Liebe Leser,
„Im Jahre 70 n. Chr. wurde nach zahlreichen antirömischen Unruhen
Jerusalem von Titus, dem Sohn des römischen Kaisers Vespasian,
belagert, in einem grausamen Kampf mit zahllosen Opfern eingenommen
und weithin zerstört. Zu diesem Zeitpunkt war die Stadt wegen
anstehender Festtage von vielen Besuchern übervölkert. Auch
zahlreiche Frauen und Kinder, ja ganz Israel befand sich in
Jerusalem, und ihm galt der Angriff und die Unnachgiebigkeit der
Römer. Der Tempel, das Zentralheiligtum Israels, wurde bis auf die
Grundmauer zerstört - und es ist dieser stehengebliebene Rest des
Tempels, an dem die Juden bis heute - bzw. heute wieder - beten,
klagen, aber auch Gott loben und preisen, wo sie ihre Hoffnungen in
das Ohr Gottes flüstern oder rufen und auf einem kleinen Zettel
zwischen die schreienden und zugleich stummen Steine stecken, um sie
an den Ort zu heften, auf dem so viele Verheißungen und
Selbstversprechungen Gottes liegen.“ (Michael Weinrich, GPM 2/1997,
Heft 3, S. 343 f.)
In der Folge dieser Katastrophe wurde das Volk Israel in alle
Himmelsrichtungen zerstreut. Das Volk Israel selbst hat diese
Ereignisse, wie die Katastrophe von 587 v. Chr., die im
babylonischen Exil endete, geschichtstheologisch als Gericht Gottes
gedeutet, weil Israel immer wieder tat, was dem Herrn missfiel. Das
Volk Israel selbst hat dies so gedeutet. Niemand anders kann das.
Das Gottesvolk hat so ein Beispiel gegeben, wie man aus der eigenen
Geschichte lernen kann und vor allem, wie man das Fiasko und die
Katastrophe der eigenen Geschichte so begreifen kann, dass man es in
solchen Ereignissen eben nicht mit Gottverlassenheit zu tun hat,
sondern auch im Gericht immer noch mit dem Gott, der seine
Verheißungen nicht widerruft. Das Volk Israel blieb so auch im
Dunkeln mit dem Gott der Verheißungen verbunden und gerade so auch
im Scheitern Gottes auserwähltes Volk. Das wird Israel immer
bleiben.
Der Evangelist Lukas freilich, dessen Evangelium wohl um das Jahr 70
geschrieben wurde, leistete mit seiner Deutung einer Entwicklung
Vorschub, die weiteres und schlimmeres Leid über das Volk Israel
gebracht hat. Er deutet die Ereignisse des Jahres 70 als Folge der
Ablehnung des Messias durch die Juden. In den nächsten 2000 Jahren
waren es dann die Christenmenschen, die ihre frechen Zeigefinger auf
die Juden richteten und plärrten: Recht geschieht’s ihnen! Auch
unser Reformator Martin Luther hat in seinen späten Jahren
mitgeplärrt. Und bei den Zeigefingern ist es nicht geblieben. In der
gemeinsamen Geschichte, die die deutschen Christen mit dem
auserwählten Gottesvolk Israel haben, klafft seit dem letzten
Jahrhundert der Abgrund der Schoah, die industriell ins Werk
gesetzten Ermordung von 6 Millionen Menschen jüdischen Glaubens
unter den Augen und unter tätiger Mithilfe des Deutschen Volkes.
In der Stuttgarter Schulderklärung der evangelischen Kirchen in
Deutschland von 1945 heißt es: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch
uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht
worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen
wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre
hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im
nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck
gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger
bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht
brennender geliebt haben. (…)
Wir hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen,
dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig
werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des
Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die
gequälte Menschheit Genesung finden kann. So bitten wir in einer
Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Komm
heiliger Geist!“
Seit dieser Zeit sollte unter uns jede Form des Antisemitismus und
seine Wurzel, die Hybris, mit der sich die Christen für das bessere
Gottesvolk hielten, endgültig der Vergangenheit angehören. Dass auch
wir Christen Gottes Kinder heißen dürfen, ist Gottes Gnade. Wir
haben allen Grund aufgrund der Abgründe unserer Geschichte, die
Abgründe der Geschichte des Gottesvolkes ganz anders zu betrachten,
und selbst mit Israel bange nach Gottes Anwesenheit zu fragen und zu
suchen - wenn wir uns nicht bald in der Gottverlassenheit
wiederfinden wollen.
Unser Herr Jesus Christus hilft uns dabei. Nahe an der Stadt
Jerusalem geht bei ihm nicht der Zeigefinger in die Höhe, hebt er
nicht an zur flammenden Gerichtspredigt. Kein Zweifel, der Tempel in
Jerusalem ist seines Vaters Haus, in dem er schon als 13jähriger
seine Eltern versetzte. Dort schlägt sein Herz. Der Christus weint.
