Liebe Leser,
zum Beten kommen viele nur in solchen Momenten, in denen die Worte
eigentlich am Ende sind, wo alle Hoffnung verblasst ist, wo häufig
Angst einem die Kehle zuschnürt. In solchen Momenten ist unsere
Seele ein einziges Gebet: leise und unhörbar oder laut und ungestüm
wie ein Schrei in den Wind. Aber oft bleibt diese Erfahrung isoliert
wie eine Momentaufnahme. Sie vergeht, sobald sich die Angst legt
oder der Schmerz nachlässt und die Welt wieder im vertrauten Licht
der Normalität erscheint.
Wozu beten? In den meisten Situationen des Lebens erklärt sich das
für die Mehrzahl der Menschen nicht von selbst. Dafür ist das Beten
von Kindheit an zu wenig eingeübt, hat es im Alltag vieler Menschen
keinen festen Platz, gilt gar in den Augen so mancher als Welt- und
Realitätsflucht.
Freilich, von selbst hat sich das Beten im Grunde noch nie
verstanden. Nicht umsonst wenden sich die Jünger am Anfang unseres
Predigtabschnittes an ihren Meister mit der Bitte: „Herr, lehre uns
beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte.“ Und Jesus lehrt sie
das Vaterunser. Er schenkt ihnen Worte, mit denen sie beten können.
Worte, die alles enthalten, was nötig ist. Kurz und prägnant. Worte,
die sich einfügen in jeden Tag, egal, wo man ist, mit sich allein
oder gemeinsam mit anderen. Worte, die tragen: in Glück und Freude
ebenso wie in schwerem Leid und in tiefer Trauer. Worte, die sich
niemals abnutzen, selbst wenn man sie jeden Tag mehrmals spricht.
Bei diesen Worten, beim Vaterunser, lässt es Jesus jedoch nicht
bewenden. Denn beim Beten geht es um mehr als passende Worte, die
richtige Technik oder konsequente Übung. Freilich, zu diesen Fragen
schweigt der Lehrer des Gebets. Nichts sagt er über Zeiten zum
Gebet, über Rituale beim morgendlichen Aufstehen und beim
Zubettgehen am Abend, über Tischgebete oder andere Formen von
Frömmigkeit und Spiritualität. All das ist nebensächlich vor dem
Hintergrund des entscheidenden Problems bei jedem Gebet: Wozu beten?
Ist es wirklich mehr als ein Selbstgespräch? Wird es erhört? Und was
dürfen wir erwarten an Reaktion und an Antwort?
Spätestens jetzt erkennen wir das Unerhörte eines jeden Gebetes,
jenen riesigen Abstand zwischen Himmel und Erde, zwischen dem
allmächtigen Gott und uns ohnmächtigem Menschen. Ins Bewusstsein
tritt die Winzigkeit jedes menschlichen Anliegens, das daher
gemurmelt oder gar nur in der Stille vor sich hingedacht wird vor
der Größe dieses Herrn über das ganze Universum. Die eigenen so
brennenden Bitten erscheinen wie ein kaum hörbarer Einzelton im Chor
ungezählter Stimmen. Ein unaufhörlich anschwellendes Raunen von
Bitten und Klagen ertönt über dem ganzen Erdball – über dieser
kleinen Kugel in den Weiten des Weltalls. Der Kontrast tritt hervor
zwischen der Ungeduld des Herzens im hektischen Stammeln der Bitten
und dem unsagbar langen Atem der Ewigkeit im Schweigen der
unendlichen Räume. Im Grunde ist jedes Gebet eine einzige Anmaßung.
Und diese Anmaßung bringt Jesus in seinen Vergleichen auf den Punkt.
Gleichzeitig führt er dabei behutsam und werbend in den Kern des
Betens ein. So erweist er sich als wahrer Lehrer der Zwiesprache mit
Gott. Im Kern ist es eine Kunst der Empathie, der Einfühlung, in die
Jesus seine Zuhörer einübt. Fast unmerklich ebnet sie den Weg zum
Gebet.
