Liebe Leser,
der Schriftsteller Botho Strauß beschreibt wie immer hellsichtig
eine uns drohende Welt:
„Einige Schläfer zogen nachts mit ihrem Bettzeug durch die Straßen
und schleiften es durch Colalachen und Hundekot. Von der Leere
verstört, suchten sie nach immer mehr Platz, suchten den zentralen
von Mauern und Menschen ganz entblößten Platz (...) Wie liegt die
Stadt so wüst, hätte man mit Jeremia klagen können, o Witwe der
Leute! (...) Die verwahrlosten Schwimmbäder, die mit Brettern
vernagelten Eingänge der Leihbibliotheken, die eingestürzten
Parkhäuser. Doch nirgends in den vielen Schriftzügen, die sich über
die Häuserwände erstreckten, erkannte man das geringste Zittern, in
keinem der scharfen Sprüche rührte sich irgendein Erbarmen mit der
wachsenden Ödnis und Verlassenheit eines früher blühenden
Stadtteils. Überall dieselben zynischen Parolen, ohne Herz und ohne
Schaudern, als wollte man jene Politiker, die für die Zerrüttung der
Stadt verantwortlich waren, noch übertreffen an verschlagener
Nüchternheit.
Abends saßen junge Mütter auf ihren Balkonen, nach getaner Arbeit
saßen sie da mit hängenden Armen, auf den immer noch bepflanzten
Balkonen, den Block entlang, spärlich verteilt über die Stockwerke,
saßen da und heulten, heulten hemmungslos und herzzerreißend in den
Abend hinaus.“ (Botho Strauß, Die Nacht mit Alice, als Julia ums
Haus schlich, Hanser, 2003, S.41f.)
Eine solche Welt ist nicht aus der Luft gegriffen. Es gibt solche
Stadtteile schon, nicht nur in den übrig gebliebenen
Plattenbausiedlungen in den neuen Bundesländern. Nicht einmal der
Geiz ist mehr geil in einer solchen Welt, an der überhaupt nichts
mehr geil ist. Schauen wir also hin. Denken wir nach, bevor wir
hinterher vielleicht so denken müssen, wie es der Schriftsteller als
Motto über sein Buch setzt: „Aug in Aug sahen wir uns oft aus großer
Ferne an.“ (ebd. S.1)
Wie der Priester im Gleichnis den unter die Räuber gefallenen aus
großer Ferne sieht und sich nicht schmutzig machen will, nicht
unrein machen will, auch im religiösen Sinn. Jesus zeigt uns hier
den Glauben als Distanz und Erbarmungslosigkeit erzeugende Kraft.
Meister, was muss ICH tun, damit ICH in den Himmel komme.
Heilsegoismus hat den Blick fest in den Wolken und die Hände fest an
der Hosennaht. Strammstehen vor dem allmächtigen Gott ist seine
liebste Übung und seine liebste Entschuldigung.
Ob der Levit, der Tempeldiener, nicht nur ihn, den Verletzten, sah,
sondern auch seine Augen, ist von moralischer Unerheblichkeit. Dass
er vorübergeht ist ein Straftatbestand und schlicht und ergreifend
unterlassene Hilfeleistung. Wir finden sie mehrheitlich inzwischen
genauso wenig schlimm wie Steuer- oder Versicherungsbetrug. Ausleger
haben immer wieder darauf hingewiesen, dass unterlassene
Hilfeleistung auch strukturell daherkommt. Wenn die Straße nach
Jericho hinunter so unsicher ist, dann ist es ein Gebot der
Menschlichkeit und Aufgabe der Gemeinschaft, sie sicher zu machen.
Nicht, dass dann die Räuber besser schlafen, weil sie wissen, dass
schon ein paar Samariter vorbeikommen, die sich um ihre Opfer
kümmern. Die Kirchen und Wohlfahrtsverbände in unserem Land sind
nicht dazu da, Politikern, die einen asozialen
Manchesterkapitalismus predigen, ein ruhigeres Gewissen zu machen.