Tränen sind die Kritik der Liebe.
Entsprechend sanft weist er bei Lukas die Händler aus dem Vorhof des
Tempels, indem er keine Peitsche zur Hand nimmt, sondern auf Gottes
Wort verweist, denn es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus
sein. Da haben die Einzelhändler sich offenbar freiwillig vor die
Tür verzogen. Und Jesus lehrte im Tempel, jeden Tag, und keiner
seiner Feinde konnte ihm etwas antun, denn das Volk hing an seinen
Lippen. Ach, nicht mehr lang!
Was würde Jesus wohl tun, wenn er heute nahe an der Stadt Hof wäre?
Was würde er tun, wenn er sehen würde, welcher Wertschätzung sich
die Predigt seines Wortes am Sonntag erfreut und welche Eventkultur
sich seiner Bethäuser inzwischen frech bemächtigt hat? Was, wenn er
lesen würde, wie unwillig und halbherzig sich Christen- und
Bürgergemeinde in Hof bis auf den heutigen Tag ihrer Geschichte und
ihrer Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus stellen? Der
Historiker Prof. Dr. Alf Mintzel schreibt in dem im vergangenen Jahr
(2017) erschienenen Band XI der Hofer Stadtchronik zur Umbenennung
der Dr. Dietlein-Str.: „Der Hofer Stadtrat und einzelne seiner
Mitglieder erwiesen sich selbst nicht als Vorbilder und Förderer in
der Aufarbeitung der braunen Zeit Hofs. (…) Insofern bedeuteten das
zögerliche Gezerre und die Winkelzüge des Stadtparlaments trotz der
endlich vollzogenen Umbenennung einen Rückschlag für die nötige
Aufarbeitung der NS-Geschichte Hofs. Der Streitfall ist ein
Lehrstück dafür, wie man die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht
betreiben sollte. Es ist Aufgabe der städtischen Funktionseliten in
Kultur, Kunst, Wissenschaft, Kirche, Politik und Verwaltung,
‚Altlasten‘ der NS-Vergangenheit auch gegen Widerstände und
Unverständnis in der Bevölkerung aufzuarbeiten und die mahnende
Erinnerung an die Gräuel der NS-Barbarei wachzuhalten.“ (Chronik der
Stadt Hof, Band XI, Hof 2017, S. 716.)
„Am 10. November 1938, dem Tag der Reichskristallnacht, wurde auch
die Hofer Synagoge verwüstet. Anzünden konnte man sie nicht, da man
befürchtete, dadurch auch das danebenliegende Theater anzustecken.
Deshalb riefen die SS-Leute drei Lastkraftwagen herbei, auf die das
Inventar der Synagoge geworfen und gegen 10 Uhr durch die
Ludwigstraße zum Sportplatz am Unterkotzauer Weg gebracht wurde. Am
Saaledurchstich wurde abgeladen und das Synagogeninventar verbrannt.
(…)
Nach dem Unterricht ging ein neunjähriges Mädchen, das die dritte
Klasse der Neustädter Schule besuchte, zum Unterkotzauer Weg, weil
der Lehrer darauf hingewiesen hatte, dass man dort „etwas sehen“
könne. Das Kind, das früher einmal die Synagoge besucht und eine
christliche Erziehung genossen hatte, erkannte unter dem noch
glimmenden Haufen die Thora-Rolle. Es nahm – unbeobachtet, da sich
keine Menschen mehr in der Nähe befanden - die Thora-Rolle und ein
weiteres Papierstück an sich und brachte sie heim, weil ihm gesagt
worden war, dass die Thora-Rolle eine heilige Schrift sei ähnlich
der Bibel und gut darauf aufgepasst werden müsse. Die Mutter war,
als sie zu Hause die Gegenstände präsentiert bekam, sehr aufgeregt
und verbrannte sofort das Papier im Ofen. Die Thora-Rolle wurde vom
Vater vermutlich anderen Leuten zugeleitet, welche sie über die
nationalsozialistische Zeit hinweg aufbewahrten. Sie wurde der neuen
Israelitischen Kultusgemeinde nach 1945 übergeben, die sie in Israel
restaurieren ließ.“ (vgl. Dr. Arnd Kluge, Die Reichskristallnacht in
Hof, Stadtarchiv Hof, 2002)
Unser Herr Jesus Christus pflegte zu sagen: Wer Ohren hat zu hören,
der höre!
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text: 41 Und als er (Jesus)
nahe hinzukam, sah er die Stadt (Jerusalem) und weinte über sie
42 und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum
Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.
43 Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde
um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten
bedrängen
44 und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in
dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit
nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.
45 Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben,
46 und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein
Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle
gemacht.
47 Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und
Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach,
dass sie ihn umbrächten,
48 und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk
hing ihm an und hörte ihn. |