Liebe Leser,
unbegreiflich scheint es für viele moderne
Zeitgenossen zu sein, dass es in unserer modernen Welt überhaupt
noch Unvorhersehbares und Unvorhersagbares gibt. Wer hat zum
Beispiel schon vorhergesehen, dass sich in diesem Jahr
Hunderttausende Flüchtlinge Richtung Deutschland in Bewegung setzen?
Unsere Urahnen hatten noch eine Ahnung davon, dass das Leben dem
Himmel und der Erde abgetrotzt war. Heute meinen wir ein Recht auf
Stütze und Wohlfahrt und Sicherheit in allen Lebenslagen zu haben.
Wenn der nächste Brocken aus den Asteroidengürteln unseres
Sonnensystems Kurs auf die Erde nimmt, um nicht zum ersten Mal in
der Erdgeschichte das Leben zu neunzig Prozent auszulöschen, wird es
nicht helfen, ihm die Faust entgegenzurecken. Hans Magnus
Enzensberger: „Erst wenn die Hybris ihren Lauf genommen hat, wird
die Einsicht in die eigenen Grenzen, vermutlich zu einem
katastrophalen Preis, notgedrungen die Oberhand gewinnen.“
So realistisch sieht das die Bibel auch. Jesus zitiert, die
Noahgeschichte, in der fast die gesamte Menschheit einer
schrecklichen Sintflut zum Opfer fällt, als hätte Gott bereut, dass
er den Menschen überhaupt gemacht hat. Jesus zitiert gleich noch die
Katastrophe von Sodom hinzu – und stellt beide in einen völlig
ungewohnten und überraschenden Zusammenhang. Er erzählt vom
Einbruch, ja Zusammenbruch einer scheinbar ewigen Normalität. Sie
aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie
bauten, sie heirateten, sie ließen sich heiraten und wenn sie nicht
gestorben sind, dann leben sie noch heute. Und dann kommt alles ganz
anders, aus heiterem Himmel.
Die Pointe bei Jesus ist nun aber nicht Tod und Verderben, sondern
das genaue Gegenteil. Gott sei Dank! Die Pointe ist das
überraschende Kommen des Gottesreichs. So wie die zitierten
Katastrophen kommen, ohne Vorboten, ohne Anzeichen, ohne Vorwarnung,
so kommt das Reich Gottes in die Welt. Nicht als böse, sondern als
freudige Überraschung.
Freilich werden wir auch hier nicht gefragt. Auch hier sind wir
nicht beteiligt. Auch hier gibt es keine stetige Entwicklung, an
deren Ende das Reich Gottes steht. Es sollte zur eisernen Ration an
Geschichtserfahrung der Christenheit gehören, dass man das Reich
Gottes und seine erfreulichen Verhältnisse nicht aus eigener Kraft
schaffen oder gar herbeizwingen kann. Das Himmelreich kommt von
selbst, wann und wo es will. Man muss es nehmen, wie es kommt.
In einem Magazin fand ich das Bild eines sehr spärlich behaarten
Mannes. Darunter war zu lesen, er wäre schon sechsmal vom Blitz
getroffen worden. Er habe jedes Mal so ein komisches Kribbeln
gespürt. Aber dann sei es jedes Mal schon zu spät gewesen.
Jedenfalls machte der Mann einen recht fröhlichen Eindruck. Vom
Blitz getroffen. Vom Donner gerührt. So muss man sich das Kommen des
Himmelreichs vorstellen.
Und da müssen wir uns schon von einem Ausleger fragen lassen: „Wo
handelt ihr denn danach? Wo werden solche utopisch -
eschatologischen Worte mit Leben gefüllt? Steht ihr nicht selbst
unter dem Regiment der Chefsessel? Wenn die Antwort enttäuschend
ausfällt, hilft die Entschuldigung wenig, es menschele eben überall,
und in Kirche und Gemeinde gehe es jedenfalls nicht schlimmer zu als
anderswo. So reden Leute, die sich selbst sogar noch das
Enttäuschtsein abgewöhnt haben. Wer das Wort vom Reich Gottes in den
Mund nimmt, kann sich nicht mehr ‚anderswo‘ verorten. Das Reich
Gottes ist ‚mitten unter euch‘, ‚in dem Raum, der der Eure ist‘ - so
sagt Jesus zu denen, die skeptisch nach dem Wo und Wann fragen. Und
denen, die es voll Ungeduld mal hier, mal da, aber wiederum stets
anderswo vermuten, hält Jesus ein apokalyptisches Bild entgegen: Der
Menschensohn werde an seinem Tag wie ein ‚Blitz‘ erscheinen, der den
Himmel von einem Ende zum anderen erleuchtet. In beiden Fällen gibt
es kein Von-sich-weg-Verweisen, keine Ausflucht, keine
Entschuldigung.“ (Dr. Andreas Krebs, GPM, 3/2015, Heft 3, S.493)
Ja, bitte, wer von uns möchte schon gerne vom Blitz getroffen
werden? Wir halten es für nicht besonders spannend, bei Gewitter
nicht unter einem Blitzableiter zu sitzen. Und deshalb haben wir in
unserer Kirche inzwischen auch so viele und mächtige Berater, die
uns vor allem, was uns treffen könnte, eindringlich warnen,
nachhaltiges Wirtschaften empfehlen und uns den sparsamen
schwäbischen Häuslebauer als leuchtendes Vorbild vor Augen malen – der
doch in Wahrheit niemand anders ist als der reiche Kornbauer im
Gleichnis (Lukas 12,16ff.), der seine Schäfchen vermeintlich im
Trockenen hat und zu dem Jesus am Ende sagen muss: Du Narr! Warum
nur gibt es in unserer Kirche inzwischen immer mehr Buchhalter und
reiche Kornbauern und immer weniger Menschen, die ihr Leben als
eschatologische Existenz begreifen, und Gottvertrauen nicht für
gefährlichen Leichtsinn halten?
