Liebe Leser,
„Ich kann nur vor Gott treten, nur vor die allergrößte mir versagte
Gegenliebe (…) Ich kann nur zu Dir sprechen. Haltlos, hemmungslos,
abfließend wie ein Strom. Denn jeder, der mit Antwort gäbe, hätte
meine Frage nicht verstanden. Du aber bist das unerweichliche
Schweigen, dem der Begriff meiner Verworfenheit entsprang. Du hörst
auch, dass ich Einschluss bin im Stein; ohnmenschlich schon und doch
noch Stimme. Du hörst, dass ich nicht heute schreie. Denn hier bin
ich, aber nicht jetzt (...)
Ich will Deine Wunder nicht kennen, ich will Dir nicht dienen. Ich
rede zu Dir, weil ich so bloß bin, wie nur einer vor Dir bloß sein
kann (...) Ich bin ein Fetzen zerplatzter Ballon in der
Hochspannungsleitung. Ich bin ein vom Silvesterböller im Kahlbaum
hängengebliebenenes Silberpapier (...) Aber mein Herz, von dem kein
Stein mehr fallen will, saß wie ein Kind auf der hohen Mauer, von
der es allein nicht wieder herunterkam, die Kehle voll ungefälliger
Töne.“ (Botho Strauß, Fragmente der Undeutlichkeit, Hanser Akzente,
1989, S.53 ff.)
Wer redet so mit den Worten des Schriftstellers? Zweifellos einer,
den ein Verhängnis getroffen hat. Einer, der seine Verlorenheit als
Dilemma empfindet und begreift. Ein Dilemma, das keinen Ausweg zu
Gott und den Menschen mehr offen lässt. Und so dunkel und
schmerzvoll solche Erfahrungen sind, so tröstlich ist es, dass Jesus
in seinen beiden Gleichnissen uns gerade auch in solcher
verhängnisvollen Verlorenheit in den Blick, ja in den liebevollen
Blick nimmt.
Ein Ballon, der in der Hochspannungsleitung zerplatzt und hängen
bleibt, ein Stück Silberpapier, das sich im kahlen Baum fängt, eine
Münze, die fällt, in eine dunkle Ecke kullert und dort liegen
bleibt; ein Schaf, das sich von einem Augenblick zum andern ohne
Hirte und Herde wiederfindet, ohne Chance zu beiden zurückzufinden.
Es sei denn, dass es gefunden wird.
Nein, lieber Evangelist Lukas, das mit dem Sünder, der Buße tut,
also aus eigenem Entschluss umkehrt wie der verlorene Sohn - das hat
Jesus wohl an anderer Stelle gesagt. Gott sei Dank kommt für Jesus
der Sünder, der Verlorene, nicht nur als einer in Betracht, der
notorisch und absichtlich am Willen Gottes vorbeilebt, im Elend zur
Vernunft kommt und durch Gottes Güte nach Hause findet.
Auch ein großes Evangelium, aber nicht das ganze. Da muss die Frage
erlaubt sein, ob es nicht eine theologische Engführung ist, wenn in
der Verkündigung der Mensch nur auf seine Verantwortung, seine
Fähigkeit zur Einsicht und Bekehrung angesprochen wird. Für die
einen ist das eine notwendige, für viele andere eine lieblose und
unbarmherzige Wahrheit! Wir müssen die Eigenverantwortung der Bürger
in unserem Land stärken, heißt es zur Rechtfertigung einer niedrigen
Grundsicherung und höherer Zuzahlungen im Gesundheitswesen. Für die
einen eine berechtigte, für andere oft eine lieblose und
unbarmherzige Forderung!
Ein junger Unternehmer, der nach der Wende in den Osten ging und
sich dort ein kleines Geschäft aufgebaute hatte, erzählte mir, wie
er in Konkurs geriet, weil ein Auftraggeber die Rechnung nicht
bezahlen konnte. Er schloss seine Schilderung mit den Worten: Ich
sah das Verhängnis auf mich zukommen und konnte nichts machen. Da
habe ich erfahren wie das ist, wenn man nicht weiß, ob man sich
morgen was zu essen kaufen kann. Mein eigener Vater hat mir jede
Hilfe verweigert. Du bist ein Versager, sagte er, sieh zu, wie du da
alleine wieder herauskommst.
Wie schauen wir, wenn wir zu den oberen zwei Dritteln unserer
Gesellschaft gehören, auf die da unten, vielleicht gescheiterten,
gestrandeten, im Abseits gelandeten? Und wie schaut man auf uns,
wenn wir unten sind? Versager, selbst schuld, wertlos, ersetzbar?
