Liebe Leser,
im Religions- oder Konfirmandenunterricht würde nach dem Lesen des
heutigen Predigttextes sofort die Frage im Raum stehen: Kann man, ja
muss man das glauben, dass Jesus übers Wasser ging? Ist der Christus
ein über die Erde, hier besser: übers Wasser wandelnder Gott, der
die Naturgesetze aufheben kann? Wer weiß – vielleicht stellt sich
diese Frage ja auch manchem unter uns.
Dabei ist es häufig nur ein kleiner Schritt vom Christusglauben zum
Aberglauben. Und unter Aberglauben verstehe ich hier auch einen
solchen Wunderglauben, der in den Wundern, von denen die Heilige
Schrift ja häufig erzählt, einen physikalischen Vorgang sieht. Oder
anders gesagt: der den geistlichen Sinn solcher Wundererzählungen
übersieht.
Freilich, hier scheiden sich manchmal die Geister! Da gibt es
Christen, die halten am Literarsinn, also am wörtlichen Sinn solcher
Wundergeschichten fest: Jesus konnte übers Wasser gehen! Allerdings
hat man noch nicht davon gehört, dass einer von ihnen – wie Petrus
in unserem Predigttext – auch übers Wasser gehen konnte. Andere
Christen wiederum suchen nach rationalen Erklärungen für das Wunder
– das dann gar kein Wunder war sondern letztlich ein Trick. Albert
Schweitzer hat in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung solche
Erklärungen unter die Lupe genommen, von Theologen vor uns, den
sogenannten Rationalisten: Jesus und dann auch Petrus gingen dann
auf einem Felsen, der unter dem Wasser, also nicht sichtbar war;
oder sie gingen auf Baumstämmen im Wasser…- mit dem Ergebnis, dass
so die biblischen Erzähler zu Gauklern und Jahrmarktschreiern
gemacht werden, zu Märchenerzählern, die mit falschen Tricks aus dem
Christus eine Sensation und aus den Jüngern Helden machen wollen.
Alles, so würde Martin Luther sagen, entscheidet sich also am
rechten Lesen und Verstehen der Heiligen Schrift. Und er würde uns
auffordern, zuallererst zu beten: um Gottes Geist, der allein uns
den Sinn der Schrift eröffnet und aufschließt. Der Maler Paul Klee
sagte einmal: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht
sichtbar.“ Ähnliches gilt für die Heilige Schrift! Sie will die
Wahrheit des Glaubens sichtbar machen und nicht sichtbare Mirakel
behaupten. So will ich nun nicht das sichtbare Geschehen des
Seewandels Jesu erörtern, sondern will versuchen, die unsichtbare
Wahrheit dieses Evangeliums aufzuspüren. Das heißt: genau
hineinhören in die Schrift, ihre Bilderwelt zu den Bildern unserer
Seele sprechen lassen und auf Zusammenhänge zu achten.
Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor
ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das
Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu
beten. Und am Abend war er dort allein. Jesus drängt seine Jünger,
in das Schiff einzusteigen und ihm an das jenseitige Ufer
vorauszufahren. Die Jünger werden nicht gefragt, sondern einfach weg
geschickt. Weiter heißt es, dass Jesus die Menge, die sich um ihn
versammelte, entließ, um auf einem Berg zu beten. Es wird
ausdrücklich gesagt, dass er hier oben für sich allein betet. Erst
in der vierten Nachtwache beendet Jesus das Gebet auf dem Berg. Die
vierte Nachtwache ist die Zeit zwischen drei bis sechs Uhr früh. Er
war demnach eine recht lange Zeit auf dem Berg.
Einen über die Dauer von vielen Stunden betenden Christus malt der
Evangelist vor unserem inneren Auge - auf dem Berg, dem Ort der
einsamen Zwiesprache mit Gott.
Wir erinnern uns:
- Auch Moses redete auf einem Berg mit
Gott.
- Und von Jesus erzählen die Evangelien
immer wieder, wie er sich zurückzog um allein zu sein mit seinem
Vater im Himmel.
- Analysiert man die Bergpredigt bei
Matthäus (Kap. 5-7), jene Komposition von Originalworten Jesu,
stellt man fest, dass in Ihrem Zentrum das Gebet des Herrn
steht: das Vaterunser als Herzstück der Verkündigung Jesu!
- Und von Anfang an hält die Heilige
Schrift fest, dass im regelmäßigen Gebet, dass in der
regelmäßigen Zeit für Gott, dass in der Einhaltung des Sabbat,
der Mensch überhaupt erst zu sich selbst kommt und seiner
Gottebenbildlichkeit gewahr wird! Und nur so kann ein Mensch den
Stürmen des Lebens trotzen.
Damit sind wir wieder bei unserem Predigttext,
beim „Gehen über dem Wasser“ – jenem zweiten Bild, das uns der
Evangelist Matthäus vor Augen stellt. Und er wie alle seine
damaligen Hörer sahen in diesem Bild ein Bild fürs Leben überhaupt:
Der See Genezareth, das Wasser, die Fahrt über den See – all das ist
ein gängiges Bild für das Leben. Ja, unser Leben ist wie eine
Seereise: sie hat einen Anfang und sie hat ein Ziel, dazwischen gibt
es Sonnentage zum Genießen und gibt es immer wieder die Frage, ob
man auf dem rechten Kurs ist und sich auch nicht verirrt hat, gibt
es immer wieder auch Unwetter und Sturm und Wellen, in denen man
unterzugehen droht.
