Liebe Leser,
„Herzstück des Evangeliums“ ist unser heutiger Predigttext gleich im
doppelten Sinn. Die Botschaft von der Rechtfertigung des Gottlosen
ist das Herzstück des christlichen Glaubens und zum Zweiten spielt
dieses Stück vornehmlich im Herzen des Menschen und im Herzen
Gottes.
Freilich hat schon Lukas einen verhängnisvollen Satz angehängt: „Wer
sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst
erniedrigt, der wird erhöht werden.“ Damit hat Lukas sich in Gefahr
begeben, dieses Gleichnis Jesu zum moralischen Lehrstück über das
rechte Beten zu degradieren. Und in seinem Gefolge haben zu allen
Zeiten Moralapostel aus dem Wort Gottes ein System christlich -
bürgerlicher Moral gemacht. Wer solches tut, hat das Gleichnis vom
Pharisäer und Zöllner nicht verstanden und sich selbst auf die
unterste Stufe der Verdammnis begeben: Der Terror der Tugend ist
einer der größten Feinde des Evangeliums.
Wir müssen zugeben: Das Missverständnis des Lukas kommt nicht von
ungefähr. Zwei Menschen stehen im Tempel. Und im Haus Gottes wird
hoffentlich gebetet und nicht nur allerlei liturgische Allotria
getrieben. Im Gebet stehen wir vor Gott. Heute entdeckt man wieder,
dass ein Gotteshaus dafür ein sehr sinnvoller Raum sein kann. Wir
entfliehen den gewohnten Wohnzimmern unserer Behausung und begeben
uns in einen fremden Raum, in dem der Alltag von uns abfallen kann.
Und deshalb macht es Sinn, sich gegen die „Verwohnzimmerung“ oder „Verkinderzimmerung“
unserer Kirchen zu wehren, die manche dadurch wohnlicher machen
wollen, dass sie ihre persönlichen Dinge oder ihre Spielsachen
mitbringen. Bitte nicht! In der Kirche stehen wir vor Gott bewusst
ohne die Insignien der Dinge, die uns scheinbar ausmachen. Das
Gotteshaus macht die Menschen, die durch seine enge Pforte
hereinkommen klassenlos.
Theoretisch. Denn natürlich kann und soll man seinen Verstand und
sein Herz nicht an der Kirchentür abgeben. Das Herz ist ja vor allem
Verstand das Organ, das allem, was der Mensch tut schon immer zuvor
kommt. Und dort im Herzen, ja auch in unseren, steht eines der
größten Glaubensbekenntnisse nicht nur unserer Zeit: Dass der Mensch
aus sich etwas machen kann und muss. Dass es die verdienstvollen
Werke und der Kontostand sind, die den Wert einer Person ausmachen.
Ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft wird man nicht von selbst.
Man muss es sich erarbeiten und verdienen. Wir blicken mit
Bewunderung auf die Väter des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg
und auf den Reichtum, den sie sich erarbeitet haben. Und bei den
Enkeln, denen dieser Reichtum als Erbe in den Schoß fällt, genügt
immer noch der Kontostand um wichtiger zu sein als andere: „gemachte
Männer und Frauen“ eben. Das Englische ist noch präziser, wenn es
vom „selfmade man“, vom „selbst gemachten Mann“ spricht, der es vom
Tellerwäscher zum Millionär gebracht hat.
Der an sich selbst arbeitende und mit sich selbst beschäftigte
Mensch kommt im Gleichnis in seiner religiösen Form vor. „Ich“ sagt
der Pharisäer, wenn er vor Gott den Mund aufmacht; und dann legt er
Gott gleichsam ins Schaufenster, was ihn als frommen Menschen
liebenswert und wertvoll macht. Alles andere als schlampig ist, was
er vorzulegen hat. Und doch bleibt er aus der Sicht des Evangeliums
ein „in sich selbst verkrümmter Mensch“, einer, der sich abmüht mit
nichts als sich selbst. Das Gleichnis deutet an, dass der fromme „selfmade
man“ um sich herum nichts als Dunkelheit verbreitet. „Für nichts“
achtet er die anderen. Am Ende muss er sich selbst verachten und an
sich selbst verzweifeln. Der in sich selbst verkrümmte Mensch
zerstört das gute Verhältnis zur Welt, zu anderen Menschen und zu
Gott. Das nennt die Bibel Sünde. Er braucht Gott nicht, weil er
seine Person auch vor Gott selbst machen zu können meint. Als alle
anderen überstrahlender Übermensch wird er zum Unmensch, zur sich
selbst und andere, ja die ganze Welt entstellenden Person. Was er
tut, leuchtet gefährlich aus einem finsteren Herzen.