Anmaßend ist der erste Vergleich ganz direkt. Den Zuhörer lässt
Jesus dabei aus der unbehaglichen Perspektive des Bittenden auf die
Szene schauen. Es gehört Mut und eine gewisse Unverfrorenheit dazu,
mitten in der Nacht den Freund zu wecken, um Brot von ihm zu
erfragen. „Wer bist du eigentlich, dass du dir so etwas
herausnimmst?“ wäre eine zu erwartende Reaktion auf das nächtliche
Klopfen. Freundschaft hin oder her - das ist eine Unverschämtheit!
Oder mit den Worten der Schrift: „Ich kann nicht aufstehen und dir
etwas geben!“ Da wird die Not des Bittenden wird geradezu leibhaft
spürbar. Sein Flehen bleibt unerhört. Mit leeren Händen wird er
zurückkehren müssen zu seinem Gast. Was für eine Schande!
Aber jetzt bringt Jesus seine Zuhörer dazu, sich in den Freund
einzufühlen. Ja, das Band der Freundschaft wird strapaziert, aber
das unverschämte Drängen lässt ihn dann doch aufstehen - und sei’s
nur, dass er danach wieder seine Ruhe hat! Ja, der allmächtige Gott
lässt sich vom Drängen unseres Gebets bewegen! Und jetzt geht Jesus
mit uns einen zweiten Schritt. Denn dieser allmächtige Gott ist wie
ein liebender Vater. Und ein jeder von uns weiß oder hat zumindest
eine Ahnung davon, was ein wirklich liebender Vater ist! Denn das
kann kein wirklicher Vater tun: Wenn sein Kind ihn um etwas zu essen
bittet, ihm eine Schlange und einen Skorpion in die geöffnete Hand
zu drücken. Was für eine grauenhafte, ja empörende Vorstellung!
Nein, wie ein Vater mit ganzem Herzen für sein Kind sorgt, so ist
der Herr über Zeit und Raum da für ein jedes seiner Kinder. Mit
seiner unbändigen Kraft, mit der er das Universum bis in den letzten
Winkel durchwirkt, sorgt er sich um die geringsten Anliegen und um
die größten Ängste eines kleinen Menschenlebens. Er lässt sich
ansprechen, in einfachen geprägten Worten wie dem Vaterunser, in
ängstlichem Stammeln und in anmaßenden Anklagen. Der Allerhöchste
lässt sich beschimpfen und anschreien. Nichts ist ihm zu viel, nicht
einmal die Belanglosigkeiten unserer ganz gewöhnlichen Tage. Für
jedes einzelne Herz mit seinem unverkennbaren Ton ist er da. Er
hört. Jede einzelne Stimme erhört er wie ein Liebender das Geschöpf
seiner Sehnsucht. Wie ein Vater seinem geliebten Kind das Ohr leiht,
so ist Gott da für jeden Menschen. Im Grunde sogar noch unendlich
viel mehr als das. Denn irdische Väter erhören nicht jede Bitte.
Nicht alle geben ihren Kindern tatsächlich Brot und Wärme, sondern
manchmal giftige Gleichgültigkeit und Kälte. Das ist das Unfassbare,
Anmaßende dieser Worte Jesu. Gott erhört jede Bitte, jedes Seufzen
und Sehnen. Gott erhört, und er gibt sein Bestes - seine verändernde
Kraft, die Weite seines Herzens, seine Liebe, die jede Leere zu
erfüllen vermag. Gott gibt seinen Geist! Das ist die Verheißung,
unter der jedes Reden mit Gott steht.
Beten ist darum viel mehr als die naive Vorstellung, Gebetserhörung
geschehe nach dem Schema von Bitte und entsprechender Erfüllung. Das
ist eine Erwartung, die fast notwendig enttäuscht wird. Sie ist
wenig einfühlsam in Gottes Wirken. Beten ist Anklopfen. Es ist
Suchen und Bitten mit ganzem Herzen, mit aller Kraft. Beten ist die
Kunst der Einfühlung in Gottes Wesen, in sein Vatersein. Beten ist
die Kunst der Einfühlung in Jesus Christus, der uns den Vater zeigt.
