Liebe Leser,
der Schriftsteller Fernando Pessoa erinnert sich in seinem „Buch
der Unruhe“: „In der Kirche von Santo Domingo ist soeben die Messe
zu Ende gegangen und eine weitere wird beginnen. ... Früher einmal
als Kind besuchte ich die gleiche Messe ... Früher einmal habe ich
das alles genossen, und deshalb verstehe ich vielleicht erst jetzt,
wie sehr ich es genossen habe. Ich ging in die Messe wie in ein
großes Geheimnis und trat aus der Messe wie auf eine Lichtung. Und
so war es wirklich, und so ist es wahrhaftig immer noch. Nur ein
Wesen, das nicht mehr glauben kann und erwachsen ist, und eine
Seele, die sich daran erinnert, sind Fiktion und Verstörung, sind
Verwirrung und kalte Fliesen. ...
Erinnerungen, Sonntage, Messen, Freude, gewesen zu sein, Wunder der
Zeit, die zurückblieb, weil sie vorbeigegangen ist und nie in
Vergessenheit geraten kann, weil sie mir gehört hat ... Was weiß
ich? Was suche ich? Was fühle ich ? Was würde ich erbitten, wenn ich
bitten müsste?“ (Pessoa, Das Buch der Unruhe, Fischer, 1992, S.
110f.)
Scheinbar trostlose Fragen, wie sie einer stellt, der zurückschaut
und die Feuer vergangenen Glücks und vergangenen Glaubens noch
glühen sieht, ohne dass sie ihn länger erwärmen. Kalte Fliesen gibt
es in den Nebenräumen von Krankenhäusern, wohin die Sterbenden zum
Sterben verbracht werden um die Gesundung der anderen nicht zu
stören. Noch eine Nacht mit nichts als Erinnerung, bevor sich die
letzte Pforte der Hoffnung schließt und die letzten Lichter gelebten
Lebens für immer erlöschen.
Aber die beiden Emmausjünger sind noch ein bisschen lebendig. Sie
haben noch einen Weg vor sich. Noch ist Zeit die enttäuschte
Hoffnung zu begraben und wieder lebensfähig zu werden. Man muss sich
abfinden. Man muss von vorne anfangen. Man darf den Geschichten
nicht glauben. Begrab eine Hoffnung und sie versucht sich
verzweifelt aus ihrem Grab zu befreien, wild und wilder, wie ein
Tier, das vor dem Ertrinken seine letzten Kräfte mobilisiert und
über sich hinauswächst. Man kennt das und muss deshalb nachsichtig
sein mit den Frauen. Man darf ihnen keine Vorwürfe machen. Sie
müssen erst lernen loszulassen und sich den Realitäten des Lebens zu
stellen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Man darf nicht,
man muss ... wieder auf den Teppich kommen und annehmen – annehmen
und loslassen. So ist das Leben.
Ob die beiden hören, dass der neben ihnen sie Narren nennt?
Dummschwätzer? Lebensklugscheißer? Schneckenherzen? Musste nicht
Christus dies erleiden? Musste der Christus es nicht aufnehmen mit
Teufel und Tod, Sünde und Schuld, Leid und Gewalt, Hass und
Ungerechtigkeit? Habt ihr gedacht, dass er euch noch mit weißem
Rauschebart Sinnsprüchlein ins Poesiealbum schreibt? Dass er
irgendwann einer von diesen Gurus wird, die notorisch vom „Guten im
Menschen“ predigen und vom „Reich Gottes“, das da ist, wenn man es
sich nur fest genug vorstellt? Dass er einer von denen ist, die so
Ideen haben von einer besseren Welt, über die sich noch im
hintersten Winkel der Hölle die Teufel die Lachtränen aus den Augen
wischen. Habt ihr gedacht, dass das Wort Gottes, in der Schrift und
von den Propheten verkündigt, auch nur so ein himmlisches Gesülze
ist, dem keine Taten folgen? Und er fing an bei Mose und allen
Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm
gesagt war.
