Liebe Leser,
ein Superwahljahr geht zu Ende. In mehreren Bundesländern wurde die
Landtage neu gewählt. Die FDP hat ihr Projekt 18 endlich erreicht,
auch wenn sich das Komma um eine Stelle nach links verschoben hat.
Sie konnte einem schon leidtun. Ausgerechnet der Partei, die die
Wirtschaftspolitik auf ihre Fahnen geschrieben hatte, trauten die
Wähler immer weniger zu. Die können es nicht, das bedeutet ein
solches Wahlergebnis im Klartext. Aber wir ahnen es schon, dass auch
die Sieger von heute in ein paar Jahren vor dem Scherbenhaufen ihrer
Heilsversprechen stehen und alle Welt sieht: Die konnten es auch
nicht.
Die Jünger Jesu befinden sich also in bester Gesellschaft. Aber es
gibt einen wichtigen Unterschied. Die Jünger standen nicht zur Wahl.
Also hätten sie die Chance gehabt, den Ball flach zu halten. Sie
hätten sagen können: Wir können viel, aber nicht alles. Und sie
hätten – wie eine Auslegerin meint – nun mit Jesus Heilen lernen
können: Wie Jesus auf den Jungen eingeht und auf den Vater; wie er
deutlich macht, dass Leib und Seele zusammengehören; dass ärztliche
Kunst und geistliche Seelsorge deshalb in eins gehen müssen, wie
auch Naturwissenschaft und Glaube. Hier gehe es um ganzheitliche
Heilmethoden und man sehe sehr schön, wie „die geistliche Haltung
des Heilers (und) die geistliche Haltung des Vaters untrennbar
zusammengehören.“ (Johanna Haberer, in GPM, Heft 4, 2005, S.448)
Das ist sehr schön und fein beobachtet. Hinterher hätten die Jünger
sagen können: Jetzt sind wir schlauer. Jetzt haben wir eine bessere
Methode. Aber sie hätten ehrlicherweise immer noch sagen müssen:
Jetzt können wir noch mehr, aber immer noch nicht alles. Aber sie
würden jetzt wieder vor dem Problem stehen, das sie mit den
Politikern gemeinsam haben: Dass die Menschen immer noch alles von
ihnen erwarten.
Haben wenigstens die Jünger den Mut, zur Wahrheit über sich selbst
zu stehen? Zeigt diese Geschichte doch zu allererst: Wer von den
Jüngern Jesu alles erwartet, ist an der falschen Adresse. Wer von
der Kirche und ihrer Diakonie alles erwartet, ist an der falschen
Adresse. Denn ohne ihren Herrn Jesus Christus, kann sie nichts
ausrichten. Wenn sie es trotzdem versucht, heißt es am Schluss: Sie
konnten es nicht.
Und da hilft es ihr nicht, wenn sie vor aller Welt darauf hinweist,
wie fleißig sie ist. Da hilft es ihr nichts, wenn sie aller Welt
sagt, wie sehr sie sich einfühlen kann in die Probleme der Menschen
und wie sie an sich arbeitet. Wie sie organisiert und
umstrukturiert; wie sie reformiert und evaluiert. Wie sie sich
trostlos abstrampelt und doch nur den allgemeinen rasenden
Stillstand befördert. Und sie konnten es nicht. Ohne ihren Herrn
sind die Jünger machtlos.
Jesus verpasst seinen Jüngern und seiner Kirche in dieser Geschichte
eine schallende Ohrfeige und das auch noch in aller Öffentlichkeit:
O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie
lange soll ich euch ertragen? Da ist ja nicht die weite Welt
gemeint, sondern niemand anders als die Jünger selbst. Jesus hält
nichts vom Bagatellisieren und Schönreden. Wir stellen uns vor, wie
sie da stehen, vor dieser Menge mit hochrotem Kopf. Vielleicht
hätten sie gleich jemand fragen sollen, der sich damit auskennt.
Kirche ist in diesen Fragen nicht mehr als die Auskunft und die
Gelben Seiten. Sie hat nicht nur im Zweifelsfall, sondern in jedem
Fall auf den hinzuweisen, der sich mit so was auskennt.
Der Theologe Eberhard Jüngel schreibt: „Die Kirche bleibt bei oder
kommt wieder zu ihrer Sache, indem sie, ohne dabei an sich selbst zu
denken, sich ganz und gar für den Gott interessiert, dessen
unendliches Interesse dem Menschen gilt und das heißt: indem sie
glaubt. Der Glaube allein gibt der christlichen Kirche das Recht
einer eigenen und unverwechselbaren Existenz. Das uneingeschränkte
Interesse an Gott allein macht auch die Kirche wahrhaft interessant,
während die nur an sich selbst interessierte Kirche (ecclesia
incurvata in seipsam) immer uninteressanter wird.“ (Eberhard Jüngel,
Anfechtung und Gewissheit des Glaubens oder wie die Kirche wieder zu
ihrer Sache kommt, Kaiser Traktate 23, 1976, S. 42f.)