Solche Einfühlung öffnet uns das Herz für Gottes verändernde Kraft,
den Heiligen Geist.
Darum kann im Beten und Bitten alles vor Gott gelangen in größter
und manchmal in erbärmlichster Konkretheit: das Brot, die
Gesundheit, die Freude und das Lachen, die Angst, die Schuld und die
Trauer. Das ganze Leben wird hineingenommen in dieses Gespräch mit
Gott, so wie das Herz es gerade empfindet. Himmelhoch jauchzend,
voll Wut und Empörung, erschöpft und traurig. Aber so, wie es
hineingenommen wird in das Gebet im Bitten, im Suchen und Anklopfen,
so bleibt es nicht. Es wird erhört. Die Sehnsucht in unserem Herzen
findet in der Sehnsucht des himmlischen Vaters ihren
Gesprächspartner und verändert uns, weitet den Horizont, öffnet den
Blick zum liebenden Vater und weckt in uns jenes kindliche
Vertrauen, das sich an der Hand des Vaters geborgen und gehalten
weiß. Nein, er lässt uns nicht los! Selbst wenn wir scheinbar nichts
in der Hand haben. So wird uns gegeben, wenn wir bitten. So werden
wir finden in allem Suchen. Wir klopfen an und eine Tür wird sich
auftun, auch wenn sie wahrscheinlich den Spalt zu anderen Räumen
öffnet, als wir am Anfang erwartet haben.
Beten ist eine Kunst der Einfühlung, die uns am Ende unser Leben
stärker mit Liebe und Hingabe empfinden lässt. Beten richtet uns auf
und lässt uns gehen mit der Gewissheit, dass keine einzige Regung
von Freude und von Traurigkeit unerhört bleibt. Denn es wird Teil
eines allumfassenden Gesprächs mit Gott. Und dieses Gespräch
verändert uns, je mehr wir uns darauf einlassen - in den schönsten
Momenten des Lebens und in den ganz normalen Augenblicken. Aber vor
allem in den Zeiten, in denen wir diese verändernde Kraft am
nötigsten haben.
Das sehen wir am Ende an Jesus selbst. Er lehrt uns das Beten, wo
die Worte eigentlich am Ende sind: Am Ende sind die Hände leer.
Nicht einmal ein Brotkrümel ist noch da, den er zwischen seinen
Fingern hin und her bewegen kann. Die Hände ertasten einander.
Zaghaft und zitternd, obwohl sie darin so geübt sind. Suchende,
stammelnde Worte hallen durch den Garten Gethsemane. Voller
Ungewissheit klingt es, ob Gott sie hört da draußen in den Weiten
des Raums oder im Innersten der Dinge. Trotz der Verzweiflung kommen
die Worte, die Bitten, das Flehen. Am Ende ist Jesus ruhig,
verwandelt, getrost. Die Hände sind immer noch leer, aber das Herz
ist erfüllt, obwohl der Weg noch schwer wird. Er hat von dem Besten
geschmeckt, das ein Mensch zwischen Himmel und Erde erwarten kann:
erhört, geliebt und gehalten zu sein vom Grund unseres Lebens. Und
in einem Gespräch zu sein, das weiter geht, selbst über das Ende
unserer Tage hinaus.
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text: 5 Und er (Jesus) sprach
zu ihnen: Wenn jemand unter euch einen Freund hat und ginge zu ihm
um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei
Brote;
6 denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe
nichts, was ich ihm vorsetzen kann,
7 und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine
Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich
liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben.
8 Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas
gibt, weil er sein Freund ist, dann wird er doch wegen seines
unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, soviel er bedarf.
9 Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so
werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.
10 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet;
und wer da anklopft, dem wird aufgetan.
11 Wo ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn, wenn der ihn um
einen Fisch bittet, eine Schlange für den Fisch biete?
12 Oder der ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion dafür
biete?
13 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben
könnt, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist
geben denen, die ihn bitten!
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