Liebe Leser,
Eine Wahlkampf-Szene in Deutschland 2015: Ein Abgeordneter besucht
seinen Wahlkreis, weil er sich zur Wiederwahl gestellt hat. Er ist
den Mitbürgerinnen und Mitbürgern wohlbekannt. Den ganzen Tag schon
ist er unterwegs, hält Ansprachen, schüttelt Hände, verteilt
Luftballons, unterschreibt Autogrammkarten. Gegen Abend ist er
ziemlich geschlaucht. Da tritt plötzlich eine Frau auf ihn zu:
gebräunte Haut, Kopftuch, Ende 30, Asylbewerberin aus Syrien. Mit
deutlich ausländischem Akzent spricht sie ihn an: „Entschuldigung,
Herr Abgeordneter, ich haben großes persönlich Problem. Meine
Tochter immer noch in Syrien. Wo Tochter wohnt, werden geschossen
und Hunger. Bitte helfen mir, Tochter nach Deutschland kommen kann!
Kein Geld. Tochter ganz verrückt dort. Tod-Angst.“
Der Abgeordnete schaut die Frau an, dann wendet er den Blick zu
seinen Wahlkampfhelfern. Aber aus seinem Mund kommt kein Wort.
„Bitte helfen, Herr Abgeordneter!“ hört man die Frau sagen, jetzt
schon etwas lauter und vom Tonfall her dringlicher. Da reicht ihm
einer der Wahlkampfhelfer schnell die Wahlkampf-Broschüre. „Sagen
Sie ihr einfach, da steht alles zum Asylrecht drin“, flüstert er dem
Abgeordneten leise zu. Und ein zweiter Helfer drückt der Frau einen
Kugelschreiber und eine Autogrammkarte in die Hand.
Aber die lässt sich damit nicht abspeisen. „Bitte helfen, Herr
Abgeordneter!“ ruft sie jetzt mit flehentlicher Stimme. Jetzt erst
wendet sich der Abgeordnete der Frau zu. „Ich bin nicht ihr
Abgeordneter!“ - Und nach einer kurzen Pause: „Ich bin in erster
Linie für die Interessen meiner Wählerinnen und Wähler da. Es sind
meine Landsleute, deutsche Steuerzahler, die mich mit ihrer Stimme
unterstützen und meine Hilfe benötigen. Das ist nun mal so nach
deutschem Recht und Gesetz.“ Im nächsten Moment geschieht etwas
völlig Unerwartetes, ja, geradezu Peinliches: Die Frau fällt vor ihm
auf die Knie, wirft mit ausgestreckten Armen ihren Oberkörper auf
den Boden und wiederholt mit der Stimme eines winselnden Hundes:
„Bitte helfen, Herr Abgeordneter! Sie können. Sie reich. Nur ein
wenig helfen.“ Da antwortet der Abgeordnete: „…“
An dieser Stelle hören wir den Predigttext des heutigen Sonntags:
Text
Wie gut, dass der ungarische Staatschef Viktor Orban, der sich
dieser Tage selbst zum Retter des christlichen Abendlandes gegen den
Ansturm des Muselmanen erkoren hat, doch nicht so belesen in der
Heiligen Schrift der Christenheit ist. Bestimmt hätte er längst den
Satz unseres Herrn Jesus Christus zitiert: „Es ist nicht recht, dass
man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ Zugleich
aber bedauere ich, dass Leute wie er die Geschichte von der
kanaanäischen Frau vermutlich überhaupt nicht kennen. Denn es ist
der Glaube dieser Ausländerin, der sogar unseren Herrn Jesus
Christus wenn man so will: „bekehrt“ und dem er schließlich selbst
Recht geben muss: „O Weib, dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie
du willst.“
Fragen wir also: Was sind die Kennzeichen solchen Glaubens?
Erste Beobachtung: Der Glaube dieser Frau ist unverschämt - und das
im doppelten Sinn: Unverschämt, weil er Jesus, dem Christus, alle
Macht zutraut zu helfen, im Himmel und auf Erden. Und unverschämt
ist dieser Glaube, weil sich die Frau auch dann nicht ihres
Zutrauens schämt, als sie auf die Knie geht und von ihrem Gegenüber
noch gedemütigt wird. Denn einen Menschen, in welcher Form auch
immer, einen Hund zu nennen, das war zu allen Zeiten eine
Beleidigung. Sie aber braucht sich nicht zu schämen und sie lässt
sich nicht beschämen.
