Predigt    Matthäus 27/26   Passionsgottesdienst nach Judika   30.03.2007

"Erinnerung an das Leid (Memoria passionis)"
(Von Vikar Jörg Mahler, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

Wir haben heute aus der Passionsgeschichte den Abschnitt über Jesu Verurteilung und Verspottung gehört. Nachdem sich die Volksmenge entschieden hat, dass Barabbas freikommt, wird Jesus von Pilatus den Soldaten überantwortet. Bevor diese ihm einen Purpurmantel und eine Dornenkrone überziehen, um ihn als König der Juden zu verspotten, wird Jesus gemartert und geschlagen. Mit protokollarischer Nüchternheit heißt es in der Bibel von Pilatus: „Jesus aber ließ er geißeln.“. Ein Satz nur - aber in ihm stecken viele Schmerzen und langes Leiden. Im Mittelalter haben Künstler gerade diese Szene immer wieder gemalt, um sich die Leiden unseres Herrn zu vergegenwärtigen, um emotional zu erfassen, was Jesus durchmachen musste. Ein Bild, das diese Geißelungsszene darstellt, finden wir in unserem Gesangbuch. Es ist ein Holzschnitt von Hans Baldung Grien, entnommen aus einem der letzten großen Erbauungsbücher des Mittelalters, dem „speculum passionis domini nostri Ihesu christi“ von 1507. Ich möchte sie einladen, dieses Bild während eines Orgelspiels zu betrachten und es zu meditieren. Sie finden es gegenüber der Nummer 75 im Gesangbuch.

Christus liegt nackt, hilflos, erniedrigt, geschunden am Boden. Verzweifelt greift er nach der Säule, wie um sich aufrichten zu wollen. Zwei Folterknechte schlagen erbarmungslos auf ihn ein. Seine Torturen scheinen schon länger anzudauern, denn die vor ihm liegenden Folterwerkzeuge sind deutlich abgenutzt. Stumm trauernd betrachten im Hintergrund zwei Menschen die Szene, es sind wohl Maria und Johannes.

Wenn ich Bilder wie dieses betrachte, dann frage ich mich: Wo ist mein Ort in diesem Bild? Wo kann ich mich wiederfinden? Mit wem kann ich mich identifizieren? Zunächst einmal schaue ich wie Maria und Johannes im Hintergrund fassungslos dem zu, was hier geschieht. Ich schaue überall dort fassungslos zu, wo Unrecht geschieht und Menschen leiden: Kinder unter unherzlichen Eltern, Mitarbeiter unter unbarmherzigen Kollegen, Völker unter gnadenlosen Diktaturen, Hungernde unter überheblichen Wohlstandsgesellschaften. Schaue ich dort überall wirklich fassungslos zu? Oder bin ich nicht schon längst abgestumpft, und mir geht das viele Leid, das täglich auf meinen Fernsehschirm flimmert, und das mir hier und dort begegnet, längst nicht mehr nahe?

Das Schwert im Herzen der Frau ist ein Ausdruck für ihren großen Schmerz. Das Schwert lässt uns erkennen, dass es sich bei dieser Frau um Maria handelt, denn es erinnert uns an die Weissagung des alten Simeon im Tempel: „Und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen.“ (Lk 2,35). Wie oft passiert das bei uns noch, dass durch unser Herz ein Schwert dringt, wenn wir sehen, wie andere Menschen leiden?
Der katholische Theologe Johann Baptist Metz betont, dass es die Stärke des christlichen Gottesglaubens ist, dass es ein in seinem Kern für fremdes Leid empfindlicher Gottesglaube ist. Er betont sogar, dass alle Religionen um die Frage des Leids konzentriert sind, und er ruft daher uns Christen und alle Religionen zum gemeinsamen Widerstand gegen das Leid auf. Nur in der memoria passionis, in der Erinnerung an das Leid des anderen, können wir unseren Glauben verantwortlich leben, sagt Johann Baptist Metz.

Jesu Leiden und Sterben bewegt mich dazu, mich einzulassen auf das Leid der anderen Menschen. Es bewegt mich dazu, auf die Stimme meines Herzens zu hören, und sensibel zu werden für das Leid in unserer Welt, vor unserer Haustüre und in unseren Familien. Ich kenne Menschen, die sich zutiefst von diesem Leid bewegen lassen, die schon gar keine Nachrichten mehr sehen können, weil sie sich mit den Opfern identifizieren und einfühlen, ja mit ihnen mitleiden. Doch diese Identifikation lähmt sie und lässt sie verzweifeln. Wir müssen die Balance finden zwischen einer Empfindlichkeit für das Leid der anderen, und der Kraft, diesem Leid aktiv zu widerstehen, wo es uns möglich ist.

