Liebe Leser,
ein Freund schrieb mir in diesen Adventstagen –
bekümmert um den Zustand unserer Kirche und fragte: Lässt eine völlig
einseitig am eigenen Aktionismus orientierte Kirche die Einsicht zu,
dass die meisten Dienststellen unserer Landeskirche ihrem Wesen nach
nicht primär Handlungsorgane am Leib Christi sind, sondern Sinnesorgane
zum Sehen, Hören, Fühlen und Spüren von Ungerechtigkeit in weltweiter
Ökumene, des Leidens der Leiseren und Verstummten im Lande, des
Schmerzes der Vergessenen? Der Leib Christi, wie er sich als
Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern seit geraumer Zeit öffentlich
darstellt, ist höchst begabt zu vielfältig emsiger Aktion, aber zur
Passion unfähig. Er scheint – im Sinne dieser Selbstpräsentation – zwei
geschäftige Hände zu haben, aber weder Auge noch Ohr, keine Haut, unter
die ihm etwas gehen könnte, kein lernfähiges Hirn, vermutlich kein
empfindendes, leidensfähiges und also leidenschaftliches Herz. Wer unter
solchen Illusionen unberührter Machbarkeit „die Krise kriegt“, ist
möglicherweise seelisch gesünder als die, die ihnen ungebrochen
nachlaufen.
Dass die Gemeinde Jesu Christi, wenn sie Umgang mit Kranken,
Behinderten, Sterbenden, mit ungerechten Verhältnissen in Wirtschaft,
Gesellschaft und Staat und weltweit hat, nicht nur zum Handeln berufen
ist – wann haben wir das vergessen? Wenn eine Kirche, die sich als
Macher-Kirche darbietet, trotzdem gelegentlich ein Sensorium für
Stillere und Bescheidenere, für Unrecht und Leidende und damit für das
Ganze ihrer Bestimmung hat, grenzt dies, verglichen mit der
breitspurigen Selbstdarstellung, an ein Wunder. Dem leibhaftigen
Christus sei Dank: das Wunder geschieht gelegentlich. – Freilich: Wer
platt in erster Linie das eigene Tun, Machen und aktive Gestalten
kommuniziert, ex-kommuniziert damit schon sprachlich die, über die
gerade die Zeit des Erleidens, der Kontemplation, der Klagepsalmen oder
des bloßen Aushaltens hereingebrochen ist. Indes – in solchen Einbrüchen
verbirgt sich mit Vorliebe der Ruf des Dreieinigen ins Leben.“
Ich habe diesem Freund von Herzen zugestimmt und gedankt und
geantwortet, dass ich mir seine Zeilen zum Trost über den Schreibtisch
hänge. Gut, wenn man solche Freunde hat, erst recht in der Kirche. Denn
natürlich stehen wir alle in der Gemeinde heute immer unter Druck und in
der Versuchung, in Aktionismus zu verfallen. Der Hofer Dekan konnte
einem schon leidtun, als er in dieser Woche der Presse ein Plädoyer für
den ganz normalen Sonntagsgottesdienst halten wollte und der
Zeitungsreporter immer wieder auf mickrige Besucherzahlen hinwies und
fragte, was die Kirche denn dagegen tun wolle.
Wer sagt einmal deutlich, dass diese Frage in jedem Zusammenhang vor
allem ein grundlegendes Unverständnis anzeigt, was christlicher Glaube
und christlicher Gottesdienst eigentlich ist? Denn gerade in der
Adventszeit liegt doch auf der Hand, dass die Leute lieber in den
seligen Weihnachtswelten der Weihnachtsmärkte Glühwein trinken, als sich
in der Kirche etwas von einem Christuskind erzählen zu lassen, das eine
Dornenkrone tragen wird. In einer Welt, in der alles von Beginn an und
jeder von klein auf zum Erfolg verdammt ist, bleibt dieser Christus ein
Fremder, weil er lieber über die geschundene Stadt Jerusalem weint,
statt mit eiserner Faust dreinzuschlagen. Weil er lieber neben den
Mördern am Kreuz hängt, statt als König auf den Thron zu steigen. Weil
er den leisen Weg bedingungsloser Liebe in Armut bis zum bitteren Ende
geht, statt im Triumphzug durch die Welt zu marschieren. Dass ein
solches Mysterium zu keiner Zeit ein Publikumsmagnet sein wird und kann,
sollte sich von selbst verstehen. Und zu keiner Zeit kann die Kirche
dieses Mysterium in allgemeines Wohlgefallen und Wohlbefinden auflösen,
ohne sich selbst aufzulösen. Es trotzdem zu versuchen, um die
Kirchenbänke zu füllen, ist die wahrhaft teuflische Versuchung der
Kirche unserer Tage! Sie muss immer wieder identifiziert und abgewiesen
werden.
Ist es wahr, dass Menschen, die den Sonntagsgottesdienst besuchen,
konkrete Antworten auf ihre Fragen suchen? Gehört die Kirche wirklich in
das boomende Segment der Lebensberatung? Finden sich nicht gerade hier
Menschen, die nur zu gut wissen, dass es viele und sehr grundsätzliche,
bedeutende und tiefe Fragen gibt, auf die es keine Antworten gibt und
schon gar keine konkreten? Soll euch hier wirklich der Prediger euren
Alltag erzählen und aufzählen, was euch freut und was euch zu schaffen
macht? Fühlt ihr euch dann wenigstens verstanden, auch wenn die
konkreten Antworten ausbleiben? Ach, damit wäre doch nicht viel
gewonnen! Dann wärt ihr ja immer noch eingemauert in eure Probleme, bis
die Seelen zu riechen beginnen. Das scheint der alles andere als
liebliche Geruch so mancher kirchlichen Feier zu sein.