Eine zweite Beobachtung: Der Glaube dieser Frau ist
grenzüberschreitend - gleich in mehrfacher Hinsicht: Eine
menschliche Grenze wird überschritten, weil in der damaligen
Männergesellschaft eine Frau ganz unmittelbar und aufdringlich einen
fremden Mann mit ihrem Anliegen anspricht - höchst ungewöhnlich!
Eine geographische Grenze wird überschritten, weil sich die Frau als
Ausländerin (sei es als Kanaanäerin wie in unserer Geschichte von
Matthäus oder als Griechin aus Syrophönizien wie beim Evangelisten
Markus) an den Juden Jesus wendet - auch das alles andere als
alltäglich!
Und schließlich wird eine religiöse Grenze überschritten, weil sich
die ausländische Frau, die als Heidin und Unreine galt, Hilfe von
dem jüdischen Rabbi Jesus von Nazareth erhofft. Für damalige Zeiten
eigentlich unfassbar! Unverschämter, grenzüberschreitender Glaube!
Und er führt zum Ziel. Er überwindet nicht nur Grenzen, sondern
zugleich alle damit verbundenen Vorurteile: die von Männern
gegenüber Frauen, die von Einheimischen gegenüber Ausländern, und
schließlich die zwischen der einen Religion und der anderen.
Solchem unverschämten, grenzüberschreitenden und Vorurteile
überwindenden Glauben muss sich selbst Jesus geschlagen geben. Diese
Frau führt ihm vor, dass wahrer Glaube kein berechnendes Rechnen,
sondern ein berechtigtes Rechnen mit Gott ist!
Es ist eine neue Entwicklung, die die Frau hier anstößt. Und selbst
Jesus wird in diese Entwicklung mit hineingenommen. Anfänglich steht
er ja noch auf traditionellem Boden, wenn er sagt: „Ich bin nur
gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Aber er bleibt
nicht stehen bei steinerner Bewahrung der Tradition. Im Glauben
dieser Frau erkennt Jesus seinen eigenen Glauben: Das Vertrauen in
unbedingte und grenzenlose Liebe. „Dein Glaube ist groß; dir
geschehe, wie du willst“, sagt er zu der Frau.
Damit erkennt Jesus diesen Glauben an als einen, der ihn mit seinen
anfänglichen Aussagen ins Unrecht setzt. Das hätte Viktor Orban
heute lernen können: dass eine ausländische Frau mit anderer
Religion unseren Herrn Jesus Christus belehrt hat und er ihr darin
auch noch Recht gegeben hat!
Fragen wir zum Schluss: Woher bezieht dieser Glaube seine Kraft?
Nun, hier kämpft eine Mutter für ihr leidendes Kind. Es ist ein
unbedingter Protest gegen alles Leid, das diesen Glauben motiviert
und antreibt. Dieser Glaube hat Kraft! Er überwindet Vorurteile,
versetzt Berge, ja, er bringt Gott selbst in Bewegung! Weil er alles
daran misst, ob Leben bewahrt und Leid gemindert wird - egal wo in
der Welt und gleich für wen.
Es ist dieser Glaube an das Lebensrecht eines jeden Menschen und an
das Recht auf Barmherzigkeit von jedem Notleidenden, das uns das
Recht gibt, ja, es zu unserer Pflicht als Christen macht, auch
sogenannten religiösen Autoritäten gegebenenfalls zu widersprechen.
Überall dort, wo religiöse Traditionen Leid zur Folge haben, da
haben wir das Recht und die Pflicht zum Widerspruch! Wenn Menschen
leiden müssen und vor die Hunde gehen, gilt es, unseren Glauben auf
den Tisch der Herren und in die Ohren der Mächtigen zu bringen,
damit für alle, und nicht nur für einige, etwas abfällt, von dem
auch sie leben können!
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text: 21 Und Jesus ging weg
von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.
22 Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und
schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter
wird von einem bösen Geist übel geplagt.
23 Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm,
baten ihn und sprachen: Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns
nach.
24 Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den
verlorenen Schafen des Hauses Israel.
25 Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir!
26 Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den
Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.
27 Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den
Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.
28 Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist
groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu
derselben Stunde.
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