Wenn Matthäus uns also erst einen betenden und dann einen über die
Wasser gehenden Christus vor Augen stellt, kann es sein, dass
Matthäus auch uns auf einen „Berg des Gebetes“ führen will? Kann es
sein, dass er uns die Zuversicht vermitteln will, dass es der Beter
ist, der den Stürmen des Lebens standhält, ja, der „über die Wasser“
zu gehen vermag?
Gehen wir noch einen Schritt weiter, schauen wir auf die Jünger! Die
Jünger sind mit ihrem Boot in akute Not geraten. Der Wind pfeift
ihnen ins Gesicht. Und dann sehen sie etwas über das Wasser kommen.
Wörtlich heißt es: Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen,
erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst! und schrien vor
Furcht.
Matthäus erzählt es so, dass wir als Leser wissen: Es ist der
Christus! Nur: Die Jünger wissen es nicht! Sie sehen, wie es heißt,
eine Erscheinung, die sie für ein nächtliches Gespenst halten.
Spätestens hier wird so mancher damaliger Leser der Geschichte
gelacht haben. Und wir dürfen es auch! Dürfen über uns selbst
schmunzeln, kopfnickend! Ja, so ist es häufig. Im Kampf mit den
Wellen, mit den Stürmen des Lebens schauen wir häufig nicht über
unseren Bootsrand hinaus. Und unser Bild von Gott ist dann ein
verzerrtes, eines, das uns Furcht einflößt, Erschrecken bringt und
Fassungslosigkeit beschert.
Ja, Gott ist dann häufig mehr ein Gespenst in unserem Kopf, eine
furchterregende Einbildung, der wir nicht trauen können und auch
nicht wollen. Die Jünger erkennen den Christus erst, als er zu ihnen
spricht. Sie erwachen sozusagen aus dem Albtraum eines schrecklichen
Gottesbildes, als der Christus zu ihnen sagt: „Ich bin‘s.“ Und
wieder erinnern wir uns: An Moses, zu dem Gott einst aus dem
brennenden Dornbusch heraus sagte: „Ich bin’s! Ich bin, der ich bin.
Und ich bin dir gnädig zugewandt!“
Und der Christus sagt zu seinen Jüngern: „Seid getrost, ich bin's;
fürchtet euch nicht!“
Wort Gottes – reines Evangelium! Und an diesem Wort allein wird der
Christus erkannt – als der Gott, der Mut und Gelassenheit zuspricht
und der eben nicht Angst macht! Petrus wird in dieser Geschichte
dann zum beispielhaften Jünger. Durch dieses „Ich bin’s“ fasst er
Mut und steigt aus dem Boot und geht auf den Christus zu. Und siehe,
es klappt – zumindest solange er seinen Blick auf den Christus
gerichtet hält. Freilich, Wind und Wellen machen ihm zu schaffen.
Und so kommt es, wie es häufig im Leben kommt: er verliert Christus
aus dem Blick. Und so schreit er in Verzweiflung: „Herr, rette
mich!“
Und dann heißt es: „Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und
ergriff ihn …und sie traten in das Boot und der Wind legte sich.“
Als Petrus aufhörte, auf Christus zu blicken, als er seinen Blick
änderte und von ihm abwandte, begann er zu versinken im Meer der
Angst. Entscheidend ist also die Blickrichtung! Es gilt, immer und
immer von neuem auf den Christus zu sehen, nicht auf den Wind, der
einem ins Gesicht bläst, auch nicht auf die Wellen, die das Leben zu
einem Auf und Ab machen. Nur so erhält ein Jünger die Kraft, über
die Wasser der Angst zu gehen.
Und wenn wir jetzt schon wissen, dass wir keinen Deut besser als
Petrus sind, es vielleicht eine Strecke weit schaffen, auf Christus
zu blicken, irgendwann uns aber der Wind ins Gesicht pfeift, so dass
wir Angst bekommen, unterzugehen und zu versinken im Meer der Sorgen
und des Leids? Dann antwortet uns das heutige Evangelium: Als die
Jünger schrien vor Furcht, redete Jesus sogleich mit ihnen. Als
Petrus schrie: Herr, rette mich, streckte der Herr sogleich seine
Hand aus.
Nach der Schilderung des Matthäus legt sich der Sturm erst, als
Jesus im Boot der Jünger ist. Die „Errettung“ geschieht, bevor der
Sturm sich legt. Das ist sie: die Frucht des Gebets! Dass der
Betende von Christus an die Hand genommen wird, dass er ihn
„rettet“, obwohl der Wind einem noch äußerlich ins Gesicht pfeift.
Es ist das Geschenk des Glaubens, dass sich äußerlich noch nichts
ändert und bessert, Menschen aber tatsächlich dennoch über den
Dingen stehen können. Das Wasser ist nicht weg, aber der Christus
ist da - in mir! - , dessen Stimme uns sagt „Seid getrost, ich
bin's; fürchtet euch nicht!“ und der uns so fähig macht, darüber zu
stehen bzw. „über die Wasser“ zu gehen. Schenke Gott uns allen
solchen Glauben, der in der Welt schon die Welt überwindet!
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text: 22 Und alsbald trieb
Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm
hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe.
23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen
Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein.
24 Und das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not
durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.
25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf
dem See.
26 Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie
und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht.
27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost,
ich bin's; fürchtet euch nicht!
28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so
befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.
29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging
auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.
30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu
sinken und schrie: Herr, hilf mir!
31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und
sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
32 Und sie traten in das Boot und der Wind legte sich.
33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du
bist wahrhaftig Gottes Sohn!
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