Liebe Leser,
es war an einem Tag im August vor vielen Jahren. Mein jüngerer
Bruder und ich waren so um die zehn Jahre alt und hatten an diesem
wunderschönen Sommerferientag nur einen Wunsch: So bald wie möglich
ins Schwimmbad zu gehen. Da hielt uns die Mutter zwei große
Schüsseln hin und schickte uns zum Ernten in die
Johannisbeerplantage. Statt am kühlen Wasser zu liegen, saßen wir
schwitzend und von Mücken umschwirrt zwischen den Büschen und
zupften maulend Beeren.
Unsere Stimmung hatte den Nullpunkt bereits unterschritten, als eine
ältere Dame vor uns auftauchte. Sie war die moralische Instanz in
unserer Ecke. Wer Belehrung über Gut und Böse, Richtig und Falsch
begehrte, suchte sie auf. Wer solches nicht wünschte, ging ihr aus
dem Weg. Dazu nutzten wir jede Gelegenheit. Aber zum Weglaufen war
es jetzt zu spät. Sie hatte sich bereits vor uns aufgebaut und aus
ihrem Mund kamen die Worte: Ihr seid aber brave Jungs!
Das war zu viel! Mein jüngerer Bruder konnte sich seinen Kommentar
nicht verkneifen. Und so sprach er ihr ins Angesicht: „Ja, wir
leeren die Beeren ab und die Alten fressen sie.“ Das war natürlich
nur die halbe Wahrheit. (Wir fraßen sie auch.) Die Moralinstanz
wechselte die Farbe und dampfte Richtung Elternhaus ab, kehrte wenig
später mit meinem Vater zurück, der uns ein paar Maulschellen
verpasste; später allerdings entschuldigend zu Protokoll gab, auch
er sei dieser Moralinstanz nicht gewachsen gewesen und eigentlich
täte es ihm leid. Es war eine dieser Begegnungen mit dem Terror der
Tugend, dem man wirklich besser aus dem Weg geht.
Ob das auch für das Gleichnis Jesu gilt? Immerhin geht es auch hier
um einen Mann, der zwei Kinder hatte. In Palästina pflegte man
Kinder ab dem sechsten Lebensjahr in den Weinberg zu schicken. Arme
Familien hatten oft keine andere Möglichkeit. Es ging ums Überleben
der ganzen Familie. Da müssen wir schon den ersten Unterschied zu
meiner Geschichte feststellen. Und dann scheinen die Jungs im
Gleichnis doch aus anderem Holz geschnitzt als wir Kinder damals.
Der Mutter mit den großen Schüsseln ein „Nein“ sagen, das kam für
uns nicht wirklich in Frage. Auf „Ja“ sagen und sich dann verdrücken
stand mindestens drei Tage Schwimmbadverbot. Vielleicht hätte mein
jüngerer Bruder das Format gehabt, wortlos mit seiner Schüssel
abzuziehen, ein paar ausgiebige Runden im Schwimmbad zu drehen und
dann noch kurz vor Einbruch der Dunkelheit schnell ein paar Beeren
zu zupfen. Aber mit mir war dergleichen leider nicht zu machen.
Und so glichen wir doch eher dem älteren Bruder des verlorenen
Sohnes im anderen Gleichnis (Lukas 15,11ff.), der immer den Willen
seiner Eltern tut - mit zusammengebissenen Zähnen. Dieses andere
Gleichnis macht klar, dass Jesus solche Kinder im Hinblick auf das
Himmelreich für denkbar schlecht geeignet hält und vielleicht kommen
sie auch deshalb in diesem Gleichnis gar nicht vor. Zu unserer
Ehrenrettung muss ich anmerken, dass auch wir älter wurden, mein
jüngerer Bruder allerdings schneller als ich.
Ob Jesus das Gleichnis mit einem Augenzwinkern erzählt hat? Gleicht
der Neinsager nicht einem typischen Trotzkopf, der, wenn er etwas
haben will, von der Tante nach dem Zauberwort gefragt, grinsend
antwortet: „Aber flott“? Und wehe seine Erzeuger wollen etwas von
ihm. Dann ist der Vater blamiert und die Mutter seufzt: Was soll nur
einmal aus dir werden? Manche Eltern können ein Lied davon singen:
Ein solcher Trotzkopf ist manchmal ein anarchischer Terrorist. Wenn
nur ich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.
Aber auch ein solcher Trotzkopf muss einmal erwachsen werden. Er
merkt bekanntlich, dass er erwachsen ist, wenn er Dinge tut, obwohl
die eigenen Eltern sie empfohlen haben. Es ist ein schmerzlicher Weg
für Kinder und Eltern. Aus dem Weg gehen kann man dem nicht. Man
kann sich Momente vorstellen, in denen die Eltern die Hoffnung für
ihr Kind aufgeben. Und man kann sich Kinder vorstellen, die bis ganz
ans Ende der Sackgasse ihrer eigenen Wünsche und Vorstellungen
laufen müssen, um endlich die Richtung zu wechseln.
