Liebe Leser,
es ist schon eine Weile her. Ein trüber Tag im November. Ich saß am
Schreibtisch und mir der Schalk im Nacken. Und so entstanden – meine
Kirche und mich selbst im Blick –
24 goldene Regeln für eine evangelische
Kirchenkarriere. Sie erschienen sogar im Deutschen
Pfarrerblatt. Hier eine kleine Auswahl.
Regel 1: Jesus hat Dich lieb, so wie Du bist. Lebenslang wird woanders
gelernt, aber nicht in der Kirche. Merke: Um ein überzeugender
Botschafter der Guten Nachricht zu sein, darfst, ja sollst Du ein Leben
lang so bleiben wie Du bist.
Regel 2: Da nur Gott die letzte Wahrheit kennt, gibt es in der Kirche
auch nicht gut oder schlecht, richtig oder falsch. Merke: Es gibt nur
glücklich oder unglücklich, gelungen und weniger gelungen, einladend und
weniger einladend, zielführend oder weniger zielführend. Knapp daneben
ist in der Kirche so gut wie getroffen. Entscheidend ist, wie Du etwas
sagst. Vermeide jeden Streit, der unnötig ist und das ist fast jeder.
Bereue sofort jede Kritik, die jemand als lieblos empfindet. Denn
Empfindungen sind in der Kirche fast alles.
Regel 3: Stehe zu Deinen Fehlern und Unzulänglichkeiten und geißele die
Lieblosigkeit derer, die sie Dir vorhalten. Suche Erklärungen, warum
sich gerade dahinter Deine größten Stärken verstecken: Nur wer
überzeugend sündigt, kann sich überzeugend bekehren. Du wirst jede Menge
Gleichgesinnte finden. Lerne von der Ökumene: Keiner ist so schön
unfehlbar wie der Papst.
Regel 23: Bedenke das Ende! Sei in den Jahren des Dienstes ein Anwalt
der Elenden und genieße im Ruhestand die guten Kontakte, die Du Dir
nebenbei zu den Unternehmern und anderen karitativ organisierten
Besserverdienern aufgebaut hast. Kultur stinkt nicht.
Regel 24: Sorge dafür, dass Du Deiner Nachwelt in Erinnerung bleibst.
Denke an ein Forsthaus. In Erinnerung bleiben an der Wand nur die
kapitalsten Böcke, die geschossen wurden. Darum kümmere Dich zu
Lebzeiten um ein schönes Geweih.
Ich hatte schon befürchtet, für eine solche Eulenspiegelei in der Luft
zerrissen zu werden. Stattdessen bedankten sich einige Leser dafür, dass
sie sich schlapp gelacht hätten. Eine Reaktion habe ich nicht vergessen.
Eine Pfarrerin schrieb, sie hätte erst ab Regel 16 gemerkt, dass das
Ganze nicht ernst, sondern Spaß gewesen sei und sie wisse jetzt, warum
sie in dieser Kirche keine Karriere machen wolle.
Aber ist das meine Evangelische Kirche? Eine Kirche, in der der Schein
mehr zählt als das Sein? In der jeder schaut, wo er bleibt und wie er
sich nach oben wurschteln kann? Eine Kirche, die in sich selbst
verkrümmt bleibt; immer erfreut über jede Schlagzeile und jeden
Hingucker, aber hinter der Fassade oft voller Kultur des Wegsehens und
der Gleichgültigkeit? Vor einigen Jahren erließ die bayerische
Landessynode eine Bestimmung, nach der ein Pfarrer oder eine Pfarrerin
nach zehnjähriger Tätigkeit aufgefordert werden kann, die Gemeinde zu
wechseln. Viele sahen darin die ersehnte Chance, Geistliche bei
Nichtgefallen auch ohne Angabe von Gründen endlich wieder los zu werden.
Ist das meine evangelische Kirche? Ist das meine evangelische Kirche, in
der Lobbyarbeit, die Kunst sich bei wichtigen Leuten schön und wichtig
zu reden, die Seelsorge zurückdrängt, bei der nun einmal zweckfrei
zugehört wird und bei der es nicht um mich, sondern um einen anderen
geht: Kultur des Hinschauens und Hinhörens eben.
Womit wir mitten in unserem heutigen Predigttext wären. Diese Jesusworte
sind ja keine Ermunterung für den gemeinen Tugendbold. Der möchte
möglichst öffentlich das Licht seiner Tugend zum Strahlen bringen, indem
er andere an den Pranger stellt. Nichts von alledem finden wir bei
Jesus. Wenn er Menschen auf ihr kaputtes Leben und kaputte Verhältnisse
anspricht, tut er das unter vier Augen, wie gegenüber der Ehebrecherin
in Johannes, Kapitel acht: Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr. Ein
solcher Satz hat für den Christus in der Öffentlichkeit nichts verloren.
