Liebe Leser,
als Schüler stand ich zum ersten Mal auf einem
der riesigen Soldatenfriedhöfe in der Normandie. Weiße Steinkreuze in
rauen Mengen und irgendwie sieht über ein halbes Jahrhundert nach dem
Krieg immer noch alles recht nach Exerzierplatz aus: Da liegen sie, fein
säuberlich aufgereiht nebeneinander: Menschen aus der ganzen Welt, eben
noch aufeinander geschossen und nun liegen sie friedlich unter den
Hügeln in Reih und Glied. Warum haben sie das eigentlich zu Lebzeiten
nicht hinbekommen, frage ich mich? Warum erst ein
vereintes Europa der Toten, bevor sich auch die Lebenden dazu bequemen?
Sollte es mit dem Himmel etwa genauso sein wie mit den Gräberfeldern?
Sollten erst die Toten gemeinsam im Himmel das Abendmahl feiern, was die
Lebenden auf Erden getrennt in evangelisch und katholisch nicht
hinbekommen? Nun, ich werde heute nicht zu einem
billigen Frieden aufrufen, nach dem Motto: Vergessen wir die
Unterschiede. Nein, ich werde um einen
schmerzhaften Frieden raten, zu einem Frieden, wie ihn Jesus Christus
vorschlägt. Ich lese den Predigttext aus dem Evangelium nach Lukas, 11.
Kapitel.
Jesus heilt einen Kranken, dem ein böser Geist den Mund verstopft hatte.
Und sofort wird manchen unheimlich – nicht wegen des bösen Geistes.
Nein, an den hatten sie sich gewöhnt, der störte sie schon nicht mehr
weiter. Der Kranke war halt stumm. Und Stumme sind angenehme Nachbarn,
wie Tote. Unheimlich wird den Umstehenden nicht
durch den angenehm stummen bösen Geist, sondern wohl eher durch die
plötzliche Lebendigkeit des Geheilten. Er war mundtot gewesen. Wer hatte
ihn wohl mundtot gemacht? Ein BÖSER Geist, also kein gesundes Schweigen.
Vielleicht hat er es selbst vorgezogen nicht mehr zu reden, um des
lieben Friedens willen. Vielleicht wurde er von den Umstehenden mundtot
gemacht. Wer weiß, was er auszuplaudern hat?
Und schon prasseln die abstrusesten Vorwürfe auf Jesus ein:
„Du stehst mit dem Teufel im Bunde. Nur deshalb gehorchen dir die
bösen Geister!“
Jesus antwortet recht bodenständig, beinahe deftig und äußerst
überzeugend: „Nicht mal Satan ist so blöd, dass
er mich losschickt, um Gutes zu tun. Schließlich will er ja das Böse.
Wenn der Teufel gegen sich selbst arbeiten würde, wäre er bald am Ende.
Jedes Reich zerbricht, wenn es mit sich selbst uneins ist.
Wenn ich jemanden heile, dann ist das was Gutes – auch oder
gerade deshalb, weil er plötzlich zu reden anfängt. Wenn also Gutes
dabei herauskommt, dann wird's wohl von dem
kommen, von dem alles Gute kommt: Gott.
Und nun überlegt, liebe Kritiker: Wenn das, was ich getan habe von Gott
kommt, ... dann ist das Reich Gottes zu euch gekommen.
Überall wo Gutes geschieht, da ist das Reich Gottes. Gott bricht
ein in die kalten Paläste des Schweigens, löst die Fesseln und Knebel
der Eingesperrten, und vorbei ist's mit der Ruhe.
Ihr beschimpft Gott als Teufel, weil er Gefesselte befreit, weil
er mundtot Gemachte reden lässt? Wer Menschen
mundtot macht, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der
zerstreut.“
Das gilt auch in der Ökumene. Kein Blatt vor den
Mund! Wer Menschen mundtot macht, wer Unterschiede unter den Teppich
kehrt, der ist gegen mich, spricht Jesus! Der
Teufel sorgt für Einigkeit in seinen Palästen, in dem er Menschen
mundtot macht. Wer anderen oder sich selbst den Mund verbietet, wird, ob
er will oder nicht zu einem BÖSEN Geist.
Das gilt für die Gleichschaltungsversuche Hitlers genauso wie für
Medien, die manche zu Wort kommen lassen und andere nicht. Es gilt
genauso für die katholische Kirche, wenn sie autoritär Lehre festsetzen
will. Und es gilt auch für unsere Kirche, wenn sie sich selbst mundtot
macht, indem sie jedem gefallen will. Ich glaube jeder und jede von uns
findet auch im eigenen Leben böse Geister am Werk – vielleicht in bester
Absicht – sozusagen um des lieben Friedens willen.
Jesus Christus aber ermahnt uns, seinen Frieden nicht mit diesem
„lieben“ Frieden zu verwechseln, der durch die Hallen des Schweigens
weht. Der Einigkeit in den Hallen der Toten fehlen Recht und Freiheit.
Einigkeit und Recht und Freiheit gehören zusammen. Einigkeit ohne
Freiheit ist das Werk böser Geister – auch in der Kirche.
