Liebe Leser,
in der Predigt 38, die wir morgen im Studienkreis Meister Eckhart
bedenken, schreibt der Meister:
„Wir betäuben Gott Tag und Nacht und rufen: Herr, dein Wille
geschehe! Und wenn dann aber Gottes Wille geschieht, so zürnen wir,
und das ist gar unrecht. Wenn unser Wille Gottes Wille wird, das ist
gut; wenn aber Gottes Wille unser Wille wird, das ist weit besser.
Wenn dein Wille Gottes Wille wird und du dann krank bist, so würdest
du nicht gegen Gottes Willen gesund sein wollen, wohl aber würdest
du wollen, es möchte Gottes Wille sein, dass du gesund wärest. Und
wenn es dir übel geht, so würdest du wollen, es möchte Gottes Wille
sein, dass es dir wohl ginge.
Wird hingegen Gottes Wille dein Wille und bist du dann krank - in
Gottes Namen! Stirbt dein Freund - in Gottes Namen! Es ist eine
sichere und eine notwendige Wahrheit: Wäre es so, dass alle Pein der
Hölle und alle Pein des Fegefeuers und alle Pein der ganzen Welt
daran hinge - der Wille würde es mit Gottes Willen ewig erleiden
wollen immerfort in der Pein der Hölle und würde dies für immer als
seine Seligkeit ansehen und würde in Gottes Willen die Seligkeit und
alle Vollkommenheit Unserer Frau und aller Heiligen dreingeben und
würde in ewiger Pein und bitterer Qual immerzu verharren wollen und
könnte sich nicht einen Augenblick davon abkehren; ja, er vermöchte
nicht einen Gedanken aufzubringen, irgend etwas anderes zu wollen.“
(Quint, S. 336)
Meister Eckhart lässt keinen Zweifel, wo das Paradies zu finden ist.
Nicht in einem allgemeinen Begriff von geistiger, seelischer und
körperlicher Gesundheit, nicht in der Umsetzung von Werten, nicht in
der Verwirklichung der Träume und Utopien von einer besseren Welt.
Das Paradies ist dort zu finden, wo Gott und sein Wille und der
Mensch und sein Wille in ein bestes, inniges und familiäres
Verhältnis gesetzt werden. Wo das geschieht, so Meister Eckhart, ist
das Paradies und wäre es in der Hölle. Am innigsten ist dieses
Verhältnis da, wo wir unser Paradies, unsere Vollkommenheit und
Seligkeit dreingeben in das Paradies der Gottesnähe, wo, wann und
unter welchen Umständen sie sich auch ereignen mag.
Zweifellos hat der Gelähmte sein Paradies gefunden, als der
Gottessohn sich gnädig zu ihm herunterbeugt und diesen Gelähmten als
seinen Bruder, als Kind Gottes anredet. „Dir sind deine Sünden
vergeben“, heißt ja nichts anderes, als dass es nichts gibt, was
zwischen Gott und ihm steht. Er hat ein bestes, inniges und
familiäres Verhältnis zu Gott. Daran kann weder seine Lähmung, noch
ein Schicksalsschlag, kein Teufel, kein Tod etwas ändern. Die
folgende Heilung, die Aufhebung seiner Behinderung fügt seinem
Gottesverhältnis nichts Wesentliches hinzu.
Auf diese Gedanken kommt man nicht nur durch Meister Eckhart,
sondern auch durch einen Ausleger dieser Geschichte, der seit seiner
Jugend von Kinderlähmung gezeichnet ist. Er schreibt: „Es klingt
komisch, aber der Text erzählt: Nicht die Gottesbeziehung des
Gelähmten, sondern die Gottesbeziehung der Studierten macht es
nötig, dass Jesus diesen Mann heilt. Der Gelähmte war schon vorher
mit Gott in Ordnung - seine Lähmung ist absolut kein Hindernis für
die Beziehung Gottes zu ihm oder für seine Beziehung zu Gott.“
(Ulrich Bach, zitiert nach Traugott Roser, GPM, 3/2009, Heft 4, S.
451)
Vor diesem Hintergrund kommen auch die vier Freude des Gelähmten neu
in den Blick. Sie haben ihn zu Jesus gebracht. Sie haben ihre
Mission erfüllt, als Jesus ihn in den liebevollen Blick nimmt und er
in Jesu Augen sehen kann. Heute würde man die vier „Diakone“ nennen.