Demgegenüber zeigt uns Jesus den Zöllner im Gleichnis als einen
Menschen, der nichts ins Schaufenster legen kann, als seine Untaten.
Er zeigt uns den Zöllner als einen Menschen, der sich selbst für
nichts hält und dessen Urteil über sich selbst Gott in wunderbarer
Weise aufhebt. Gott hebt das Urteil über diesen Zöllner nicht etwa
auf, weil der sich selbst für nichts hält, als Lohn für eine fromme
Selbsterniedrigung. Das wäre wohl die erbärmlichste Form, Gott doch
noch etwas ins fromme Schaufenster zu legen. Dass dieser Zöllner
ist, was er sagt, ist die Wahrheit, die Gott durch eine noch größere
Wahrheit überbietet: durch SEINE Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit
(Eph 5/9). Zweifellos bedeuten diese drei Begriffe in diesem
Zusammenhang das selbe.
Denn er, Gott, hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur
Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor
Gott gilt, schreibt Paulus im 2. Korintherbrief (5/21). Er meint
damit Jesus den Christus. Er, der Gekreuzigte ist der einzige
Mensch, der „für nichts“ gehalten werden darf. Am Kreuz hält Gott
dieses Urteil ein für alle mal an sich selber aus, damit kein Mensch
mehr „für nichts“ gehalten werden muss, was immer er bisher auch aus
sich selbst gemacht hat. Von nun an gilt einzig und allein, was Gott
in seiner Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit aus ihm macht. Von nun an
darf kein Mensch mehr „für nichts“ gehalten werden. Seitdem ist die
Würde des Menschen unantastbar. Wer sich an ihr vergreift, vergreift
sich an Gott.
Es ist deshalb nur folgerichtig, dass Luther im Lichte des
Evangeliums das gebräuchlichste Glaubensbekenntnis aller Zeiten,
vehement bestritten hat. Nicht die Werke machen die Person, sondern
die Person macht die Werke. Das Evangelium nötigt zur heilsamen
Unterscheidung der Person von ihren Werken. Der Mensch ist nicht,
was er selbst aus sich macht, sondern was Gott aus ihm macht. Der
Mensch, der sich selbst schaffen will, wird im besten Fall sich
selbst gerecht und damit leider nicht mehr als selbstgerecht. Der
mit Gottes Gerechtigkeit bekleidete Mensch darf dieses erbärmliche
Unterfangen jeden Tag hinter sich lassen und sein Verhältnis zu Gott
und der Welt neu bedenken.
Und das sollten wir dann auch tun. Und unser besonderes Augenmerk
darauf richten, wo in unserer Gesellschaft die Würde von Menschen
bedroht wird. Es geht uns etwas an, wenn für die Rettung von Banken
viele Milliarden zur Verfügung stehen, aber soziale Berufe in der
Altenpflege und der Kinderbetreuung schlecht bezahlt werden. Dass
Kinder nach wie vor ein Armutsrisiko darstellen gehört zu den
permanenten Skandalen in unserer Gesellschaft. Hier dürfen Christen
nicht schweigen, sondern müssen den Politikern das Herzstück ihres
christlichen Glaubens als Zumutung weitersagen. Der Theologe
Eberhard Jüngel tut dies, wenn er schreibt:
„Kinder und Alte repräsentieren auf natürlichste Weise den
unbedingten Vorrang der Person vor ihren Taten. Sie sind ja primär
Nehmende und können für ihr Dasein noch nichts oder nichts mehr tun.
Nur wenn wir sie als solche, die für ihr Dasein noch nichts oder
nichts mehr tun können, als eine Wohltat empfinden, nur wenn wir,
statt nach ihrem - auf- oder abwertbaren - Wert zu fragen, ihre
Würde respektieren, strahlen unsere Gottesdienste das Evangelium so
in den Alltag der Welt aus, dass unsere Leistungsgesellschaft eine
menschliche Gesellschaft genannt zu werden verdient. Entsprechendes
gilt für unseren Umgang mit Kranken, und zwar nicht nur für unseren
privaten Umgang, sondern auch für den sich in der Sozialgesetzgebung
ausweisenden gesellschaftlichen Umgang mit den kranken Menschen.“
(Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des
Gottlosen als Zentrum des Christlichen Glaubens, Mohr, 1999/3,
S.229)
Und wir sehen daran, dass wir uns im Herzstück des christlichen
Glaubens als von Gott Wert geachtete und geliebte Menschen wieder
finden dürfen, gerufen zum aufrechten Gang – für eine menschliche
Welt.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text: 9 Er sagte aber zu
einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die
andern, dies Gleichnis:
10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der
eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
11 Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott,
dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger,
Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem,
was ich einnehme.
13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht
aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott,
sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus,
nicht jener. (Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt
werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.)
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