Der Jasager wird niemals erwachsen. Er bleibt sein Leben lang ein
kindischer Opportunist. Spätestens mit der Volljährigkeit bekommt er
für sein Verhalten nicht einmal mehr drei Tage Schwimmbadverbot. Er
wird so tun als ob und wird das für das Verhalten mit der geringsten
Fehlerquote halten. Er ist der kleine Mitläufer, der sich zu allen
Zeiten mit allen Verhältnissen bestens arrangiert. Vielleicht macht
er auch Karriere, weniger in der Wirtschaft, aber vielleicht beim
Staat, in der Kirche oder noch besser in der Politik. Dann können
viele die Erfahrung machen: Wer wissen will, wie man mit ihm dran
ist, ist arm dran. Wer sich auf ihn verlässt, ist verlassen. Auch
für das Himmelreich ist er nach Jesu Worten nicht geeignet, denn
dort kommen nicht die Jasager, die Mitläufer, die Abnicker und
Wackeldackel hin, sondern „die den Willen tun meines Vaters im
Himmel“ (Matthäus 7,21).
Und da haben wir längst den Bereich der augenzwinkernd erzählten
Lausbubengeschichten verlassen. Hier geht es um etwas anderes als um
Erziehungsprobleme und Johannisbeermarmelade. Jesus geht es, wie in
allen Gleichnissen, um das Himmelreich. Freilich gilt auch hier viel
öfter als uns lieb ist: Wie auf Erden, also auch im Himmel. Irdische
Weisheiten werden gleichnisfähig für das Reich Gottes und die
Botschaft vom Himmelreich nimmt es mit unseren Verhältnissen auf.
Auch das tut sie oft anders als uns lieb ist.
Wie auf Erden, so hält Jesus auch im Himmelreich nichts von
Opportunismus, schon gar nicht von der frommen Sorte. Zu der gehören
übrigens auch die, die so medienwirksam „zu ihren Fehlern stehen“.
Ja, so sagen diejenigen, aus heutiger Sicht sei es natürlich falsch
gewesen, aber nach dem damaligen Kenntnisstand und der allgemeinen
Lage sei es durchaus opportun und richtig gewesen. Das ist wie ein
Freispruch erster Klasse und wird in den Medien und im
Bekanntenkreis für menschliche Größe gehalten.
Jesus ist da freilich ganz anderer Meinung. Er möchte gerade und vor
allem nicht, dass wir bei unseren Fehlern und Sünden stehen bleiben!
An Zöllnern und Huren interessiert Jesus nicht die Größe und
Offensichtlichkeit ihrer Unmoral, sondern ihre Bereitschaft zur
Wende. Am verlorenen Sohn interessiert ihn nicht der Schweinestall,
sondern dass dort ganz unten die Bereitschaft zur Umkehr reift. Der
eine Sohn antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach
reute es ihn und er ging hin. Da tat es ihm leid. Das ist der
springende Punkt, an dem Gott ins Spiel kommt.
Als Jesus sein Lausbubengleichnis erzählt, ist er bereits in
Jerusalem. Schon kann er den Totenkopfhügel sehen, auf dem bald sein
Kreuz stehen wird. Nein, der himmlische Vater, von dem Jesus
erzählt, hat drei Söhne und dieser dritte erzählt uns heute von den
beiden andern. Dieser dritte Sohn ist der Christus selbst. Er ist
der, der „Ja“ sagt und auch wirklich in den Weinberg geht. Er ist
der, der Gottes Barmherzigkeit ins Spiel bringt. Er ist der, der
lieber selbst zu den Fehlern und Sünden seiner Schwestern und Brüder
und deren Folgen steht, damit auch nicht einer von ihnen das
Himmelreich verfehlt.
Und so ist dieses Gleichnis die dringende Bitte des Menschenbruders
Jesus von Nazareth, dass wir mit ihm Gott und seine Barmherzigkeit
ins Spiel kommen lassen in unseren Verhältnissen. Alles kann die
Liebe Gottes vertragen, außer, dass wir ihr gegenüber gleichgültig
bleiben. Darauf folgt Schlimmeres als drei Tage Schwimmbadentzug.
Andererseits: Wie viele unserer trostlosen Verhältnisse warten auf
eine heilsame Wende; z.B. auf die große Kraftanstrengung einer
kleinen Geste: „Es tut mir leid.“ Ein Nein, das in sich
zusammenbricht. Ein Ja, das Eindeutigkeit gewinnt. Jemand, der sich
von der Überforderung abwendet, zu seinen eigenen Fehlern zu stehen
und an seiner Gerechtigkeit zu basteln; sie stattdessen einem
anderen, dem Christus, überlässt und sich dem Guten zuwendet.
Darüber freuen sich die Engel im Himmel. Jesus zeigt auf die, die zu
seiner Zeit in der untersten Schublade stecken, auf die Huren und
Zöllner. Der Güte Gottes ist alles zuzutrauen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Christus spricht:
28 Was meint ihr aber? Es hatte ein Mann
zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und
arbeite heute im Weinberg.
29 Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute
es ihn und er ging hin.
30 Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe. Der aber
antwortete und sprach: Ja, Herr!, und ging nicht hin.
31 Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan?
Sie antworteten: Der erste. Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich
sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als
ihr.
32 Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und
ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und
obwohl ihr's saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, sodass ihr ihm dann
auch geglaubt hättet.
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