Freiheit und Einigkeit gehören zusammen.
Einigkeit ohne Freiheit führt in die eisigen Paläste des Schweigens.
Freiheit ohne Einigkeit endet in Krieg und Streit, letztlich auf
den Soldatenfriedhöfen, wo wieder alles schweigt: „Jedes Reich, das mit
sich selbst uneins ist, wird verwüstet, und ein Haus fällt über das
andre.“ Das gilt wohl auch für die Kirche.
Nachdem Jesus dem Mundtoten seine Stimme zurückgegeben hat, wendet er
sich deshalb dem Thema Einheit zu: „Jedes Reich, das mit sich selbst
uneins ist, wird verwüstet, und ein Haus fällt über das andre.“
Das gilt für das Reich Satans wie für jedes Reich - auch für das
Reich Gottes: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht
mit mir sammelt, der zerstreut.“ Ich meine, recht
viel deutlichere Worte zum Thema „Einheit der Kirche“ lassen sich nicht
finden.
Aber wie soll das gehen: Klappe auf und trotzdem Einigkeit?
Beim Thema gemeinsames Abendmahl wird das besonders deutlich.
Hier prallen die Gegensätze zwischen katholischer und den evangelischen
Kirchen besonders heftig aufeinander, und es tut gleichzeitig besonders
weh. Weil doch gerade das Abendmahl das Bild für die Gemeinschaft der
Christen schlechthin ist.
Nur ein böser Geist schweigt die Gegensätze tot.
Die Frage nach dem Amt in der Kirche, die evangelische und katholische
Christen trennt, ist wichtig. Die Frage, ob eine
Kirche geschwisterlich oder hierarchisch aufgebaut ist, ist auch in
Bezug auf die Wortauslegung wichtig. Sagt einer oben, was richtig ist
oder haben wir alle um die Wahrheit zu ringen?
Solche Konflikte müssen im Sinne Jesu Christi ausgetragen werden. Wer
vom bösen Geist des Totschweigens geheilt worden ist, der redet bestimmt
auch Unangenehmes. Offensichtlich will Jesus das, wenn er den Stummen
heilt. Es muss also geredet werden – auch heftig
und kontrovers.
Aber sollte es nicht dennoch möglich sein, dass wir, die Kirche Jesu
Christi gemeinsam am Tisch des Herrn feiern – auch wenn wir
unterschiedlicher Meinung sind, was wir da feiern. Auch wenn wir
unterschiedlicher Meinung sind, ob wir da korrekt und berechtigt feiern.
Auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, wer kommen darf und wer
nicht.
Ich meine, es sollte doch möglich sein, sich gemeinsam um den Tisch des
Herrn zu versammeln, ohne wichtige Differenzen unter den Tisch zu kehren
und ohne zu klären, wer letztlich recht hat. Jesus jedenfalls hält das
für möglich, indem er Mundtoten das Reden beibringt – auch auf die
Gefahr hin, dass sie Unangenehmes sagen. Es
sollte doch möglich sein, sich gegenseitig zu sagen: Ich meine, du hast
Unrecht. Und einst im Himmel wirst selbst du einsehen, dass ich recht
habe. Dann wird dir unser Herr schon die Augen öffnen! ... Aber lass uns
zusammen feiern, unser Herr wird's schon richten.
Lass uns zusammen feiern, bevor wir im Himmel dann doch miteinander
feiern und bereuen, es nicht schon früher getan zu haben – wie die
Soldaten auf den Friedhöfen.
Sich wacker streiten, ohne faule Kompromisse und dennoch zusammen
feiern, vielleicht meinte Jesus ja das, als er sagte: ... dann ist das
Reich Gottes zu euch gekommen. Der nun beinahe
zweitausendjährige Versuch, eine Einheit der Kirche über eine
einheitliche Lehre zu erreichen, wäre dann ein Irrtum gewesen. Jesus
ruft zu einer Einheit über das gemeinsame Leben und Feiern auf – über
die Wahrheit darf und soll heftigst gestritten werden. Über die Lehre
muss man sich nicht einig werden – im Gegenteil: Um die Wahrheit muss
gerungen werden.
Zu solcher schmerzhaften, streitbaren Einheit in Freiheit verhelfe uns
der allmächtige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Vikar Michael Krauß
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Text:
11,14 Und er trieb einen bösen Geist aus, der
war stumm. Und es geschah, als der Geist ausfuhr, da redete der Stumme.
Und die Menge verwunderte sich.
11,15 Einige aber unter ihnen sprachen: Er treibt die bösen Geister aus
durch Beelzebul, ihren Obersten.
11,16 Andere aber versuchten ihn und forderten von ihm ein Zeichen vom
Himmel.
11,17 Er aber erkannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich,
das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet, und ein Haus fällt über
das andre.
11,18 Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein
Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die bösen Geister aus durch
Beelzebul.
11,19 Wenn aber ich die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch
wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein.
11,20 Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so
ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.
11,21 Wenn ein Starker gewappnet seinen Palast bewacht, so bleibt, was
er hat, in Frieden.
11,22 Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so
nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die
Beute.
11,23 Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir
sammelt, der zerstreut.
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