Liebe Leser,
es gibt wohl kaum viele Texte des 2000 Jahre alten Zeugnisses der
Bibel, die uns auch heute spontan und ohne viele Erklärungen so quer
kommen wie unsere heutige Geschichte. Was Jesus hier auch noch in
aller Öffentlichkeit demonstriert, ist eine Missachtung und
Beleidigung, in jedem Fall aber eine bodenlose Frechheit gegenüber
seiner Familie und der Familie überhaupt. Und wir sehen Maria schon
das Taschentuch zücken und seine Brüder wortlos und wutentbrannt
davonstampfen. Bestimmt werden sie nichts mehr mit ihm zu tun haben
wollen, zumindest bis zu seiner Beerdigung.
Auch in Kirchenkreisen hat ja jeder sofort Verständnis, wenn sich
ein haupt- oder ehrenamtlicher Mitarbeiter, wenn sich ein
Gemeindeglied aus familiären Gründen entschuldigt. Die Mutter oder
Großmutter, der Vater oder der Großvater haben Geburtstag oder eines
der Kinder oder die Kusine aus Heidelberg. Da gibt es keine
Diskussion, denn die Familie ist uns heilig. Heiliger als der
Sonntagsgottesdienst in jedem Fall.
Denn wir wissen doch alle, dass die Familie vorzugehen hat, und das
es üble Folgen haben kann, gegen diese Konvention zu verstoßen. Im
glimpflichsten Fall werden wir nicht mehr eingeladen. Im schlimmsten
Fall können Familienbande zerbrechen. Im allerschlimmsten Fall
können sie nicht mehr repariert werden. Ist das etwa kein Elend,
wenn die Familie, die wir nicht ohne Grund für die Keimzelle der
Gesellschaft halten, in so vielen Fällen zerbricht? Müssen wir da in
der Kirche nicht alle Familienwerte hochhalten, um zu retten, was zu
retten ist? Müssen wir da nicht die Heilige Familie im Stall von
Bethlehem zum Leuchten bringen, um die herum sich alle Jahre so
schöne Familiengottesdienste feiern lassen, in denen doch nicht nur
das Christuskind, sondern auch die Familie an sich etwas vom
göttlichen Glanz abkriegt?
Und wer weiß, vielleicht hätte Jesu eigene Familie ihn als
himmlischen Beistand gerade dringend gebraucht. Da überbringen sie
ihm die dringende Einladung zum Familiengottesdienst, während er auf
einer Versammlung mit Hinz und Kunz ist – und Jesus lässt sie
abblitzen. Aus ist’s mit der Heiligen Familie. Jesus pfeift auf die
Konvention. Er durchbricht sie. Ist ihm seine Familie denn gar
nichts wert?
Der Theologe Fulbert Steffensky hat darauf hingewiesen, dass Jesus
nicht nur an dieser Stelle mit den Werten seiner Gesellschaft und
ihren Konventionen bricht. Er tut das aber nicht, weil er diese
Konventionen verachtet. Er weiß um ihren Sinn. Er durchbricht sie
nur dann, wenn sie der Botschaft vom Himmelreich und seinen neuen
Möglichkeiten in einer bestimmten Situation im Weg stehen. Er
durchbricht sie, wenn sie die Freiheit und das Leben bedrohen und
den Menschen gefangen halten und terrorisieren. Er durchbricht sie,
wenn sie sich zwischen ihn, den Christus, und die Menschen stellen.
Steffensky schreibt: „Jesus riskiert den Bruch mit den geltenden
Grundannahmen. Wenn man etwas jesuanisch nennen kann, dann diese
Geste der Veränderung der Erwartungen und der Perspektiven. Wenn
etwas jesuanisch ist, dann die aus den geläufigen Daten nicht
ableitbaren Prognosen für die Zukunft des Menschen: Den Sündern
gehört die Zukunft Gottes, die Hungernden werden satt, die Weinenden
werden lachen, die Blinden werden sehen, die Lahmen werden gehen,
die Toten werden leben.“ (Feier des Lebens, Herder 2012, S. 148) Wir
fügen hinzu: Und aus Hinz und Kunz, die um den Christus versammelt
sind, werden Kinder Gottes, seine Familie, seine Brüder und
Schwestern.