Wie viele Hoffnungen muss man verlieren, bevor man keine mehr
anschaut? Man pflegt die verblichenen so dann und wann, bei einem
guten Rotwein und einem guten Buch und stellt ihnen Blumen ans Grab.
Im Lauf der Jahre versiegen die Tränen. Nicht Liebe –
Gleichgültigkeit macht blind.
Was würde ich erbitten, wenn ich bitten müsste? Irgendwann müssen
wir alle bitten, dass man uns die Kissen aufschüttelt und uns die
Tasse reicht, die Krücken bringt und den Rollstuhl holt. Bleibe bei
uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt: Die
Bitte aller Bitten ums Dableiben, ums nicht allein gelassen werden,
um eine Hand und eine Stimme am Abend des Tages, am Abend des
Lebens, am Abend der Welt.
So viele Erinnerungen gibt es noch zu teilen, soviel gemeinsame
Geschichte, so viel verschüttete Sehnsucht, soviel Hunger aufs
Leben! Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das
Brot, dankte, brach's und gab's ihnen. - Da wurden ihre Augen
geöffnet, und sie erkannten ihn. - Wie lange dauert eine Sekunde?
Eine Sekunde, in der aus dem Gast der Gastgeber wird. Eine Sekunde,
in der die Hoffnungslosigkeit der Gäste wie ein Kartenhaus
zusammenstürzt. Eine Sekunde, in der sich die wüste Welt als
blühender Garten entpuppt. Eine Sekunde bevor das Gelächter
losbricht, das Osterlachen, bei dem sich die Engel bis in die
hintersten Winkel des Himmels die Lachtränen aus den Augen wischen.
Wir sehen die Emmausjünger, wie sie durch die Tür des erleuchteten
Hauses hinausstolpern in die Nacht, wie aus einem finstern Wald auf
die Lichtung. Riesig ist diese Lichtung in dieser Nacht und
bestirnt, wie ihre Herzen.
Eine andere Auskunft hätten sie nicht geben können, hätte man sie
gefragt, wie der Auferstandene denn nun ausgesehen hat, bevor er
verschwand. Wie er das Brot brach, konnten sie erzählen. Wie er auf
dem Tisch aufstrahlte als der, der er war und ist und sein wird.
Sein Gesicht hat sich keiner gemerkt. Der am Kreuz hing hatte eins.
Der Auferstandene hat viele. Denkt immer daran. Damit es euch nicht
geht, wie den Emmausjüngern: Ganz nah ist er bei euch und ihr merkt
es nicht. Brannte nicht unser Herz?, fragen die Emmausjünger
verdutzt. Wie früher, als Kinder? Nein! - sie waren es wieder.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
13 Und siehe, zwei von ihnen gingen an
demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa zwei
Wegstunden entfernt; dessen Name ist Emmaus.
14 Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten.
15 Und es geschah, als sie so redeten und sich miteinander
besprachen, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen.
16 Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten.
17 Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr
miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen.
18 Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm:
Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß,
was in diesen Tagen dort geschehen ist?
19 Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das
mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Taten und
Worten vor Gott und allem Volk;
20 wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe
überantwortet und gekreuzigt haben.
21 Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über
das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist.
22 Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die
sind früh bei dem Grab gewesen,
23 haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben
eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe.
24 Und einige von uns gingen hin zum Grab und fanden's so, wie die
Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht.
25 Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem
zu glauben, was die Propheten geredet haben!
26 Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit
eingehen?
27 Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus,
was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war.
28 Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte
sich, als wollte er weitergehen.
29 Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will
Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei
ihnen zu bleiben.
30 Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot,
dankte, brach's und gab's ihnen.
31 Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn. Und er
verschwand vor ihnen.
32 Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns,
als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?
33 Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach
Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren;
34 die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon
erschienen.
35 Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie
er von ihnen erkannt wurde, als er das Brot brach. |