Liebe Leser,
was wissen wir vom Streben unserer Knie?, seufzt der Dichter Yvan
Goll in einem Gedicht. Was vom Altern unseres Haars? Wir halten uns
in der Höhe unserer schmalen Augen – Nicht achtend der Welten über
und unter.
Wie schmal ist unser Augenwinkel? Wie groß oder besser wie klein ist
der Ausschnitt unseres Alltagsbewusstseins? Der Psychologe Carl
Gustav Jung hat es eine kleine Insel in einem gewaltigen Ozean
genannt. Was wissen wir schon von uns selbst? Und was dann erst von
den Wegen Gottes?
Nicht viel, muss die Antwort lauten, zu der auch unser Predigttext
uns führt. Gleich zwei Geschichten über Blinde gibt er uns heute zu
bedenken. Die erste handelt von Jesus und seinen Jüngern. Seht, sagt
Jesus zu ihnen. Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem und es wird
alles vollendet werden. Sicher, denken die Jünger, so wird es sein!
Wo sonst, als in der Heiligen Stadt könnte sich die Geschichte
Gottes mit seinem Volk entscheiden. Passah wird dort bald gefeiert,
das Fest der Befreiung, der Erlösung aus der Knechtschaft Ägyptens.
Um dieses Fest herum sind die Bilder der Hoffnung versammelt, auch
der Hoffnung auf den kommenden Messias, den himmlischen Erlöser.
So geht der Christus Richtung Jerusalem, umgeben von einer
hoffnungstrunkenen Jüngerschar. Blinde sehen, Lahme gehen, das Reich
Gottes ist nahe herbeigekommen. Noch nie war die Hoffnung der Jünger
so groß, ihre Zuversicht so fest, ihr Glaube so stark, ihre Freude
so unbeirrbar. Dagegen kann selbst Jesus nichts machen.
Seht, sagt er, ich werde ausgeliefert in die Hände der Ungläubigen,
werde verspottet, angespuckt, gefoltert und getötet und am dritten
Tage auferstehen. Seht, sagt er, das ist mein Weg, das ist der Weg
Gottes, sein Herzensweg. Schon die Propheten haben davon gewusst.
Jetzt ist Gott unterwegs. Notwendigerweise.
Die Jünger aber verstanden nichts und die Rede war ihnen verborgen
und sie wussten nicht, was das Gesagte soll. Der Befreier in Ketten?
Die Wahrheit den Lügen und dem Mob ausgeliefert? Die Liebe vom Hass
angespuckt? Der Heilige als Verbrecher hingerichtet unter
Verbrechern? Der Allmächtige wehrlos an ein Holzkreuz genagelt?
Alles Quatsch!
„Die Apostel haben’s nicht verstanden“, schreibt Luther zur Stelle,
„und uns heute wird’s auch sauer, wenn’s gepredigt wird. Es ist wohl
bald gesagt, aber nicht leicht geglaubt.“ Denn - Gott, wer kann das
schon anderes sein, als das „höhere“ Wesen? Gott ganz unten? Ist
doch Quatsch. Hoch muss man schauen, in den gestirnten Himmel über
uns. Da gibt’s was zu sehen von Gottes Größe, Macht und
Herrlichkeit. Oder lasst uns das moralische Gesetz in uns betrachten
und über Gott reden als den Anwalt aller edlen und guten Gedanken,
als Schirmherr über alle Bestrebungen für eine bessere Welt. Da
sollte der Christus auf einer Hinrichtungs- und Schädelstätte zu
suchen und zu finden sein?
Auf der Höhe unserer schmalen Augen sind wir blind für den ins Leid
hinabsteigenden Gottessohn. In aufgeklärten Zeiten mag ihn die
Vernunft nicht sehen; in Zeiten des spirituellen und religiösen
Aufbruchs mag ihn die Religion nicht sehen. Wir möchten glauben, um
uns besser zu fühlen. Der sanfte Jesus für Körper und Seele, ja
bitte. Der souveräne Lehrer der Weisheit, ja bitte. Der Kritiker
aller Knechtschaft und Ungerechtigkeit, ja bitte. Nie war der Glaube
der Jünger so stark, wie auf dem Weg nach Jerusalem. Und sie sahen
und verstanden nichts. Dagegen kann selbst Jesus nichts machen.
Es geschah aber, als er nahe an Jericho kam, saß ein Blinder am
Wege. Dem Evangelisten Lukas war klar, das diese Geschichte hierher
gehört. An den Rand der Straße, die Jesus nach Jerusalem führt.
Nicht, dass Lukas hier den blinden Jüngern einen blinden Menschen
gegenüberstellt, der trotz seiner Blindheit sieht. Das wäre ein
wenig zu billig. Und es wird auch nichts darüber berichtet, dass der
Geheilte Jesus unter sein Kreuz gefolgt wäre.
