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			Liebe Leser,  
			 
			Albert Camus schreibt in seinem Roman „Der Fall“: „Es ist kein Gott 
			vonnöten, um Schuldhaftigkeit zu schaffen oder um zu strafen. Unsere 
			von uns selbst wacker unterstützten Mitmenschen besorgen das zur 
			Genüge. Sie sprachen vom Jüngsten Gericht. Gestatten Sie mir ein 
			respektvolles Lachen! Ich erwarte es furchtlos: ich habe das 
			Schlimmste erfahren, und das ist das Gericht der Menschen. Bei ihnen 
			gibt es keine mildernden Umstände, sogar die gute Absicht wird als 
			Verbrechen angekreidet. Haben Sie wenigstens von der Spuckzelle 
			gehört, die ein Volk vor kurzem erdachte, um zu beweisen, dass es 
			das größte sei auf der Welt? Ein gemauerter Verschlag, in dem der 
			Gefangene steht, ohne sich rühren zu können. Die dicke Tür, die ihn 
			in seine Zementmuschel einschließt, reicht ihm bis zum Kinn. Man 
			sieht also bloß sein Gesicht, und jeder Wärter spuckt es im 
			Vorübergehen ausgiebig an. Der in seine Zelle eingezwängte Gefangene 
			kann sich das Gesicht nicht abwischen, doch ist es ihm immerhin 
			gestattet, die Augen zu schließen. Das, mein Lieber, ist eine 
			Erfindung der Menschen. Zu diesem kleinen Meisterwerk haben sie Gott 
			nicht nötig gehabt. … Ich will Ihnen ein großes Geheimnis verraten, 
			mein Lieber. Warten Sie nicht auf das Jüngste Gericht: es findet 
			alle Tage statt.“ (Reinbek 1959, S. 117) 
			 
			Warten wir, bis der Schauer uns den Rücken hinuntergelaufen ist. 
			Nein bei uns gibt es so etwas ja nicht. Es sei denn … Es sei denn, 
			wir haben selbst einmal Erfahrungen mit der sogenannten 
			Bussigesellschaft gemacht, die sich nach außen so entspannt, liberal 
			und souverän gibt, und in der dann unter dem Tisch und hinter den 
			Kulissen getreten wird. Es sei denn, wir haben schon selbst einmal 
			einen sogenannten Shitstorm im Internet erlebt, mit dem auf einmal 
			viele aus dem Schutz der Anonymität über uns herfielen. Neulich habe 
			ich eine wirklich beleidigungsfreie Definition von Dummheit 
			gefunden: Dummheit ist der Akt, jemandem zu schaden, ohne selbst 
			einen Nutzen davon zu haben. Das soll es sogar in der Kirche geben.
			 
			 
			Wie tief geht das eigentlich, wenn man feststellen muss, dass gerade 
			dann, wenn man zu Boden gegangen ist, auch die, die man für seine 
			Freunde hielt, noch kommen und zutreten? Mobbingopfer und Opfer von 
			anderen Verbrechen fühlen sich schuldig. Sie schämen sich 
			abgrundtief. Dass mir so etwas passieren konnte! So denken auch 
			viele, die z.B. Vermögen und Arbeit verloren haben und den Staat um 
			Hilfe bitten müssen. Wie barmherzig oder unbarmherzig ist unsere 
			Gesellschaft eigentlich? Martin Luther schließlich: „Wenn man einen 
			anderen anders leben sieht, als man selbst lebt, oder in Sünden 
			fallen sieht, so lacht man und hat seine Freude dran … Je heiliger 
			und eingezogen einer ist und lebt, desto mehr richtet er andere. Die 
			ehrbarsten Weiber haben die giftigsten Mäuler: sieh der! sie die! 
			Denn sie vergleichen ihr Leben mit dem der anderen.“ (Luther, 
			Evangelienauslegung, Bd. 3, S.75) 
			 
			Sollen wir also das Vergleichen aufgeben? Das Unterscheiden? Gut und 
			Böse? Da können wir auch gleich das Denken aufgeben, das vom 
			Vergleichen und Unterscheiden lebt. Dem Gleichgültigen ist alles 
			gleich, dem Dummen auch. Beide können nicht barmherzig sein. Gott 
			kann es. Gerade weil er barmherzig ist, schickt er seine Propheten 
			im Alten Testament an den Königshof, um den König auf sein Verhalten 
			anzusprechen. Gott richtet, indem er unterscheidet, was sein Wille 
			ist und was nicht. Gott ist nicht alles gleich gültig. Gerade weil 
			er ein liebender Gott ist, richtet er seine Menschen her und bewahrt 
			sie so vor dem Ritt in den Abgrund. Er zeigt ihnen das menschliche 
			Maß durch sein Gericht und seine Barmherzigkeit in gleicher Liebe. 
			Gott ist mit seiner Liebe im Recht.  
			 
			Der Christus ist das in gleicher Weise. Seid barmherzig, wie euer 
			himmlischer Vater barmherzig ist. Das ist der entscheidende Punkt: 
			Gott ist das Maß aller Dinge. Und deshalb mokiert sich der Christus 
			über Menschen, die sich in Sachen Verdammnis und Barmherzigkeit an 
			Gottes Stelle setzen. Menschen die solches tun, gleichen dem blinden 
			Blindenführer mit Absturzgarantie, dem Schüler, der sich zum Meister 
			befördert und lächerlich macht, und dem Moralisten, Volkspädagogen 
			und Gemeinplatzbewacher, der den Splitter im Auge des anderen 
			moniert, während sich bei ihm die Balken biegen. Jesus erteilt damit 
			nicht nur an dieser Stelle jeder Art von „Führerprinzip“ in seiner 
			Gemeinde und Kirche eine klare Absage.  
			 
