnen jener Hirten damals. Sie kamen durch. Die Welt war damals
noch nicht so fortschrittlich wie heute. Oder sagen wir besser: Checkpoint
300 war noch nicht ganz so effektiv. Es war stockfinstere Nacht. Die Engel
waren gen Himmel abgezogen und die Hirten standen noch ein wenig wie vom
Donner gerührt, bevor sie sich ein Herz fassten. Und so gingen sie ihrem
Herz hinterher und kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu
das Kind in der Krippe liegen.
Nein, die große Sause war es nicht, die sie im Stall von Bethlehem fanden.
Aber mit allerbescheidensten Verhältnissen kannten die Hirten sich aus.
Draußen auf dem Feld hatten sie nicht einmal ein Dach über dem Kopf.
Wahrscheinlich hatten sie Hüte, die sie abnahmen, als sie eintraten. Es
wurde nichts geredet. Sie standen und ihr Atem machte kleine weiße Wolken
in der kalten Luft. Das Kind sah sie an. Man sagt, das Jesuskind hatte
schon kurz nach seiner Geburt die Augen offen. 2000 Jahre später erinnert
sich an Weihnachten einer in der Nähe von Bethlehem an das leere Auge der
Panzerkanone.
Das ist der Unterschied: Die leeren Augen der Panzerkanonen, die auch zu
dieser Weihnacht ihre Ziele anvisieren; wie immer angeblich für eine
bessere Welt; unwiderstehlich, allmächtig. Und die offenen Augen des
Kindes in der Krippe, durch die Gott in der Weihnacht uns und die Hirten
anschaut; so ganz und gar nicht allmächtig und doch unwiderstehlich.
Gerade die Hirten, die sich mit der bösen Welt auskennen, spüren den
Unterschied. Und so stehen diese Kerle sprachlos und spüren ihr Herz
vielleicht so wie wir manchmal: wie eine offene Wunde. An Weihnachten
ahnen wohl auch die gröbsten Klötze, dass das Heil der Menschen nicht in
den leeren Augen der Panzerkanonen, sondern in wahrer Menschlichkeit
liegt. Zur Weihnacht klopft sie an am Checkpoint 300 und wird vielleicht
abgewiesen und totgelacht.
Immerhin, die Hirten damals kamen durch. Und auch wir sollten die Hoffnung
nicht aufgeben und uns auf den Weg zur Krippe machen. Wie lange sie dort
im Stall standen, wissen wir nicht. Bald kehrten sie wieder um; wandten
der finsteren Welt wieder das Gesicht zu. Die Weihnachtsgeschichte weiß,
dass die Gesichter der Hirten wie Laternen leuchteten, als sie aus dem
Stall in die Nacht traten. Sie priesen und lobten Gott, erzählten und
lachten. Wer weiß!
Noch ist das Christuskind klein. Noch hat es sich nicht auf den Weg
gemacht um uns vom Himmelreich zu erzählen. Noch hat es seine Bergpredigt
nicht gehalten, in der den Sanftmütigen die Weltherrschaft versprochen
wird. Noch hat es die Tische der Geldknechte im Vorhof des Tempels nicht
umgeschmissen. Von den Hirten hören wir nie wieder. Wohl aber von dem
guten Hirten, der keines seiner Schafe im Stich lässt. Aber vielleicht war
das alles schon im Blick des Christuskindes und im Anblick der Hirten.
Manchmal begreifen wir etwas oder jemand in einer Sekunde, oder gar nicht.
Wer weiß! Beherzt sind die Hirten nach Bethlehem gezogen und noch
beherzter kehren sie zu ihren Herden zurück.
Nicht weniger wünsche ich mir und euch zu diesem Weihnachtsfest! Ich
wünsche euch den Blick des Christuskindes, in dem Gott jeden von euch so
menschlich und menschenfreundlich ansieht. Kann sein, dass es weh tut. So
weh, wie der Anblick des leeren Auges der Panzerkanone am Checkpoint 300
an der Straße nach Bethlehem. Wo ist nur das Herz wahrer Menschlichkeit?
„Nun es liegt in seiner Krippen,
ruft zu sich mich und dich,
spricht mit süßen Lippen:
Lasset fahrn, o liebe Brüder,
was euch quält, was euch fehlt;
ich bring alles wieder.“ (EG 36/5)
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
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Text:
(15)Und als die Engel von ihnen gen Himmel
fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach
Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr
kundgetan hat.
(16)Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind
in der Krippe liegen.
(17)Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu
ihnen von diesem Kinde gesagt war.
(18)Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die
Hirten gesagt hatten.
(19)Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.
(20)Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles,
was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. |