Liebe Leser,
„Ein Albtraum: 117 m ragt der Kreidefelsen über das Meer. Nur
notdürftig ist der Rand durch eine hölzerne Barriere gesichert.
Unbemerkt ist das Kind über den Balken geklettert, nähert sich nun
Schritt für Schritt dem Abgrund. Und ich sehe die Risse im Boden,
die sich rasch verzweigen und vertiefen: Gleich stürzt wieder ein
Stück des Felsens in die See. Mit dem Kind. Gelähmt starre ich auf
die Szene, meine Füße kleben am Boden, kein Glied kann ich bewegen,
ich will rufen, warnen, um Hilfe schreien, doch auch die Stimme
versagt, aus meinem Mund kommt nur ein stummer Schrei, den keiner
wahrnimmt. Sprachlos muss ich zuschauen, wie sich das Unheil
vollendet.
Manchmal kehrt der Traum wieder - am helllichten Tag. Ein Gespräch
in größerer Runde zum Beispiel. Oder auch im kleinen Kreis:
Unmerklich ziehen Wolken auf, trübe Nebelschwaden breiten sich aus
und vergiften die Atmosphäre. Irgendeiner wirft locker ein paar
Worte hin, und ich weiß: Jetzt muss ich aufspringen, das Maul
aufreißen, Widerspruch einlegen, Einhalt gebieten. Denn: Noch ein,
zwei Worte mehr, und das Bild des Menschen, über den wir hier reden,
ist bleibend beschädigt, seine Würde verletzt, sein Leben womöglich
zerstört. Noch ein, zwei Sätze und die Lüge triumphiert, Unrecht
geschieht. Doch stumm klebe ich an meinem Stuhl, den Armen, Beinen,
Händen fehlt jegliche Kraft, die Lippen bleiben verschlossen,
entlassen allenfalls ein beifällig aufgenommenes Krächzen. Der Dämon
hält mich nicht nur an der Zunge fest, sondern fesselt den Leib und
alle Glieder, die Sinne und den Sinn. Und keiner kommt vorbei und
treibt ihn aus ...
Schiss gehabt? fragen mich manche, wenn ich ihnen von solchen
Erfahrungen erzähle. Hast du doch gar nicht nötig! Wer will dir denn
was? Ja, wer will mir denn was? Es ist nicht die Angst, versuche ich
dann zu erklären. Es ist nicht allein der Mangel an Courage. Es ist
- die Luft, die auf der Szene lastet, die Sinne lähmt und mich zum
Schweigen bringt. Es ist die Atmosphäre, deren Gift Mark und Bein
und Geist durchdringt und jeden Aufschrei, jedes Gegen-Wort,
jeglichen Wider-Spruch verstummen lässt. Es ist der Dämon, der mir
die Kehle zuschnürt und auf meiner Brust hockt wie ein Alb.“ (nach
Karl-Heinz Bieritz, GPM 3/2005, Heft 4, S.499 f.)
Kein Zweifel, sagt Jesus in unserem Predigttext, seit meinem Kommen
ist Krieg zwischen Himmel und Hölle, Gott und dem Teufel, Leben und
Tod: „Jesus ist kommen, nun springen die Bande, Stricke des Todes,
die reißen entzwei. Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden; er,
der Sohn Gottes, der machet recht frei, bringet zu Ehren aus Sünde
und Schande; Jesus ist kommen, nun springen die Bande.“ (EG 66,2)
Andererseits: Ich kenne den Teufel. Jeder der ein Feindbild hat,
kennt ihn. Ich hab auch schon gedacht: Ich bin auf der Seite der
Guten und dort sind die Bösen. Und noch in der Niederlage in meinem
Kampf gegen die Bösen, kann ich triumphieren, da die Gerechten ja
bekanntlich viel leiden müssen. Berthold Brecht war da ehrlicher:
„Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der
Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Ach, wir, die wir den
Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht
freundlich sein.“ (EG S. 457) Oder theologisch zugespitzt:
„Vergötterung des Menschen geschieht überall da, wo ein Mensch einen
anderen verteufelt. Die Tendenz zur Selbstvergötterung und
Verteufelung anderer ist nichts anderes als die Tendenz zur totalen
Selbstbezogenheit. Die Bibel nennt das Sünde.“ (Eberhard Jüngel,
Unterwegs zur Sache, Mohr 2000/3, S. 298) Da können wir von Herzen
in den Seufzer einstimmen: „Ach, wenn der Teufel nur orange und der
Christus blau wäre. Dann wären sie nämlich eindeutig zu
unterscheiden.“ (Bieritz aaO, S. 503) Aber da das leider nicht der
Fall ist, stellen wir uns gerne die Frage: Sollten wir uns
vielleicht nicht lieber aus dem Streit zwischen Gut und Böse in der
Welt heraushalten? Und die Ladehemmung beim offenen Wort gegen das
Unrecht in der Nachbarschaft und der weiten Welt für einen Segen
halten? Schließlich kennen wir aus eben dieser Nachbarschaft ja auch
Leute, die offensichtlich nicht von einem Dämon befallen sind, der
sie verstummen lässt, sondern die von der Sorte Dämon befallen sind,
der sie ohne Punkt und Komma über Passendes und Unpassendes
schwätzen lässt.