Auch unser Predigttext erzählt von einer angefochtenen und leidenden
Gemeinde. Und er tut das alles andere als konkret, sondern höchst
poetisch. Himmel und Erde geraten aus den Fugen. Und dazu fallen jedem
von uns nun freilich sehr konkrete Beispiele aus der großen und kleinen
Politik und dem Weltgeschehen ein - und eben auch aus dem ganz
persönlichen Leben. Viele von uns wissen, wie sich Himmel und Erde
verändern können, wenn wir am Grab eines geliebten Menschen stehen, wenn
wir verlassen werden, der Arzt uns eine schlechte Prognose stellt oder
uns eine bittere Niederlage trifft. Dann hilft es gar nichts, nach
Himmel und Erde zu fragen. Und jeder, der meint, uns in solchen Lagen
konkrete Antworten und Ratschläge geben zu müssen, würde dadurch nur zu
erkennen geben, was für ein gefühlsbehinderter und eitler Klugscheißer
er ist. Und wir täten gut daran, ihm unser Elend und unseren Schmerz zu
Heilungszwecken an den gereckten Hals zu wünschen.
Denn das Einzige, was hier hilft, ist nicht der fromme Ratschlag, nicht
der kirchliche Aktionismus. Hier hilft nur Trost. Und wenn wir
Gottesdienst feiern, geht es um nichts anderes als um Trost. Ja, auch in
der christlichen Gemeinde können und sollen wir uns gegenseitig trösten.
Ein Lächeln, ein freundlicher Blick, ein Händedruck, eine Umarmung am
Sonntag sind nicht zu verachten. Aber niemand in der christlichen
Gemeinde hat so breite Schultern und so lange Arme, dass sich an und in
ihnen das ganze versammelte Elend ausheulen könnte. Wir sollten es bitte
weder von uns noch von anderen erwarten oder gar verlangen.
Es ist auch nicht nötig. Denn im Gottesdienst geht es um den Trost der
Gegenwart Gottes. Im Gottesdienst feiern wir die Gegenwart Gottes. Im
Gottesdienst wird unsere kleine Lebens- und Weltzeit von der Zeit Gottes
umschlungen. Da sind Schulter breit genug und Arme lang genug für alle
unsre Tränen. In der Gegenwart Gottes hört jedes Elend auf, das zu sein,
für das wir es hielten. Hier hat jede Gottverlassenheit ein Ende.
Und darum hat der Ruf der Heiligen Schrift am heutigen Sonntag seinen
Platz nicht nur am Anfang der Adventszeit. Er könnte am Beginn eines
jeden Gottesdienstes stehen: Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich
eure Erlösung naht. Meister Eckhart schreibt in seinen Reden der
Unterweisung Nr. 16, was eine solche Wendung des Hauptes bedeutet: Sie
besteht darin, „dass der Mensch sich gänzlich und vollkommen abkehre von
allem, was nicht völlig Gott ist, und sich gänzlich und vollkommen
seinem lieben Gott zukehre in einer unerschütterlichen Liebe,
dergestalt, dass seine Andacht und sein Verlangen zu ihm groß seien.“
Dann nämlich können sich die Sehnsucht des Menschen nach Gott und die
Sehnsucht Gottes nach dem Menschen, die wir seine Liebe nennen, „mit
großer Kraft und Herrlichkeit“ begegnen und vereinen.
Luther hat dieses Mysterium so beschrieben, dass wir aus uns selbst
hinausgestellt werden in Gott. Und Meister Eckhart spricht umgekehrt von
der Geburt Gottes in uns. Wo Gott ist, hat alle Finsternis ein Ende.
Kirche und Gottesdienst sind deshalb keine Unternehmungen zur
Optimierung unseres Selbst. Unser Selbst geht in Gott unter. Zurück
bleiben wir als das, was wir in Gott sind: seine getrösteten Kinder.
Glaube ist deshalb keine pädagogische Veranstaltung zur Verbesserung
unserer Welt und unserer Moral. Unser Wille geht in Gottes Wille unter.
Deshalb beten wir: Dein Wille geschehe.
Und wenn uns zur Weihnachtszeit irgendwer noch zusätzliche kirchliche
Werbegeschenke im Gottesdienst oder zu anderen Gelegenheiten anbietet,
damit die Kirche voll werde, dann lasst uns dankbar ablehnen und ihn in
den Arm nehmen. Denn ein größeres Geschenk und einen größeren Trost, als
dass das ewige Wort Mensch wurde, um in uns und bei uns zu sein, kann es
nicht geben! Darauf sagen wir: Amen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
25 Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und
Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie
werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres,
26 und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der
Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel
werden ins Wanken kommen.
27 Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke
mit großer Kraft und Herrlichkeit.
28 Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure
Häupter, weil sich eure Erlösung naht.
29 Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume
an:
30 wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass
jetzt der Sommer nahe ist.
31 So auch ihr: wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass
das Reich Gottes nahe ist.
32 Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis
es alles geschieht.
33 Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte vergehen nicht.
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