Predigt     Matthäus 15/21-28    17. Sonntag nach Trinitatis     27.09.15

"Unverschämter Glaube"
(von Pfarrer Rudolf Koller, Hospitalkirche Hof)
 

Liebe Leser,

Eine Wahlkampf-Szene in Deutschland 2015: Ein Abgeordneter besucht seinen Wahlkreis, weil er sich zur Wiederwahl gestellt hat. Er ist den Mitbürgerinnen und Mitbürgern wohlbekannt. Den ganzen Tag schon ist er unterwegs, hält Ansprachen, schüttelt Hände, verteilt Luftballons, unterschreibt Autogrammkarten. Gegen Abend ist er ziemlich geschlaucht. Da tritt plötzlich eine Frau auf ihn zu: gebräunte Haut, Kopftuch, Ende 30, Asylbewerberin aus Syrien. Mit deutlich ausländischem Akzent spricht sie ihn an: „Entschuldigung, Herr Abgeordneter, ich haben großes persönlich Problem. Meine Tochter immer noch in Syrien. Wo Tochter wohnt, werden geschossen und Hunger. Bitte helfen mir, Tochter nach Deutschland kommen kann! Kein Geld. Tochter ganz verrückt dort. Tod-Angst.“

Der Abgeordnete schaut die Frau an, dann wendet er den Blick zu seinen Wahlkampfhelfern. Aber aus seinem Mund kommt kein Wort. „Bitte helfen, Herr Abgeordneter!“ hört man die Frau sagen, jetzt schon etwas lauter und vom Tonfall her dringlicher. Da reicht ihm einer der Wahlkampfhelfer schnell die Wahlkampf-Broschüre. „Sagen Sie ihr einfach, da steht alles zum Asylrecht drin“, flüstert er dem Abgeordneten leise zu. Und ein zweiter Helfer drückt der Frau einen Kugelschreiber und eine Autogrammkarte in die Hand.

Aber die lässt sich damit nicht abspeisen. „Bitte helfen, Herr Abgeordneter!“ ruft sie jetzt mit flehentlicher Stimme. Jetzt erst wendet sich der Abgeordnete der Frau zu. „Ich bin nicht ihr Abgeordneter!“ - Und nach einer kurzen Pause: „Ich bin in erster Linie für die Interessen meiner Wählerinnen und Wähler da. Es sind meine Landsleute, deutsche Steuerzahler, die mich mit ihrer Stimme unterstützen und meine Hilfe benötigen. Das ist nun mal so nach deutschem Recht und Gesetz.“ Im nächsten Moment geschieht etwas völlig Unerwartetes, ja, geradezu Peinliches: Die Frau fällt vor ihm auf die Knie, wirft mit ausgestreckten Armen ihren Oberkörper auf den Boden und wiederholt mit der Stimme eines winselnden Hundes: „Bitte helfen, Herr Abgeordneter! Sie können. Sie reich. Nur ein wenig helfen.“ Da antwortet der Abgeordnete: „…“

An dieser Stelle hören wir den Predigttext des heutigen Sonntags:

Text

Wie gut, dass der ungarische Staatschef Viktor Orban, der sich dieser Tage selbst zum Retter des christlichen Abendlandes gegen den Ansturm des Muselmanen erkoren hat, doch nicht so belesen in der Heiligen Schrift der Christenheit ist. Bestimmt hätte er längst den Satz unseres Herrn Jesus Christus zitiert: „Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ Zugleich aber bedauere ich, dass Leute wie er die Geschichte von der kanaanäischen Frau vermutlich überhaupt nicht kennen. Denn es ist der Glaube dieser Ausländerin, der sogar unseren Herrn Jesus Christus wenn man so will: „bekehrt“ und dem er schließlich selbst Recht geben muss: „O Weib, dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie du willst.“

Fragen wir also: Was sind die Kennzeichen solchen Glaubens?

