Liebe Leser,
es war Anna Wunderlich’s neunundneunzigster Geburtstag.
Sie lebte unter dem Dach in einem Zimmer, in dem die Zeit stehen geblieben
schien. Zwei einfach verglaste Fenster, davor ein Tisch mit zwei Stühlen.
An der rechten Wand ein eiserner Herd, der mit Holz befeuert werden
musste. An der linken ein Sofa, das ihr auch als Bett diente. Darüber
hingen einige Bilder in vergilbtem Schwarzweiß. Alle Morgen kam ihre 81jährige
Tochter, wusch sie und zog sie an und dann saß Anna auf ihrem Sofa wie ein
halbwüchsiges Kind, denn die Beine reichten nicht mehr auf den Boden. Sie
baumelten vor dem Sofa auf und ab. Im Winter kam die Tochter immer etwas
früher, besorgt, ihre Mutter könnte aus dem Bett gefallen oder das Feuer
könnte zu früh erloschen sein. Wo kämen wir da hin, sagte sie zu mir, dem
Vikar, wenn alle so alt würden.
Anna war stocktaub. Aber heute war ihr neunundneunzigster Geburtstag und
so lärmten die Abordnungen der Kirche, des Rathauses, der Sparkasse und
der Presse durch ihr Zimmer und mit ihnen eine längst bis ins
Unerträgliche beschleunigte Welt, zu der Anna schon lang nicht mehr
gehörte und eigentlich nie gehört hatte; die aber seltsamerweise vor allem
auf sich selber stolz war, dass Anna so alt geworden war. Gute Wünsche
wurden der alten Dame lautstark ins Gesicht gerufen. Sie quittierte sie
mit einem geduldigen Lächeln. Manchmal auch mit einem „Ja“ oder einem
Fetzen Satz, wie ihn jemand sagt, dessen Sprache schon seit langem außer
Gebrauch gekommen ist. Der Esstisch war inzwischen für ihre Zwecke
unbrauchbar. Blumensträuße und Fresskörbe ließen keinen Platz mehr übrig.
Ein letztes Foto, auf dem alle glücklich zu lächeln hatten, dann war der
Spuk vorüber und vor Annas Augen schloss irgendwann der letzte Besucher
lautlos die Tür zu ihrer lautlosen Welt.
Ob es dort noch Töne gab? Bestimmt, habe ich mir gedacht. Vielleicht die
allerersten Töne, die sie als Embryo im Mutterleib gehört hatte.
Vielleicht kommt der Klang dieser ersten und innigen Stimme wieder, wenn
die Töne der Außenwelt verstummen. Anna war nicht ohne Worte. Als ich sie
wieder einmal besuchte fand ich sie hinter der Zeitung sitzen, die sie
ohne Brille lesen konnte. Vielleicht war Anna gar nicht taub, spielte
allen nur die Taube vor, hatte nach einem langen Leben einfach die Ohren
voll vom Gelärme dieser Welt, das sie überhaupt nicht vermisste.
Anders die Jungen, die unter Sprach- und Hörbehinderung von klein auf
leiden. Denen eine Barriere den Zugang zur Welt der Töne versperrt.
Sprache ist das hervorragende Werkzeug, mit dem sich der Mensch seine Welt
erschließt. Ohne Sprache keine Welt. Gott schafft die Welt durch das Wort.
Der Mensch darf die Schöpfung benennen. Die Bibel bekennt Jesus den
Christus als das fleischgewordene Wort Gottes. Und das Evangelium
schließlich nimmt den Menschen vor allem als von Gott angesprochenen
Menschen in den Blick.
Es ist daher kein Wunder, dass Jesus vor der Barriere, die um den
Taubstummen liegt, nicht kapituliert, sondern Gewalt anwendet um sie zu
durchbrechen. Das griechische Wort legt nahe, dass er dem Taubstummen die
Finger regelrecht in die Ohren stößt, als wollte er eine Mauer
durchbrechen. Ein Mensch, den kein Wort mehr erreicht ist auf verlorenem
Posten. Er lebt in einer schrecklichen Einsamkeit. Jesus findet sich damit
nicht ab.
Und wir sollten es auch nicht tun. Hör- und Sprachbehinderungen erfordern
unsere ganze Aufmerksamkeit und Anstrengung. Deshalb gibt es in unserer
Kirche hierfür einen eigenen Aufgabenbereich. In Bayern gibt es 21
evangelische Gehörlosengemeinden mit ca. 2400 gehörlosen Mitgliedern. Dazu
kommen noch hörende Eltern, hörende Geschwister und andere hörende
Familienmitglieder, die Kontakte zur Evangelischen Gehörlosenseelsorge
pflegen. Gebärdensprache, Fördermaßnahmen und nicht zuletzt moderne
technische Hilfsmittel können auch hier manches Wunder vollbringen. In der
Geschichte sehen wir, dass die hörenden Freunde, die den Taubstummen zu
Jesus bringen, einen wichtigen Beitrag zur Heilung leisten. Sie tun den
ersten Schritt um die Isolation zu durchbrechen, aus der sich der
Taubstumme nicht selbst befreien kann.