Und überhaupt kein Verständnis kann man mit dem Mitarbeiter des
Sozialamtes haben, der aus der Kirche ausgetreten ist, weil die
Kirche sich angeblich nicht genug um die kümmert, denen er aufgrund
einer rigorosen Sparpolitik nicht mehr helfen kann. Das ist die
Haltung in unserem Land: Schimpfen und Lamentieren über die Hände
der anderen, die raffen und sich nicht kümmern. Aber keinen Blick
auf die eigenen! Man kündigt Solidarität auf mit dem Hinweis auf die
mangelnde Solidarität der anderen. Und erschrickt nicht einmal
darüber.
„Aug in Aug sahen wir uns oft aus großer Ferne an.“ Dass wir uns
nahe kommen oder am nächsten, dass wir also Nächste werden, darf man
von anderen nicht erwarten. Zum Nächsten muss man selber werden.
Wahre Freunde findet man nicht, man muss selbst einem anderen ein
wahrer Freund werden. „Sei du selbst die Veränderung, die du in der
Welt sehen möchtest“, hat Mahatma Gandhi einmal gesagt. Das ist auch
eine der überraschenden Pointen unseres Gleichnisses.
Die andere ist, dass mit dem Samariter, der ein Fremder und
Andersgläubiger ist, jemand zum Freund und Nächsten wird, von dem
man es am allerwenigsten erwartet. Vielleicht hätte Jesus heute
einen islamischen Fundamentalisten für uns ausgewählt oder einen
afrikanischen Asylsuchenden oder einen syrischen Flüchtling oder –
uns selbst?!
Ja, warum nicht wir selbst? Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter
will gerade nicht unser notorisch schlechtes Gewissen in Sachen
Nächstenliebe notorisch noch ein bisschen schlechter machen. Vom
schlechten Gewissen ist noch keiner satt oder gesund geworden. Hören
wir hin, wie dieses Gleichnis vielmehr beharrlich hofft, dass selbst
die Menschen anderen zu nächsten Menschen werden, von denen es
keiner erwartet. Ja, warum dann nicht auch wir selbst?
30 Silberlinge hat es dem Judas eingebracht, seinen Herrn zu
verraten. Und einen Baum, an dem er sich aufhängen konnte. 2
Silbergroschen hat es den Samariter gekostet einen Menschen zu
retten und einen Freund fürs Leben zu finden. Er muss abends nicht
allein auf seinem Balkon sitzen und in die Nacht hinaus heulen.
Selten, dass die Bibel die Preise einmal so unverschämt nennt.
Halt, eine andere Stelle gibt es noch, wo die Bibel einen Preis
nicht verschweigt, sondern groß herausstellt: Dass es nämlich den
Christus das Leben gekostet hat, um bei uns zu sein. Um bei uns zu
sein, nicht nur an den Straßenrändern unseres Lebens, wenn wir hin –
oder unter die Räuber fallen, sondern auch am Ende, wenn wir die
Augen schließen und unsere Nächsten für immer zurücklassen. Dann
werden wir uns Aug in Aug finden mit dem, der sich zu uns
herunterbeugt, der unser Nächster geworden ist im Leben und im
Sterben, in Zeit und Ewigkeit.
Der Glaube an den Herrn, der unser Nächster geworden ist, kann daher
keine Distanz und Erbarmungslosigkeit erzeugende Kraft sein. Im
Gegenteil. Es gibt Besseres als stramm zu stehen vor dem
allmächtigen Gott. Der hat es ja selbst am liebsten, sich hinunter
zu beugen zu den Mühseligen und Beladenen, zu denen, die unter die
Räuber fallen oder allein auf ihren Balkonen sitzen und in die Nacht
hinausheulen. Wie könnten wir es da anders machen? Zwei
Silbergroschen für Brot für die Welt sind schon was. Aug in Aug ist
noch besser.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter
auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich
das ewige Leben ererbe?
26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest
du?
27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott,
lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und
von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5.Mose 6,5;
3.Mose 19,18).
28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so
wirst du leben.
29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer
ist denn mein Nächster?
30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von
Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen
ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb
tot liegen.
31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog;
und als er ihn sah, ging er vorüber.
32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah,
ging er vorüber.
33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er
ihn sah, jammerte er ihn;
34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband
sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und
pflegte ihn.
35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem
Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich
dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem,
der unter die Räuber gefallen war?
37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu
ihm: So geh hin und tu desgleichen!
|