Der Evangelist Lukas will unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes
lenken. Er zeigt uns den ins Leiden hinabsteigenden Gottessohn als
den, der scharfe Augen und Ohren hat für alles Leid an den
Straßenrändern unserer Welt. An das, was dort gestorben und gelitten
wird, ist man gewöhnt. Man übersieht es geflissentlich und ist schon
unterwegs zum nächsten Termin. Es geht unter im Lärmpegel einer
geschäftigen Welt. Die Leichen einer einzigen Tagesschau – wer kann
ihre Bedeutung ermessen auf dem Weg zur Abendveranstaltung? Jeden
Tag das gleiche, man gewöhnt sich.
Der Christus gewöhnt sich nicht. Auf dem Weg in sein eigenes Leid,
zeigt uns Lukas den Christus als hellhörigen und scharfsichtigen
Wahrnehmer jeden Leids. Er zeigt uns den Leidensweg des Christus als
einen Weg, der die Not der Menschen wendet. Auf diesem Weg bleibt
kein Leid gewöhnlich und keine Not ungesehen.
Vielleicht gehört das ja zusammen: Die Blindheit für den Leidensweg
des Christus und die Art und Weise, wie das Leid des Blinden am
Wegrand übersehen und sein Schrei zum Verstummen gebracht wird. Der
Erlöser hat einen Triumphzug zu haben und die, die ihm nachfolgen
auch. Wussten Sie, dass die Zeugen Jehovas keine Krankenhäuser
bauen? Wozu auch. Wer krank und ohne Geld aus der Sekte rausfliegt,
hat’s eben nicht geschafft. Und natürlich gehören hierhin auch all
die Scharlatane und die jeder Mode folgenden spirituellen
Vagabunden, die „schöner Wohnen“ für die Seele anbieten, auch wenn
die Welt den Bach runtergeht. Spiritualität als Flucht vor der Welt?
Das ist kein geistlicher Weg. Das ist nicht der Weg Gottes. Das ist
nicht der Weg des Christus. Der führt vom Himmel zur Erde bis in die
Abgründe menschlichen Leids, bis in den Tod. Und dann wieder hinauf
zur Erde und zum Himmel. Das ist der Weg, den der Christus
vollmächtig geht, um den Blinden am Straßenrand mitzunehmen, dich
und mich und die ganze nach Freiheit seufzende Kreatur.
Auf der Höhe unserer schmalen Augen ist der Christus leicht zu
übersehen. Aber dort bleiben wir nicht. Bald stehen die Jünger unter
dem Kreuz ihres Herrn und müssen hinabschauen in den Abgrund, der
ihren Meister verschlungen hat, ohne Hoffnung, ohne Freude, ohne
Glauben. Bald öffnet sich auch in der schönsten Wohnung der Seele
die Tür in ihre Folterkammern. Heute noch gehört uns die ganze Welt,
und vielleicht morgen schon reißt uns ein Strudel hinab in Krankheit
und Leid. Heute blühen wir noch und schon bald treibt uns der Wind
wieder fort.
Und wir fallen, schreiend vielleicht, wie der Blinde am Straßenrand,
und wir fallen – und fallen in die Arme des Christus. Denn der ist
schon dort. Dafür werden den Jüngern die Augen geöffnet. Später, als
der Auferstandene in ihre Mitte tritt. Nicht als einer der Leiden
und Tod entflohen wäre, sondern als einer, der auf ewig die Spuren
des Todes an Händen und Füßen trägt: Ein Happy end, das die
Vorgeschichte nicht vergessen macht.
Und darum haben die Evangelisten die Passionsgeschichte ausführlich
aufgeschrieben. Darum wird sie in der Christenheit alle Jahre wieder
bedacht. Denn sie birgt ein großes Geheimnis: Es gibt keine Welten
über und unter, die gottverlassen wären. Der Christus ist dort und
hat sie alle in sein göttliches Leben geholt. Dort bleiben sie für
immer.
Deshalb gibt es für uns keinen Grund, die Höhe unserer schmalen
Augen krampfhaft zu halten. Den Sternenhimmel bestaunen ist schön.
Über das Wahre nachsinnen auch. Aber alles, was wir in unserem
kleinen Leben über Gott herausfinden, verblasst vor dieser Wahrheit:
Wo immer wir sind, Gott wird uns finden. Der Christus wird euch
finden.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und
sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird
alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von
dem Menschensohn.
32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird
verspottet und misshandelt und angespien werden,
33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er
auferstehen.
34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen
verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.
35 Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein
Blinder am Wege saß und bettelte.
36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das
wäre.
37 Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.
38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er
aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
40 Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber
näher kam, fragte er ihn:
41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass
ich sehen kann.
42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir
geholfen.
43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott.
Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.
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