Hören wir bitte einmal diese Geschichte mit den Ohren von Hinz und
Kunz, die an diesem Tag um Jesus versammelt sind. Hören wir diese
Worte – und wie könnten wir sie anders hören – als Neudefinition
ihrer gesamten Existenz. Hinz und Kunz sind nicht mehr Hinz und
Kunz, niemand und irgendwer, sondern Gotteskinder und Familie
Gottes, Familie Jesu Christi. Sie sind es nicht, weil sie sich an
bestimmte Werte und Konventionen halten, sondern weil sie der
Christus bedingungslos und aus Liebe und Gnade allein dazu macht.
Das ist der Kern des Evangeliums. Darum geht es in der Kirche!
Nein, der Christus verachtet die Familie und seine Familie nicht.
Brüder Jesu werden später Gemeinden leiten. Unter dem Kreuz bindet
er seine Mutter Maria und seinen Jünger Johannes zu einer neuen
Familie zusammen. Er wird nicht müde den Pharisäern vorzuwerfen, sie
würden sich vom Gebot der Fürsorge für die alten Eltern durch Opfer
im Tempel freikaufen, statt sich um sie zu kümmern. (Markus 7/10ff.)
Jesus verachtet die Konventionen und Werte nicht. Er überbietet sie
durch die Rede von der Familie Gottes, die allein der Christus durch
seine Liebe und Gnade schafft und begründet.
Das wollen wir festhalten. Es geht Jesus nicht um die „Umwertung
aller Werte“. Es geht ihm nicht darum, neue und quasi christliche
Konventionen und Werte zu definieren. Da beginnt dann wie damals in
unserer Geschichte auch in der christlichen Gemeinde das alte Spiel
neu. Und wir sehen die Schwestern das Taschentuch zücken und so
manche Brüder wutentbrannt davonstampfen. Mit solchen wollen sie
nichts mehr zu tun haben, zumindest bis zur Beerdigung.
Denken wir an den Christus, der die Stadt Jerusalem in den Blick
bekommt und über sie weint. (Lukas 19,41) Das ist bis heute die
Stadt, in der sich Menschen auch im Namen Gottes und der Religion
meiden, hassen und bekriegen, weil ihnen ihre Werte und Konventionen
heilig sind. Aber – und das zeigt unsere Geschichte – überdeutlich:
Solches wird vom Christus scharf zurückgewiesen. Weder die Familie,
noch unsere Werte und Konventionen sind heilig. Sie sind und bleiben
zeitgebunden und menschlich. Sie sind – hätte Luther gesagt –
weltliche Dinge. Heilig ist allein Gott selbst und sein Christus.
Was heilig ist kommt von ihm und durch ihn. Und von nirgendwo sonst.
Für ihn ist deshalb die Freiheit der Kinder Gottes der Ernstfall des
Evangeliums. Der Theologe Eberhard Jüngel hat folgerichtig das
Evangelium als „wertlose Wahrheit“ bezeichnet. Denn „Die Wahrheit
des Evangeliums gehört nicht in die Klasse der ‚Werte‘: darum nicht,
weil ihr alleiniges Subjekt Gott ist. Es gehört zwar zu ihren
Folgen, es macht aber nicht ihr Wesen aus, dass sie in den Konflikt
der Werte ein- und dort gegebenenfalls Partei ergreift. Sie spricht
ihr eigenes Wort, quer zu dem, was Menschen in Behauptung oder
Bestreitung der unter ihnen geltenden ‚Werte‘ sich selber sagen. (…)
Die Versuchung ist groß – wo auch immer der einzelne Christ im
Kraftfeld der ‚Werte‘ seine Position sucht oder schon bezogen hat -,
der wertlosen Wahrheit auszuweichen. Darum ist es stets am Platze,
sich um die Einsicht in die Fundamentalunterscheidung zwischen der
Wahrheit des Evangeliums und den ‚Werten‘ zu bemühen.“ (Hinrich
Stoevesandt, GPM 3/1993, Heft 4, S. 360ff.)
Heute sind wir zum Gottesdienst versammelt. Wir lauschen den Worten
unseres Herrn Jesus Christus, wie Hinz und Kunz damals. Immer dort,
wo Menschen um den Christus versammelt sind, vollzieht sich nicht
unser Wille, sondern seiner. Gilt nicht unser Wort, sondern seines.
Heute sagt uns sein Wort, dass wir etwas anderes sind, als die Summe
unserer Überzeugungen, Konventionen und Werte: Seine Schwestern und
Brüder und Mütter sogar! Und dieses ganz andere ist die Wahrheit
unseres Lebens!
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
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Die Predigt zum Hören
Text:
31 Und es kamen seine Mutter und seine
Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine
Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach
dir.
33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und
meine Brüder?
34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und
sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!
35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine
Schwester und meine Mutter.
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