Deshalb tun wir gut daran, die Worte Jesu von hinten zu lesen. Denn wo
zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter
ihnen. Das ist die Überschrift. Zur Seelsorge gehören immer mindestens
zwei und der einzige und wahre Seelsorger Jesus Christus. Ohne ihn
können wir wohl den Finger in die Wunde legen. Aber können wir sie auch
heilen? Nur der Christus kann beides. Ohne ihn können wir Schuld
aufdecken und benennen. Aber können wir sie auch vergeben und vergehen
lassen? Nur der Christus kann beides. Ohne ihn können wir die Öde und
Irre sehen, in die ein Mensch geraten kann. Aber wissen wir den Weg nach
Hause? Nur der Christus weiß beides. Und deshalb ist jede Seelsorge ohne
ihn ein wirklich trostloses und hoffnungsloses Unterfangen.
Nur wenn er mitten unter uns ist, kann gelten, dass dort, wo unter vier,
sechs oder acht Augen geredet wird, nicht nur auf Erden, sondern auch im
Himmel etwas geschieht. Die Schlüsselgewalt ist eben keine Eigenschaft
oder Kompetenz der Kirche, sondern Folge der unbedingten Verheißung
Jesu, mitten unter uns zu sein. Was er spricht – durch das Wort der
Bibel und auch durch das Wort seiner Jünger – das geschieht wie auf
Erden, also auch im Himmel. Was für eine Ermutigung für eine Kultur des
Hinsehens und Hinhörens! Was für eine Ermutigung zur Seelsorge!
Ermutigung durch den „pastor pastorum“, den Hirten der Hirten. In der
Kirchengeschichte wurde dieser Begriff auch geprägt, um das Amt des
Bischofs zu beschreiben. Leitung in der Kirche hat am Christus als „pastor
pastorum“ Maß zu nehmen. Dass das auf etwas anderes hinausläuft als das
Amt des Beraters, des Managers oder des Personalentwicklers, muss man
nicht erklären. Ist es nicht fast zynisch, dass auch in unserer Kirche
die Leitungsämter fast nur noch aufs Planen und Personalentwickeln
fixiert sind und die Seelsorge anderen überlassen bleibt? Das läuft auf
eine Kirche hinaus, in der die Personalentwickler, die Planer und
Berater alles und die Seelsorger nichts mehr zu sagen und zu entscheiden
haben.
Wie kann man nur vergessen, dass der Macht besonders in der Kirche eine
gehörige Portion Vollmacht nun wirklich nicht schaden kann? Ja, kommt
denn Macht in der Kirche überhaupt ohne Vollmacht aus? Und wohin werden
die sogenannten Führungskräfte die Gemeinden führen, wenn sie nicht mehr
Seelsorger, Hirten für die Hirten, sein wollen und können? Ist der
Eindruck wirklich falsch, dass wir schon heute in der Kirche jede Menge
Planer und Personalentwickler haben und immer weniger Seelsorger und
Hirten? Ist der Eindruck falsch, dass man in der Kirche so oft statt der
Gegenwart des Herrn einen wohlgemeinten Rat bekommt? Unterhaltung und
Lifestyletipps statt Verkündigung und Seelsorge? Und was nicht mehr
entwickelt werden kann, wird dann irgendwann abgeschrieben. Das ist der
Zeitgeist mit seinem großen Geweih, aber nicht der Geist Jesu Christi.
Der Geist des Herrn führt ins Gespräch. Unter vier Augen zuerst. Und
dort geht es unter Glaubensgeschwistern nicht um Stilfragen, sondern um
die Wahrheit. Die Wahrheit schreibt keinen ab. Sie will uns für sich
gewinnen. Sie bittet um Einverständnis. Sie ist auf das Leben in guten
Verhältnissen aus. Und natürlich hat auch sie Manieren. Sie ist nicht
geschwätzig. Sie teilt sich in Liebe mit. Sie unterscheidet, was nicht
immer ohne Schmerz und Trennung geht. Sie schafft klare Verhältnisse.
Kann schon sein, dass man sich trennen muss. Aber wer jemand für einen
Heiden und Zöllner hält, bedenke, dass eben diese zu den Leuten gehören,
um die sich Jesus in besonderer Weise gekümmert hat. Dass es die ganze
Gemeinde sein muss, die einen solchen Schritt der Trennung vollziehen
muss, verhindert gerade das Mobbing von Einzelnen oder von bestimmten
Gruppen und Kreisen.
Vergessen wir nicht den, der solche Regeln für die Gemeinde aufstellt:
Es ist der gute Hirte, der hundert Schafe hat und die neunundneunzig
zurücklässt um das eine verlorene zu suchen. Wie sagt er zur Einleitung
dieses Gleichnisses: Seht zu, dass ihr nicht einen von diesen Kleinen
verachtet. Denn der Menschensohn ist gekommen, selig zu machen, was
verloren ist. (Mt 18/10a,11)
Pfarrer Johannes Taig (Hospitalkirche
Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Christus spricht zu seinen Jüngern:
15 Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht
zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder
gewonnen.
16 Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit
jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde.
17 Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er auch auf die
Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner.
18 Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch
im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch
im Himmel gelöst sein.
19 Wahrlich, ich sage euch auch: Wenn zwei unter euch eins werden auf
Erden, worum sie bitten wollen, so soll es ihnen widerfahren von meinem
Vater im Himmel.
20 Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich
mitten unter ihnen. |