Liebe Leser,
eine Frau hat 82. Geburtstag. Ihre Kinder sind zu Besuch. Von ihrer
Witwenrente kann sie nicht viel auf den Tisch bringen. Ihre Wohnung
ist ärmlich eingerichtet. Tisch und Stühle und auch das Sofa hat sie
sich damals vor vielen Jahrzehnten zur Hochzeit gekauft. Drum haben
die Kinder einiges mitgebracht, auch Tassen und Teller, denn die
alte Dame hat nicht mehr genug für alle. Neue will sie sich nicht
kaufen oder schenken lassen. Was braucht eine alte Frau wie ich ein
neues Geschirr. Mir reicht doch, was ich noch habe.
Es wird ein schöner Nachmittag. Man sitzt beieinander und erinnert
sich. Die Kinder erzählen, wie es Zuhause geht. Am Abend geht die
alte Frau zum Schrank. Als sie zurückkommt hat sie einen
Briefumschlag in der Hand. Kommt einer von euch am Sonntag in die
Kirche?, fragt sie in die Runde. Warum? Ich wollte das hier für die
Kirche geben und ihr wisst ja, ich schaff’ den Weg mit meinen Beinen
nicht mehr. Ihr Ältester nimmt den Umschlag in Empfang. Wir wollten
schon lange wieder einmal in die Kirche gehen, sagt er zu seiner
Frau.
Man verabschiedet sich. Brauchst du auch nichts, Mutter? Kommst du
mit dem Geld hin? So wird die alte Frau gefragt. Du weißt ja, wenn
du was brauchst. Nein, nein, sagt sie, ich komme schon zurecht. Man
umarmt sich. Dem Enkel steckt sie noch schnell 20 Euro zu.
Draußen vor der Tür hat der Älteste noch immer den Umschlag in der
Hand. Er will ihn in die Manteltasche stecken. Aber dann kann er der
Versuchung nicht widerstehen. Schließlich ist er nicht zugeklebt. Er
wirft einen kurzen Blick hinein, dann ruft er die anderen: Schaut
euch das an, 150 Euro.
Das ist ungefähr das, was sie im Monat für Kleidung und Essen hat,
sagt einer. Wisst ihr was?, sagt der Älteste, wir müssen uns mehr um
sie kümmern. In ihrem Alter lässt einfach alles nach, und ich
glaube, sie fängt jetzt langsam an, Dummheiten zu machen.
Hören wir dazu unseren heutigen Predigttext. Er steht beim
Evangelisten Markus im 12. Kapitel, vom 41 bis zum 44 Vers:
41 Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten
gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den
Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein.
42 Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das ist
ein Heller.
43 Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich,
ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt
als alle, die etwas eingelegt haben.
44 Denn sie haben alle von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat
von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben
hatte.
Macht die arme Witwe nicht eine riesen Dummheit? Zur Zeit Jesu gab
es keine Sozialhilfe und keine Witwenrente. Eine Frau, die ihren
Mann verloren hatte, war auf die Barmherzigkeit und Almosen der
anderen angewiesen. Ist hier nicht Unvernunft im Spiel, bei der
armen Witwe und erst recht bei Jesus selbst. Der hätte doch
hinspringen, jene Scherflein auffangen und sie ihr zurückgeben
müssen, bevor sie in diesem Gotteskasten im Vorhof des Tempels auf
Nimmerwiedersehen verschwinden.
Ja, dass die Reichen reichlich geben, das ist normal. Im Rahmen
ihrer Möglichkeiten. Mit Maß und Ziel und steuerlich absetzbar. Wer
viel hat, hat was übrig. Oder? Oder zumindest sollte es so sein.
Eigentum verpflichtet. Wenn auch heute immer weniger wissen zu was.
Viel haben ist ja schon ein relativer Begriff. Etwas übrig haben
auch. Und mancher Reiche ist in Wahrheit so arm, dass er nicht
einmal Einkommensteuer oder Kirchensteuer zahlt. Von einem solchen
musste ich mich einmal dahingehend belehren lassen, dass das Wort
Steuerschlupfloch oder Steuerflüchtling eine persönliche Beleidigung
und Diskriminierung darstellt. Denn schließlich handelt es sich um
völlig legale Steuersparmodelle, die jeder in Anspruch nehmen kann,
vorausgesetzt er hat genügend Geld übrig. Dazu passen Umfragen nach
den Institutionen, denen man am meisten vertrauen kann. Auch in
diesem Jahr auf Platz eins: Die Polizei! Gut und richtig ist, was
die Polizei erlaubt. Und nichts übrig haben für andere ist
polizeilich erlaubt. Ich bin doch nicht blöd!
Anders die Reichen im Tempel: Die geben nicht was recht, sondern was
richtig ist. Dass beides nicht immer dasselbe ist, sollte jedes Kind
wissen. Ein Herz und ein Gewissen muss jeder für sich selbst haben.
Was Recht ist, nimmt uns die Entscheidung für das Richtige nicht ab.
Vor dem Richterstuhl Christi werden keine polizeilichen
Führungszeugnisse verlesen.