Nobody knows the troubles I’ve seen. Nobody knows, but Jesus. So
sangen die Negersklaven auf den Baumwollfeldern der Südstaaten
Amerikas. Keiner kennt die Nöte, die ich erlebt habe, keiner, außer
Jesus. Und so schaut Jesus in die Runde der Zöllner und Sünder, die
um ihn versammelt sind und sieht die in ihrer Verlorenheit
gelandeten und gestrandeten, die keine Strafpredigt und keine
Bekehrungsappelle brauchen, sondern die beiden Gleichnisse von der
zu Boden gefallenen Münze und dem Schaf, das in verhängnisvolle
Verlassenheit geraten ist.
Es gibt einen, der nach euch sucht, sagt Jesus zu ihnen und uns, bis
er euch findet. Es gibt einen, der euere Hilflosigkeit, euere
Ausweglosigkeit, euer Dilemma kennt und euch von dort herausbringt
und nach Hause trägt. Auch wenn ihr schon Einschluss seid im Stein,
ohnmenschlich schon und vielleicht nur noch Stimme. Denn der nach
euch sucht, dem ist kein Weg zu weit und keine Ecke zu finster.
Das ist euer Gott. Der gibt sich in seinem Reich nicht mit einer
Zwei-Drittel-Gesellschaft, nicht mit einer 90%- und auch nicht mit
einer 99%-Gesellschaft zufrieden. Denn aus Gott sind alle Dinge und
in ihm gehören sie zusammen als ein heiliges Ganzes, aus dem nichts
herausgebrochen und vermisst werden soll. Das ist das unergründliche
Geheimnis seiner Liebe. Sie will und kann nichts verloren geben.
Auch dich nicht. Auf das seine himmlische Freude vollkommen sei, wie
er vollkommen ist.
Das ist keine letzte Wahrheit für ausweglose Situationen. Es ist die
erste Wahrheit unseres Lebens und Glaubens. Ob wir noch etwas davon
verstehen? Wir, die wir uns so selbstverständlich für die Schmiede
unseres Glücks und die anderen für die Schmiede ihres Unglücks
halten. Wir, die so oft vergessen, dass das Leben und das Glück und
die Fähigkeit, etwas zu schaffen, ein Geschenk ist und so manches
eigene und fremde Unglück ein Verhängnis? Verstehen wir, was Jesus
uns sagen will?
Es darf bezweifelt werden. Alle Jahre zur Urlaubszeit sehen wir die
Bilder von Hunden, die auf Autobahnrastplätzen ausgesetzt und nach
dem Urlaub durch einen anderen ersetzt werden. Ihre fassungslose
Hilflosigkeit und die Erbarmungslosigkeit ihrer Besitzer sind zum
Heulen. Noch mehr zum Heulen ist es, wenn Menschen ohne
wirtschaftlichen Nutzwert in die Armut geschickt werden und vom
Sparen bei den Schwachen, Armen und Kranken die Genesung von
Wirtschaft und Konjunktur erwartet wird. Völlig widersinnig ist es,
dass das Aussetzen von Haustieren mit 25.000 € Geldstrafe bedroht
wird und mit dem anderen eine ganze Kaste von Beratern gutes Geld
verdient.
Aber vielleicht ist auch das ein Dilemma. Eine Gesellschaft von
Menschen, eingemauert in ihre Probleme, scheinbar ohne Ausweg, denen
die Angst langsam die Seele auffrisst.
Und genau dahinein sprechen die tröstlichen Gleichnisse Jesu. Die in
die finstere Ecke gefallene Münze, das verlorene hilflose Schaf
bleiben nicht ungesucht und ungefunden. Es gibt kein Verhängnis, das
ohne Hoffnung auf Gott bleiben muss. Der gibt keinen verloren. Und
so steht hinter all unseren Problemen, Tiefen und Abgründen Gott
selbst auf als hoffnungsvolles und erfreuliches Geheimnis unseres
Lebens. Und wenn er uns gefunden hat, trägt er uns voller Freude
nach Hause. Das steht fest.
Und vielleicht fällt dann auch bei uns der Groschen, dass sich der
Wert einer Gesellschaft daran bemisst, wie sie mit ihren schwächsten
Glieder umgeht. Vielleicht bekommen auch wir den Blick des Hirten
und der suchenden Frau für das Verlorene um uns herum, das gesucht
und gefunden werden will. Nicht weil das alles zum Heulen ist,
sondern aus Freude an Gott.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
1 Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und
Sünder, um ihn zu hören.
2 Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen:
Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er
eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste
lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet?
5 Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern
voller Freude.
6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und
spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf
gefunden, das verloren war.
7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen
Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der
Buße nicht bedürfen.
8 Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon
verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit
Fleiß, bis sie ihn findet?
9 Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und
Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen
Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte.
10 So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen
Sünder, der Buße tut.
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