Aber so kommen wir nicht aus dem Schneider. Das berühmte „achtel
Lorbeerblatt“, auf dem man sitzen und sich aus allem raushalten
kann, war schon immer eine Illusion. So hat der Teufel mit seinem
ganzen Heer in jedem Fall gewonnen. Und vielleicht war es auf dieser
Welt schon immer so – aber nun kommt der Christus und „bricht dem
gewappneten Starken ins Haus.“ (EG 66/3) Und er tut das in jedem
Fall, indem er den Menschen vom Teufel und all seinen Dämonen
trennt. Er tut das, indem er den bösen Menschen von seinen bösen
Taten trennt. Gott unterscheidet zwischen Person und Werk. Er kämpft
nicht gegen den Sünder, sondern gegen das, was ihn zum Sünder macht.
Er tut das, indem er den Menschen von Tod und Teufel, von Lüge und
Sünde befreit. Er entreißt den Menschen seinen bisherigen Besitzern
und tritt an deren Stelle als der gute Hirte, aus dessen Hand uns
nun keiner mehr reißen kann. Das ist der Kampf und Krieg, den der
Christus auf dieser Welt um uns führt.
Und natürlich muss der Christus dabei am eigenen Leib erfahren, dass
der, der das Wort der Wahrheit spricht, in der Tat viel leiden muss.
Auch, weil die Unterscheidung zwischen Person und Werk dem Teufel
ein Gräuel ist. Ihm ist der Mensch genehm, der schon in der
Schöpfungsgeschichte wie Gott sein will. Das will der Teufel auch.
Die gottgleichen Herrscher dieser Welt hinterfragt man nicht. Ihre
Untertanen haben davon auszugehen, dass selbst ihre schlimmsten
Taten edlen Motiven entspringen. Schon die Könige des Alten
Testaments haben nicht mit den Propheten über deren Botschaft
diskutiert, sie haben sie mit Hilfe der ihnen übertragenen Macht
mundtot gemacht und in vielen Fällen sicherheitshalber gleich
umgebracht. Das wird sich auf dieser Welt wohl nie ändern. Der
Teufel diskutiert nicht über Gerechtigkeit und Wahrheit. Er bringt
die, die solches im Mund führen zum Schweigen. Im Fall des Christus
freilich, war dieses Schweigen nicht einmal durch seinen Tod am
Kreuz herstellbar. Hier haben es der Teufel und die Mächte des Todes
mit dem Fürst des Lebens zu tun, der sich aus seinem Grab erhebt und
alle Gefangenen siegreich herausführt: „Fühlst du den Stärkeren,
Satan, du Böser? Jesus ist kommen, der starke Erlöser.“ (EG 66/3)
Unser Predigttext zeigt: Nicht einmal Jesus ist der Verteufelung
entgangen. Vorsicht also vor all den Glaubenskriegern, die andere
verteufeln und gegen die Achse des Bösen, das Reich des Satans in
den Krieg ziehen und mit dem Finger auf Sodom und Gomorra zeigen.
Die die Bösen umbringen, damit die Guten übrig bleiben und Freude
empfinden beim Anblick toter Terroristen und Diktatoren. Es könnte
sich schnell herausstellen, dass sie in der falschen Armee gelandet
sind.
Der Christus hat schließlich, wie sein himmlischer Vater, nicht Lust
am Tode des Sünders, sondern dass der sich bekehre und lebe.
(Hesekiel 18/23) Dazu treibt er die bösen Geister aus, trennt den
Menschen vom Bösen, den Sünder von seiner Sünde. Ist der Sünde Feind
und des Sünders Freund. Führt ihn in die Freiheit der Kinder Gottes.
Der Christus tut dies nicht mit Gewalt, sondern durch sein Wort.
Sine vi, sed verbo, heißt daher die Kampfregel des Evangeliums. Ohne
Gewalt, durch das Wort allein.
Aber Vorsicht, beachte Hebräer 4,12: Denn das Wort Gottes ist
lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert
und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und
Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Folgenlos bleibt das Wort der Wahrheit nie. Das unterscheidet dieses
Wort von Sonntagsreden. Das Böse, die Sünde, das Unrecht beim Namen
nennen, tut weh. Das wissen Diktatoren, die Oppositionelle und
Kritiker wegsperren, foltern und umbringen. Das weiß der Dämon in
mir, der mich zu schweigen bringt und deshalb erfolgreich an meine
Feigheit, Bequemlichkeit und Angst appelliert. Und er trieb einen
bösen Geist aus, der war stumm.
Was der so Geheilte dann geredet hat, wissen wir nicht. Aber ich
kann mir gut vorstellen, was Jesus unter Zivilcourage verstanden
hätte: Den Zorn über das Unrecht, der die Stimme nicht heiser macht.
Den Zorn über das Unrecht, der aus der Liebe für den kommt, der das
Unrecht erleidet und aus der Liebe für den, der es tut. Kritik, die
Sehnsucht hat nach einer besseren Welt und nach dem Reich Gottes.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
14 Und er trieb einen bösen Geist aus, der
war stumm. Und es geschah, als der Geist ausfuhr, da redete der
Stumme. Und die Menge verwunderte sich.
15 Einige aber unter ihnen sprachen: Er treibt die bösen Geister aus
durch Beelzebul, ihren Obersten.
16 Andere aber versuchten ihn und forderten von ihm ein Zeichen vom
Himmel.
17 Er aber erkannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich,
das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet und ein Haus fällt
über das andre.
18 Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein
Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die bösen Geister aus
durch Beelzebul.
19 Wenn aber ich die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch
wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein.
20 Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so
ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.
21 Wenn ein Starker gewappnet seinen Palast bewacht, so bleibt, was
er hat, in Frieden.
22 Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so
nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt
die Beute.
23 Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir
sammelt, der zerstreut.
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