Erste Beobachtung: Der Glaube dieser Frau ist unverschämt - und das im doppelten Sinn: Unverschämt, weil er Jesus, dem Christus, alle Macht zutraut zu helfen, im Himmel und auf Erden. Und unverschämt ist dieser Glaube, weil sich die Frau auch dann nicht ihres Zutrauens schämt, als sie auf die Knie geht und von ihrem Gegenüber noch gedemütigt wird. Denn einen Menschen, in welcher Form auch immer, einen Hund zu nennen, das war zu allen Zeiten eine Beleidigung. Sie aber braucht sich nicht zu schämen und sie lässt sich nicht beschämen.

Eine zweite Beobachtung: Der Glaube dieser Frau ist grenzüberschreitend - gleich in mehrfacher Hinsicht: Eine menschliche Grenze wird überschritten, weil in der damaligen Männergesellschaft eine Frau ganz unmittelbar und aufdringlich einen fremden Mann mit ihrem Anliegen anspricht - höchst ungewöhnlich! Eine geographische Grenze wird überschritten, weil sich die Frau als Ausländerin (sei es als Kanaanäerin wie in unserer Geschichte von Matthäus oder als Griechin aus Syrophönizien wie beim Evangelisten Markus) an den Juden Jesus wendet - auch das alles andere als alltäglich!

Und schließlich wird eine religiöse Grenze überschritten, weil sich die ausländische Frau, die als Heidin und Unreine galt, Hilfe von dem jüdischen Rabbi Jesus von Nazareth erhofft. Für damalige Zeiten eigentlich unfassbar! Unverschämter, grenzüberschreitender Glaube! Und er führt zum Ziel. Er überwindet nicht nur Grenzen, sondern zugleich alle damit verbundenen Vorurteile: die von Männern gegenüber Frauen, die von Einheimischen gegenüber Ausländern, und schließlich die zwischen der einen Religion und der anderen.

Solchem unverschämten, grenzüberschreitenden und Vorurteile überwindenden Glauben muss sich selbst Jesus geschlagen geben. Diese Frau führt ihm vor, dass wahrer Glaube kein berechnendes Rechnen, sondern ein berechtigtes Rechnen mit Gott ist!

Es ist eine neue Entwicklung, die die Frau hier anstößt. Und selbst Jesus wird in diese Entwicklung mit hineingenommen. Anfänglich steht er ja noch auf traditionellem Boden, wenn er sagt: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Aber er bleibt nicht stehen bei steinerner Bewahrung der Tradition. Im Glauben dieser Frau erkennt Jesus seinen eigenen Glauben: Das Vertrauen in unbedingte und grenzenlose Liebe. „Dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie du willst“, sagt er zu der Frau.

Damit erkennt Jesus diesen Glauben an als einen, der ihn mit seinen anfänglichen Aussagen ins Unrecht setzt. Das hätte Viktor Orban heute lernen können: dass eine ausländische Frau mit anderer Religion unseren Herrn Jesus Christus belehrt hat und er ihr darin auch noch Recht gegeben hat!

Fragen wir zum Schluss: Woher bezieht dieser Glaube seine Kraft? Nun, hier kämpft eine Mutter für ihr leidendes Kind. Es ist ein unbedingter Protest gegen alles Leid, das diesen Glauben motiviert und antreibt. Dieser Glaube hat Kraft! Er überwindet Vorurteile, versetzt Berge, ja, er bringt Gott selbst in Bewegung! Weil er alles daran misst, ob Leben bewahrt und Leid gemindert wird - egal wo in der Welt und gleich für wen.

Es ist dieser Glaube an das Lebensrecht eines jeden Menschen und an das Recht auf Barmherzigkeit von jedem Notleidenden, das uns das Recht gibt, ja, es zu unserer Pflicht als Christen macht, auch sogenannten religiösen Autoritäten gegebenenfalls zu widersprechen. Überall dort, wo religiöse Traditionen Leid zur Folge haben, da haben wir das Recht und die Pflicht zum Widerspruch! Wenn Menschen leiden müssen und vor die Hunde gehen, gilt es, unseren Glauben auf den Tisch der Herren und in die Ohren der Mächtigen zu bringen, damit für alle, und nicht nur für einige, etwas abfällt, von dem auch sie leben können!

Pfarrer Rudolf Koller   (Hospitalkirche Hof)

Text:

21 Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.
22 Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.
23 Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach.
24 Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.
25 Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir!
26 Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.
27 Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.
28 Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.
 


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