Das Opfer der Witwe geht freilich weit über das hinaus, was recht
und was richtig ist. Findet Jesus das in Ordnung? Mutet Jesus uns
allen ein solches Verhalten zu? Oder ist das vielleicht keine
Zumutung, wenn dieser Gotteskasten fragend offen bleibt, auch wenn
nichts mehr übrig ist vom Überfluss, wenn es ans Eingemachte geht,
an die eiserne Ration, die vernünftig eingeteilt sein will, wenn man
davon leben und überleben will?
Lassen wir uns mit den Jüngern zu Jesus rufen, der neben dem
Opferstock steht; damit wir noch einmal mit seinen Augen sehen, was
da geschieht. Vielleicht, um dann erst recht beschämt dazustehen. So
ging es mir.
Denn diese Geschichte ist kein Lehrstück darüber, wie weit die
Freigiebigkeit und Opferbereitschaft eines Christen gehen soll.
Vielmehr zeigt Jesus seinen Jünger und uns, wie groß die
Hingabebereitschaft des Glauben sein kann. Wie groß die Freiheit des
Glaubens sein kann, die solche Hingabe erst möglich und vernünftig
macht. Jesus zeigt uns die Freiheit des Glaubens, der immer und
unbedingt mit dem großen Fürsorger unseres Lebens rechnet. Und weil
er, Gott, unser Leben gibt und erhält, kann all das, was unser Leben
scheinbar erhält und garantiert, egal ob reichlich oder ärmlich
vorhanden, hingegeben und spendiert werden. Die alte Frau, von der
ich am Anfang erzählt habe und die arme Witwe sind so frei.
Und der, der seine Jünger und uns auf diese Witwe hinweist, ist es
in noch größerem Maße. Denn Jesus Christus ist so frei, nicht nur
das wovon er lebt, sondern sein Leben selbst hinzugeben und
einzulegen. Das Opfer der Witwe wird zum Kommentar seiner Passion.
Auch sein Leiden und Sterben ist ein Opfer zugunsten des Lebens. Ein
Opfer zugunsten unseres Lebens. Im Weizenkorn, das in die Erde fällt
und stirbt, ist die Fülle des Lebens im Kommen (Joh. 12/24). Solche
Hingabe ist wahrer Gottesdienst. Gottes Dienst zugunsten des Lebens.
Bis zuletzt sahen die Jünger das anders. Wäre Jesus davongelaufen im
Garten Gethsemane, hätte er die himmlischen Heerscharen aufgeboten
gegen die Häscher, recht wäre es gewesen und vernünftig. Aber was
dann geschah, ließ die Jünger nicht kopfschüttelnd dastehen. Sie
rannten davon. Erst an Ostern rückt Gott den Weg des Christus ins
rechte Licht. An Ostern bekennt sich Gott selbst zur Hingabe des
Christus. Indem er ihn auferweckt, lässt Gott nicht zu, dass dieser
Weg der Liebe und Hingabe als dumm und unvernünftig beerdigt wird.
Dieser Christus ruft seine Jünger und uns in die Nachfolge, auf
seinen Weg, in die Freiheit des Glaubens. Die arme Witwe am
Opferstock des Tempels ist auf diesem Weg. Zustimmend ruhen Jesu
Augen auf ihr. Sie weiß es nicht. Und doch ist der Christus ganz
nah. Wie kann da ihr maßloses Opfer unvernünftig sein, ihre ganze
Hingabe eine Dummheit?
Vielleicht sehen wir sie und die alte Frau, von der ich am Anfang
erzählt habe, jetzt mit anderen Augen. Mit den Augen Jesu, der gern
seinen Jüngern die Augen öffnen möchte. Der sie gern ermuntern
möchte zu dieser Freiheit des Glaubens, dazu, einmal das Geländer
von Maß und Ziel loszulassen. Nicht aus Jux und Tollerei, sondern im
Vertrauen auf den himmlischen Vater, der uns dennoch nicht fallen
lässt. Damit wir, vielleicht zum ersten Mal erfahren, was Jesus von
Gottes Fürsorge predigt. Damit wir nicht immer nur um Einsichten,
sondern auch einmal um eine Erfahrung, um eine Glaubenserfahrung
reicher werden. Ein armseliger Glaube weiß vieles zu beurteilen und
zu erklären und oft so elend wenig zu erzählen.
Und bei einem solchen Glauben will Jesus seine Jünger nicht stehen
lassen. Deshalb erzählt er von der armen Witwe, die ihr ganzes
bisschen Hab und Gut in den Gotteskasten im Tempel wirft, und als
der Pfennig dort hinein verschwindet, befindet sie sich auf hoher
See!?
Nein, sagt Jesus, denn da ist noch einer, euer himmlischer Vater,
dessen Augen segnend und gnädig auf denen ruhen, die sich aus Liebe
zu ihm und den Menschen in seine Hände fallen lassen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
41 Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten
gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den
Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein.
42 Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das ist
ein Heller.
43 Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich,
ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt
als alle, die etwas eingelegt haben.
44 Denn sie haben alle von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat
von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben
hatte.
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