Gerade deshalb können wir der Frage, wo und wann das Reich Gottes
unter uns ist, auf keinen Fall ausweichen. Als christliche Gemeinde
sollten wir wissen, dass es unser einziger Auftrag ist, dieses
Evangelium vom Himmelreich weiterzusagen. Zu nichts anderem sind wir
gut! Und wer solches tut, stellt auch die Frage nach seiner eigenen
Existenz und danach „wo er sich verortet“ und wer er als Kind Gottes
eigentlich ist.
Es verwundert daher nicht, dass das Wort im Munde Jesu, wonach das
Reich Gottes mitten unter euch ist, in der Übersetzung schillert und
glänzt. „Die Vulgata übersetzt: ‚regnum Dei intra vos est‘, ‚das
Reich Gottes ist in euch‘, und Martin Luther: es ist ‚inwendig in
euch‘; Adolf von Harnack machte daraus: ‚Das Reich Gottes ist (…)
die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen‘. Zu
Recht, schreibt der Ausleger, hat man darin eine Ausweichbewegung
ins Innerliche erkannt.“ (Krebs, aaO. S.495)
Nein, zu Unrecht, muss es heißen! Freut euch mit, dass auch ein
liberaler Theologe wie Harnack einen geradezu mystischen Satz
zustande bringt! Wo soll denn der Christus in uns wohnen, wenn nicht
in unserem Herzen? Niemand soll sich mit einem gedachten Gott
zufrieden geben, mahnt Meister Eckhart. Der hat nämlich eher das
Zeug zum Teufel, wie wir an jedem religiösen Fanatismus sehen
können. Der Christus will in uns geboren werden, sagt Meister
Eckhart. Gottes ewiges Wort will in unserem Herzen bewegt werden,
sagt Maria an der Krippe und schaut liebevoll auf das Christuskind.
Wo soll denn das Himmelreich auf dieser Welt Fuß fassen, wenn nicht
zuerst in unserem Herz, das all unserem Denken und Tun schon immer
zuvorkommt? Alle Utopien, alle Veränderungen, alle Reformationen,
fangen in unseren Herzen an. Und umgekehrt gilt: Wenn die Herzen der
Menschen leer und hart bleiben, wird die beste Staatsform und die
beste Kirchenorganisation früher oder später zur Hölle auf Erden.
Wie Meister Eckhart hat Dorothee Sölle darauf hingewiesen, dass die
fromme Gottesschau sich nicht auf die Innerlichkeit beschränken
lässt. Sie führt uns schnurstracks in unser Leben zurück, in unsere
Gemeinde, in unsere Welt, an den Herd, in den Stall, ins Büro und wo
immer Gott uns hingestellt hat. Hier zündet in uns ein Stern, der es
mit der Finsternis der Welt aufnimmt! Und darum hat Dorothee Sölle
ihr Buch „Mystik und Widerstand“ genannt.
Denn nur wenn der Christus in uns wohnt, kann sein Wort auch unter
uns wohnen. Nur dann kann es unser Zusammenleben in der Familie, in
der Gemeinde, in der Kirche und in der Gesellschaft gestalten und
auch unter uns sichtbar werden. Denn genau das will es auch! Die
gefährlichste Irrlehre, die in unserer Kirche heute herrscht, ist
die Meinung, bei der Gestaltung der Kirche habe man freie Hand und
könne sich das Beste, das Erfolgversprechendste aus den Rezepten und
Strategien dieser Welt heraussuchen.
Ihr Lieben, die größte Katastrophe, die der christlichen Gemeinde
zustoßen könnte, wäre, dass sie sich einmal vom Christus persönlich
sagen lassen muss, dass sie aus Kleinglauben, Angst und Feigheit,
das Wachsen seines Himmelreichs schon hier in dieser Welt behindert
oder gar verhindert hat, dass sie sich dieser Welt gleichgeschaltet
und ihre Hoffnung verraten hat. Und das tut sie immer dann, wenn
etwas anderes ihre Gestalt, ihre Organisation, ihr alltägliches
Leben bestimmt, als das Wort des Christus. Das tut sie immer dann,
wenn sie dieses Wort als das allein ihr Leben bestimmende Wort in
Frage stellt. Dann Gnade uns Gott!
Tröstlich bleibt, dass sich auch dadurch das Kommen des Himmelreichs
nicht aufhalten lässt. Durch nichts und niemand. Darum beten wir
lieber miteinander: Dein Reich komme! Und solange wir das beten, ist
und bleibt auch die Kirche immer für eine freudige Überraschung gut.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
20 Als er (Jesus) aber von den Pharisäern
gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und
sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann;
21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es!
Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
22 Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der
ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und
werdet ihn nicht sehen.
23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht
nicht hin und lauft ihnen nicht nach!
24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des
Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage
sein.
25 Zuvor aber muss er viel leiden und verworfen werden von diesem
Geschlecht.
26 Und wie es geschah zu den Zeiten Noahs, so wird's auch geschehen
in den Tagen des Menschensohns:
27 Sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie ließen sich heiraten
bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging und die Sintflut kam
und brachte sie alle um.
28 Ebenso, wie es geschah zu den Zeiten Lots: Sie aßen, sie tranken,
sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten;
29 an dem Tage aber, als Lot aus Sodom ging, da regnete es Feuer und
Schwefel vom Himmel und brachte sie alle um.
30 Auf diese Weise wird's auch gehen an dem Tage, wenn |