Maria und Johannes sehen das Leiden Jesu, aber sie können nichts dagegen tun. Sie sind ohnmächtig gegen die römische Staatsgewalt. Aber gleichwohl gibt es Leid, wo wir etwas dagegen tun können! Im Angesicht des leidenden Christus leide ich mit den Arbeitskollegen mit, die gemobbt werden. Und da gehe ich auf diejenigen zu, die anderen das Leben schwer machen, und spreche das liebevoll und deutlich an. Im Angesicht des leidenden Christus leide ich mit mit den Hungernden auf dieser Erde. Und da bemühe ich mich, sie zu unterstützen, und zwar so wie die arme Witwe im Neuen Testament, die nicht etwas von ihrem Überfluss abgibt, sondern in ihrer Armut einen Blick für die Menschen hatte, denen es noch schlechter geht! Im Angesicht des leidenden Christus leide ich mit meiner kranken Nachbarin mit. Ich besuche sie und bin offen für das, was sie sich wünscht: ob meine Nähe und Gespräche, ob Ruhe und Zeit für sich selbst oder anderes. Das Leiden Christi lässt uns offen werden für die Nöte des anderen, so dass auch uns dessen Not im Herzen sticht: Denn nur so lassen wir uns auch dazu bewegen, füreinander dazusein.

Lassen wir unseren Blick nun von Johannes und Maria weiterwandern zu den Folterknechten. Voller Elan schlagen sie auf Jesus ein. Sie stoßen uns ab. Und doch frage ich: Habe ich nicht auch mit ihnen etwas gemein? Schlage ich nicht auch immer wieder auf andere Menschen ein, die sich nicht wehren können? Verletze ich nicht andere durch meine coolen Kommentare, mangelnde Rücksichtnahme, Überheblichkeit, Verrat oder Geschwätz hinter ihrem Rücken?

Die Menschen früher Generationen haben erkannt, dass es auch ihre Verfehlungen sind, die Jesus ans Kreuz gebracht haben. So dichtet Paul Gerhardt: „Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer, die haben dir erreget das Elend, das dich schläget, und deiner schweren Marter Heer.“ (L 84,3). Ist nicht unsere Unversöhnlichkeit, unsere Härte und Unbarmherzigkeit wie ein Rutenhieb auf den nackten Körper Jesu, oder wie ein Hammerschlag auf den Kreuzesnagel? Sehen wir ein Kreuz, ob in der Kirche oder am Wegesrand, dann ist das immer auch eine bittere Erinnerung an unsere Schuld!

Das mögen in unserer heutigen Zeit harte Worte sein. Und manch einer mag meinen: Die Kirche soll trösten und aufrichten, nicht aber uns unser Versagen vorhalten. Ja, das Evangelium tröstet und richtet auf, es nennt aber Unrecht auch beim Namen! Das Evangelium nimmt den Menschen in all seinen Facetten ernst: Es verschweigt seine dunklen Seiten nicht. Gerade darin nimmt es den Menschen ernst, der oft auch unter seiner Schuld leidet.

Die Passionszeit ist eine Leidens- und Bußzeit. Sie lädt uns ein, uns unsere Versäumnisse und Fehler bewusst zu machen. Sie lädt uns ein, unsere Schuld in der Beichte vor Gott zu bringen und seine Vergebung zu empfangen. Das Kreuz erinnert uns nicht nur an unsere Sünden, es erinnert uns v.a. daran, dass er sie getragen hat: „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder; es geht und büßet in Geduld die Sünden aller Sünder.“ (L 83,1). Damit ist das Kreuz ein Zeichen der Liebe Gottes! Wenn wir in der Karwoche zur Beichte gehen, und dort unser Unrecht eingestehen, bekommen wir diese Vergebung zu gesprochen und können hoffentlich erleben, wie die Last von uns abfällt, wie wir durch Gottes Gnade frei werden.

Ich erkenne mich in Johannes und Maria wieder, und leider auch in den Folterknechten. Manchmal, da fühle ich mich aber selber so, als würde ich geschlagen werden: Ich liege auf dem Boden, gemartert und geschlagen, und komme nicht mehr auf. Schreckliche Erlebnisse, Leid, Krankheit, Tod, Einsamkeit, Perspektivlosigkeit drücken mich nach unten: Ich liege unter der Martersäule. Doch wenn ich dann meinen Kopf zur Seite drehe, dann sehe ich Jesus neben mir liegen, gegeißelt und geschlagen, genau so wie ich mich fühle. Ich merke: Ich bin nicht allein. Da ist einer neben mir. Und wenn ich stille werde, und genau hinhöre, dann höre ich, wie er mir zuflüstert: „Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“. Es kann uns zur Hoffnung werden, dass Jesus das Leid überwunden hat, und zu neuem Leben gefunden hat. Paulus schreibt: „Wie die Leiden Christi reichlich über euch kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.“ (2.Kor, 1,5). Christus tröstet uns: Er kann es schenken, dass wir Kraft bekommen, im Leiden ausharren können und nicht zu Grunde gehen, dass wir vielleicht sogar mit schwacher Stimme singen können: „In dir ist Freude, in allem Leide.“. Und wenn es keine Hoffnung mehr für uns gibt, dann lassen wir doch unsere Augen auf den gerichtet, der neben uns am Boden liegt, und der das Leid überwunden hat hin zu einem neuen Leben, und der spricht: „Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“. Denn:

Doch ob tausend Todesnächte liegen über Golgatha,
ob der Höllen Lügenmächte triumphieren fern und nah,
dennoch dringt als Überwinder Christus durch des Sterbens Tor,
und, die sonst des Todes Kinder, führt zum Leben er empor. (EG 93,3)

Vikar Jörg Mahler  (Hospitalkirche Hof)

Text:

Jesus aber ließ er geißeln...

Quelle: Evangelisches Gesangbuch
 (EG), S. 156)


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