Diese Isolation ist zum Seufzen. Hefata, tu dich auf. Zweifellos ist das
einer jener Seufzer, die der Heilige Geist direkt vor das Ohr Gottes trägt
(Römer 8/26). Nicht hören und sprechen können ist zum Seufzen. Wir dürfen
in diesem Zusammenhang ruhig auch an die Ergebnisse der Pisastudie denken,
die Jugendlichen mangelhafte Lese- und Sprachfähigkeit bescheinigt. Wenn
wir uns erinnern, dass der Mensch seine Welt vor allem in der Sprache
begreift, dann hat ein Mangel auf diesem Gebiet weitreichende Folgen. Es
hilft gar nichts, wenn dann nach der Schule geschrieen wird und
gleichzeitig Medienerzeugnisse, wie Jugendseiten der Tageszeitung und
Jugendzeitschriften sich durch ihre mangelhafte Sprache genau die
Analphabeten heranziehen, die dumm genug sind ihre Zeitung zu kaufen.
Aber der Seufzer Jesu zielt noch viel tiefer. Denn ein wichtiges Thema
unserer Geschichte ist die von Jesus immer wieder beklagte Tatsache, dass
es genug Menschen gibt, die Ohren haben und trotzdem nicht hören, die im
Lärm der Welt, diesem Tinnitus des Alltags taub bleiben für das
Evangelium. Vielleicht müssen wir uns vorstellen, wie Jesus an Stelle des
Taubstummen, seinen Jüngern die Finger in die Ohren stopft und den
gewohnten Hörschwall ihrer eigenen Gedanken und den gewohnten Hörschwall
der Welt elementar unterbricht; damit sie wieder hörfähig werden für ein
neues Wort. Lassen wir es wenigstens am Sonntag zu und lassen wir uns den
Sonntag nicht nehmen. Denn der Glaube kommt aus der Predigt, oder sagen
wir besser aus dem Hören (Römer 10/17). Anders ist er nicht zu haben.
Schließlich bleibt noch eine ganz wichtige Beobachtung an unserer
Geschichte übrig: Jesus heilt das Hörvermögen dieses Behinderten nicht,
ohne ihm gleichzeitig seine Sprachfähigkeit zu geben. Die Predigt des
Evangeliums hat den mündigen Christen im Blick. Ein mündiger Christ, soll,
wie es im Text heißt, „richtig“ reden können. Sicher fallen ihnen Menschen
aus ihrer Nachbarschaft oder der großen Politik ein, die richtig reden
können, und wie, stundenlang, ohne was zu sagen. Vielleicht haben Sie
schon einmal versucht mit einem Zeugen Jehovas zu sprechen, der immer
wieder aufsagt, was er im Wachturm auswendig gelernt hat, verbohrt in
immer wieder die gleichen Sätze, ängstlich, nur ja nicht vom rechten
Wortweg abzukommen. Wir danken ihnen, für dieses sinnlose Gespräch!
Deshalb müssen wir uns Jesus selbst ansehen, wie er den richtigen Menschen
findet, den rechten Ort in der Menge und in der Zweisamkeit und das rechte
helfende Wort. Eben das rechte helfende Wort ist es, das die Welt von Gott
und der Christenheit erwartet. Denn noch schlimmer als die belangloses
Zeug plappernde Kirche und die ewige Wahrheiten ängstlich aufsagende
fundamentalistische Kirche ist eine schweigende Kirche. Sie bleibt der
Welt ihren Heiland und das Evangelium vom menschenfreundlichen Gott
schuldig. Sie bleibt beides gerade dann schuldig, wenn sie zu den Seufzern
der Menschen und aller Kreatur, die sich nach der Freiheit der Kinder
Gottes sehnt (vgl. Römer 8/18ff.), schweigt, statt diese Seufzer
aufzunehmen und lautstark vor der Welt und Gott zum Ausdruck zu bringen,
wie Jesus das bei dem Taubstummen tut.
Wir haben viele Sprachen, mit denen wir das tun können: Unsere
Muttersprache wenigstens, die Sprache der Poesie, der Bilder, der Kunst,
die Sprache der Töne und der Musik, die Sprache der Geste, des Blicks, der
Berührung.
Auch Anna hat manchmal geseufzt, wenn sie hinter der Zeitung saß und las.
Ich konnte das gut verstehen. Da ein Gespräch mit ihr nicht möglich war,
saß ich halt immer eine Weile bei ihr in ihrer lautlosen Welt. Als ich
einmal ihre Hand nahm, lächelte sie mich an. Sie hatte genau verstanden,
was ich sagen wollte.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
(31) Und als er wieder fort ging aus dem Gebiet
von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das
Gebiet der Zehn Städte.
(32)Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn,
dass er die Hand auf ihn lege.
(33)Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die
Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und
(34)sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt:
Tu dich auf!
(35)Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge
löste sich, und er redete richtig.
(36)Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's aber
verbot, desto mehr breiteten sie es aus.
(37)Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl
gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. |