Deshalb ist diese dramatische Geschichte einer Heilung durch den
Herrn aller Herren vor allem ein Beichtspiegel, in den wir mit den
Jüngern – bitte nicht betroffen – sondern bitte mit offenem Herzen
hineinschauen. Die Ohrfeige Jesu gilt einer Kirche, die in der Bibel
immer nur nach dem sucht, was sie sich von Jesus abschauen kann, um
es dann zu ihrem eigenen Nutzen anzuwenden. Die Ohrfeige Jesu will
uns davor bewahren, dass wir wie die Jünger vor aller Welt blamiert
dastehen und uns lächerlich machen. Denn eine Kirche, die in Jesu
Namen selbst etwas sein will, hat dazu die beste Methode gefunden.
Jesu will uns davon abbringen, an uns selbst zu glauben und
stattdessen vielmehr an ihn zu glauben.
Diese Geschichte bringt unseren Glauben auf und an den richtigen
Punkt. An dem stehen nicht die Jünger, sondern dieser Vater, der mit
allen Umstehenden dort ist, wo alle guten und tröstenden Worte
aufhören und alle menschliche Hilfe versagt. Dort, wo längst alles
zum Schreien ist: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Nicht einmal
glauben können wahre Jünger ohne die Hilfe des Christus. Aber der
lässt gerade einen solchen Schrei nicht ungehört verhallen. Wir
hören hier nicht ein Evangelium von der Kirche, sondern ein
Evangelium für uns und die Kirche.
Daheim sitzen die Jünger betreten in der Küche und warten, dass
Jesus endlich nach Hause kommt. Und da sie – wie wir – nur schwer
verbesserlich sind, möchten sie es noch einmal genau wissen. Chef,
fragen sie, was haben wir bloß wieder falsch gemacht?
Fasten und Beten, sagt Jesus. Aufhören mit dem täglich Brot, der
täglichen Beschäftigung. Aufhören mit dem geplanten Programm. Pause
mit der Agenda. Schließen wir den Terminkalender und den
Haushaltsplan. Verlassen wir die Besprechung. Lassen wir das Handy
klingeln. Gehen wir nicht ran. Seien wir ganz Auge und Ohr, wie
Jesus in der Geschichte. Beten, schweigen, die Welt und ihre
Menschen mit Seufzen und Weinen und Schreien des Herzens Gott
entgegenheben. Von Gott alles erwarten. Gemeinde, die glaubt.
Das hebt auch andere aus dem Staub. Das lässt auch andere wieder
aufatmen. Das lässt auch andere wieder aufrecht gehen. Das ruft den
Heiland auf den Plan. Der löst die gelähmte Zunge und vertreibt die
dunklen, stummen Geister.
Eine solche Gemeinde wird aufhören, anderen das Blaue vom Himmel zu
versprechen, sondern den Himmlischen, der zur Welt gekommen ist, um
das Verlorene zu suchen und zu finden. Sie wird falsche Erwartungen
von sich weisen und auf den hinweisen, von dem alles zu erwarten
ist. Und sie wird gerade deshalb barmherzig sein, z.B. mit
Politikern, die anderen das Blaue vom Himmel versprechen und mit
allen, die von ihnen das Blaue vom Himmel erwarten. Nicht wirklich,
ja wirklich! Das ahnen sie selbst. Macht nichts, dass die Jünger in
der Geschichte so dastehen, wie Politiker am Ende einer
Legislaturperiode.
Da ist ja noch „der Mann, der helfen kann, bei dem nie was
verdorben“ (EG 346,2). Der erträgt uns, seine Kirche, dieses
ungläubige Geschlecht, Gott sei Dank immer noch, auch nach 2000
Jahren. Auch wir brauchen vom ihm in Fragen des Glaubens immer
wieder was hinter die Ohren. Und gerade deshalb ist es nötig und
erwünscht, dass die Diskussion innerhalb unserer Kirche zu
streitigen Fragen in freier und offener Art geführt werden kann.
Deshalb ist es nötig, dass das Wort des Herrn in unserer Kirche auch
streitbar präsent bleibt. Jünger Jesu können Kritik vertragen. Sie
haben den Mut, zur Wahrheit über sich selbst zu stehen. Da sollten
wir, bitte schön, auch miteinander nicht so pingelig sein.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
17 Einer aber aus der Menge antwortete:
Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen
sprachlosen Geist.
18 Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem
Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit
deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie
konnten's nicht.
19 Er aber antwortete ihnen und sprach: O du ungläubiges Geschlecht,
wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen?
Bringt ihn her zu mir!
20 Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah,
riss er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum
vor dem Mund.
21 Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist's, dass ihm das
widerfährt? Er sprach: Von Kind auf.
22 Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn
umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf
uns!
23 Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge
sind möglich dem, der da glaubt.
24 Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem
Unglauben!
25 Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den
unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist,
ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn
hinein!
26 Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da
wie tot, sodass die Menge sagte: Er ist tot.
27 Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er
stand auf.
28 Und als er heimkam, fragten ihn seine Jünger für sich allein:
Warum konnten wir ihn nicht austreiben?
29 Und er sprach: Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch
Beten.
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