Wussten Sie, dass die evangelische Diakonie, zu der Zeit als Hinrich
Wichern sie gründete, Innere Mission hieß? Und noch heute steht
hinter dem Namen des Diakonischen Werks Hof als Zusatz: Evangelische
Stadtmission. Das hat seinen guten und tiefen Grund darin, dass
Mission ja nichts anderes ist, als Menschen in Kontakt, in Berührung
mit Gott und seinem Wort zu bringen. Dies geschieht auf alle
erdenkliche Weise. Und natürlich auch dadurch, dass die vier Diakone
in unserer Geschichte nicht warten, bis Jesus auch in ihr Dorf und
in das Haus des Gelähmten kommt. Es geschieht auch dadurch, dass die
Gemeinde nicht wartet, bis sich die Menschen unter der Kanzel
versammeln, sondern hinausgeht zu denen, die in besonderer Weise
Hilfe und Zuwendung brauchen. Nicht, indem sie sie selbst heilt,
sondern indem sie diese Armen ganz handfest und die damit verbunden
Mühen nicht scheuend zu demjenigen bringt, der wirklich heilen und
helfen kann. Das ist es, was die Diakonie von anderen hoch zu
lobenden sozialen Trägern und Einrichtungen unterscheidet und sie zu
einem Teil der Kirche Jesu Christi macht.
Eine Diakonie, die diese Grundaufgabe vergisst und in ihrem Benehmen
und Handeln nicht mehr auf das Evangelium und seine Zumutungen
ansprechbar ist, hört auf, Teil der Kirche Jesu Christi zu sein, und
die Gemeinde sollte sie behandeln, wie jede andere soziale
Einrichtung auch, die dem Wohl und der Würde des Menschen dient.
Freundlich, aber auch mit kritischem Hinweis darauf, worin sich die
christliche Diakonie von anderen sozialen Unternehmungen innen und
außen zu unterscheiden hat. Nicht alles, was in der Öffentlichkeit
als sozial wahrgenommen und gelobt wird, verkündigt automatisch das
Evangelium. Wo diese Unterscheidung nicht mehr sichtbar wird,
verschleiert und verwässert die kirchliche Diakonie das Evangelium,
statt dass sie es mit Wort und Tat verkündigt.
Genauso gilt: Eine Gemeinde, die ihre diakonischen Aufgaben im Sinne
unserer Christusgeschichte an soziale Einrichtungen und die Diakonie
delegiert und so mehr und mehr vernachlässigt, nicht mehr selbst
dorthin gehen mag, wo Leid und Elend herrschen, sich nicht mehr für
soziale Fragen und die Diakonie interessiert und stattdessen im
Kreis der Gesunden, Reichen und Schönen ihr gottesdienstliches und
spirituelles Leben pflegt, verfehlt ebenso ihren Auftrag und wird
sich von Jesus und seinen geringsten Schwestern und Brüdern die
unangenehmsten Fragen gefallen lassen müssen. Geistliches Leben ohne
offene und helfende Herzen und Hände ist kein geistliches Leben!
Deshalb hat der von Kinderlähmung gezeichnete Ausleger unserer
Geschichte recht, wenn er die studierten Schriftgelehrten als Grund
dafür nennt, dass Jesus den Gelähmten schließlich auch von seiner
Behinderung befreit. Es ist tragisch, dass gerade die besonders
Frommen die Einheit ihres Willens mit dem Willen Gottes behaupten,
sich zu Vermittlern des Gotteswillens gegenüber anderen aufspielen
und gleichzeitig diese Einheit mit Gott völlig verfehlen. Jesus
zeigt uns und ihnen schmerzlich, dass es besonders der fromme, der
religiöse, der geistliche Eigenwille des Menschen ist, der dem
Willen Gottes besonders hartnäckig im Weg steht.
Jesus gibt diesen Schriftgelehrten einen Erweis seiner Vollmacht. Es
ist der Erweis, dass sich Gottes Willen nicht einschränken und
begrenzen lässt. Das beste, innige und familiäre Verhältnis zwischen
Gott und Mensch scheitert nicht an Sünde und Schuld, nicht an
Krankheit und Behinderung und schon gar nicht an den Vorstellungen,
die sich besonders Fromme von Gott machen. Gott lässt sich nicht
aufhalten. Deshalb hat Jesus die Schriftgelehrten im Blick als er zu
dem Gelähmten sagt: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh
heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor
aller Augen.
Dass uns die schöne, innige und familiäre Nähe, die Gott zu uns
sucht, stets vor Augen bleibt und wir einander dorthin als Diakone
helfen und begleiten, das verleihe Gott uns allen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text: 1 Und nach einigen Tagen
ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im
Hause war.
2 Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch
nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
3 Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von
vieren getragen.
4 Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge,
deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das
Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
5 Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein
Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
6 Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren
Herzen:
7 Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als
Gott allein?
8 Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich
selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren
Herzen?
9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden
vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden
zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:
11 Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor
aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und
sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen. |