			In den letzten Jahren waren Begriffe wie „Personalführung“, 
			„Leitung“ und „Kompetenz“ in der Kirche an der großen Glocke. Das 
			sind Begriffe aus dem Management und der betriebswirtschaftlichen 
			Organisationstheorie. Man gelobte, sie geistlich zu verstehen. 
			Passen wir bloß auf, dass in der Gemeinde nicht wieder die Stühlchen 
			aufgestellt werden, auf denen sich dann einer über den anderen 
			autoritär erhebt. Vor 80 Jahren wurde in der Barmer Theologischen 
			Erklärung festgehalten: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche 
			begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die 
			Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen 
			Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich 
			die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit 
			Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen.“ 
			(Barmen 4). „Die christliche Kirche ist (vielmehr) die Gemeinde von 
			Schwestern und Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament 
			durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt.“ (Barmen 
			3) 
			 
			Hoffentlich sind wir noch unterwegs auf der Suche nach dem Maß des 
			Menschlichen. Hoffentlich gehören wir zu denen, die aufgrund ihrer 
			Lebenserfahrungen Einsicht gewonnen haben in die Größe dieser Suche. 
			Wie wir Recht haben wollen, unser Recht behaupten und bekommen, 
			davon verstehen wir eine Menge. Aber wie wir gerecht sein können mit 
			unseren Ehepartnern, Kindern, Nachbarn, Kollegen, mit den Armen 
			unter uns und den Flüchtlingen aus der weiten Welt, davon verstehen 
			wir ebenso elend wenig, wie davon, wie man wieder ganz aufsteht, 
			wenn man zu Boden gegangen ist; wie man mit dem eigenen Scheitern, 
			den eigenen Verletzungen und der Schuld anderer umgeht; wie man sich 
			im Lauf seines Lebens den aufrechten Gang bewahren kann. Hoffentlich 
			haben wir uns nicht damit abgefunden, dass die Spuckzelle für den 
			Alltag und Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe für den Sonntag oder 
			das candle-light-dinner am Hochzeitstag da sind.  
			 
			Wenn ja hilft nur eins. Wenn unsere Hoffnung, das Maß des 
			Menschlichen zu finden, nicht irgendwann kapitulieren soll, hilft 
			nur eins: Dass wir uns unserem himmlischen Vater zuwenden. Und dann 
			lasst uns immer wieder hören vom verlorenen Sohn, der alles verlor 
			und am Ende nicht im Schweinestall, sondern in den Armen seines 
			Vaters landete. Lasst uns hören, vom Schalksknecht, der erfuhr, dass 
			es keine Schuld gibt, die so astronomisch ist, dass sie nicht 
			erlassen und vergeben werden kann. Lasst uns hören vom 
			Weltengärtner, der den fruchtlosen Feigenbaum viel lieber düngt und 
			pflegt, als ihn umzuhauen. Lasst uns hören von dem Christus, der in 
			der Spuckzelle und schließlich am Kreuz landete und sich zwar aus 
			der Ruhe, aber nicht aus der Liebe Gottes bringen ließ. Seither 
			gilt: Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, die in Christus 
			ist, unserem Herrn.  
			 
			Was der Christus kann, können wir nicht. Und gerade, wenn wir auf 
			dem Weg zu wahrer Menschlichkeit unterwegs sind - und nichts anderes 
			ist der Weg zu Gott, auf dem wir eben nicht göttlich, sondern 
			menschlich werden - dann wird es uns um so mehr schmerzen, dass wir 
			selbst und unsere Welt Menschlichkeit verfehlen. Wir sind dann immer 
			in Gefahr aus der Liebe Gottes zu fallen und zu meinen, Gott habe 
			uns im Stich gelassen und sei uns fern. Und gerade dann geraten wir 
			in ernste Gefahr auch aus der Liebe zu uns selbst und den anderen 
			Menschen, ja zum Leben überhaupt zu fallen und unbarmherzig, 
			rechthaberisch und selbstgerecht zu werden. Lassen wir uns von 
			Meister Eckhart dann streng ermahnen: Das sind immer(!) wir selbst, 
			die sich Gott in die Ferne rücken: „Gott geht nimmer in die Ferne, 
			er bleibt beständig in der Nähe; und kann er nicht drinnen bleiben, 
			so entfernt er sich doch nicht weiter als bis vor die Tür.“ 
			(Deutsche Predigten, Quint, S. 78)  
			 
			Deshalb hört doch, wie in Jesu Worten Himmel und Erde schon 
			zusammenwirken! Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet. Gebt, 
			so wird euch gegeben. Vergebt, so wird euch vergeben. Das ist nicht 
			Werkgerechtigkeit, sondern hier wirken schon jetzt Gott und Mensch, 
			Himmel und Erde zusammen. Und wenn wir weinen, weint der Christus 
			mit uns. Dann müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir in 
			unserem Miteinander in Kirche, Gemeinde und Gesellschaft wirklich 
			nichts sehen, spüren und erleben könnten von dem Frieden Gottes, der 
			höher ist als alle Vernunft und alle Unvernunft. Der bewahre unsre 
			Herzen und Sinne in Jesus Christus.  
		
      	Pfarrer Johannes Taig    
		(Hospitalkirche Hof) 
      	(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter 
      www.kanzelgruss.de)  | 
			Text: 
			Christus spricht: 
			 
			36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater 
			barmherzig ist. 
			37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt 
			nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 
			38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes 
			und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit 
			dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. 
			39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder 
			einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die 
			Grube fallen? 
			40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, 
			so ist er wie sein Meister. 
			41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den 
			Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 
			42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich 
			will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht 
			den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus 
			deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines 
			Bruders Auge ziehst! 
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