Liebe Leser,
ich mache mir nicht viel aus Hinrichtungen,
schrieb er in sein Tagebuch, es ist mein Job. Wenn ich ihn nicht
mache, macht ihn eben ein anderer. Schön ist das nicht. Wir losen
aus, wer nach Golgatha muss. Wen es trifft, meldet sich freiwillig
beim Chef. Mich trifft es öfter. Routine ist nicht das richtige
Wort. Man gewöhnt sich nicht an den Anblick gewaltsam sterbender
Menschen. Ich habe mir ein paar Dinge zurechtgelegt. Ich
konzentriere mich auf meine Aufgaben. Ruhe bewahren, die Ordnung
aufrechterhalten, Papiere kontrollieren, Anweisungen geben.
Auf so einer Hinrichtungsstätte geht es sowieso schon drunter und
drüber. Die Imbissbuden, die Touristen, die Glotzer und Gaffer.
Sogar ihre Kinder bringen sie mit. Wie das ist, wenn man gekreuzigt
wird, hat mich mal freundlich lächelnd so ein Japaner gefragt. Das
müssen Sie schon selber ausprobieren, hab ich gesagt. Dazu schien er
aber keine Lust zu haben. Und dann ist da manchmal dieser Maler, der
seine Kreuzbilder am Marktplatz verkauft. Richtig schön sehen die
aus. Ästhetik ist ja auch eine Art, sich den Tod vom Leib zu halten.
Meine Frau hat mal eins mit nach Hause gebracht. Eine Freude wollte
sie mir machen. Ich hab’s weggeschmissen.
Ich habe sogar mal eine Eingabe gemacht. Ich habe geschrieben, der
Rummel sei mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Wer so elend
verrecken muss, sollte dabei wenigstens seine Ruhe haben. Ganz zu
schweigen von den Angehörigen. Keine Presse, habe ich geschrieben
und keine Buden und Geldstrafen für Glotzer und Gaffer. Mein Chef
hat gesagt, ich sollte noch mal drüber nachdenken, wegen der
Arbeitsplätze. Eine Hinrichtungsstätte ist ein Wirtschaftsfaktor,
dagegen kann auch die Menschenwürde nichts ausrichten. Das wäre
überall auf der Welt so.
Ich schau ihnen nicht in die Augen. Ich schau den Sterbenden nicht
in die Augen. Das ist das Schlimmste. Alle paar Jahre bringen sie ja
in Europa unzählige Tiere um. Wegen so Krankheiten, die keine
Menschen umbringen. Nicht mal die Tiere sterben dran. Wegen der
Wirtschaft und wegen der Arbeitsplätze, sagt mein Chef. Eine Zeitung
hat vorne drauf lauter Gesichter von Tieren gedruckt. Die schauen
dich an. Das ist das Schlimmste. Wer stirbt, wie ein Hund und weiß,
dass er stirbt wie ein Hund, das ist ein Mensch. Aber wer will das
schon wissen. Die jedenfalls nicht, sonst würden sie besser mit
ihren Tieren umgehen.
T 61 heißt das Zeug, das sie ihnen im Verdachtsfall in die Venen
spritzen. Das führt in Sekunden zur Atemlähmung. Nicht einmal
schreien kann so ein Tier noch und auch das taubste und stummste
Tier kann schreien, wenn es stirbt. Human nennen wir das, wir
Sterbehelfer. Als ob dem Lebewesen, das da stirbt, geholfen werden
soll. Wir wollen doch uns selber helfen. Wir wollen nicht, dass es
lange dauert, weil wir dann lange zuschauen müssen. Wir wollen
nicht, dass es schreit, weil wir den Schrei dann hören müssen. Wir
verwenden Wein mit Galle vermischt oder Essig. Das zieht das Wasser
schneller aus dem Körper raus. Dann dauert es nicht so lang.
Sterbehilfe! Erzähl mir doch nichts! Da geht’s doch nicht drum, was
Tiere und Menschen fühlen, wenn sie sterben. Da geht’s doch nicht um
Mitleid mit den Geschöpfen. Da geht’s doch nur um das Mitleid, das
wir mit uns selber haben. Die Krone der Schöpfung fühlt nur mit sich
selbst. Schöne Krönung!
Manche schreien trotzdem. Wie dieser Jesus von Nazareth. Manche
wimmern so vor sich hin. Manche fluchen und schimpfen. Manche
beteuern ihre Unschuld, bis zum letzten Atemzug. Und bei Gott, die
haben manchmal sogar recht. Hängen nur dort wegen der Arbeitsplätze
und der Wirtschaft und wegen der Macht. Sind nur Politische, die
sich das Maul verbrannt haben. Bei Jesus hatte ich den Eindruck,
dass er nicht mal ein Politischer war.
Die Juden waren ganz scharf drauf, ihn loszuwerden. Aber
hingerichtet haben wir ihn. Später hat man viele Kirchen im
romanischen Stil gebaut und den Juden die Schuld am Tod des
Nazareners gegeben. Was für ein Unsinn! In Palästina starb keiner
ohne Erlaubnis aus Rom. Das ist doch klar.
Soviel ich weiß, hat Jesus den Menschen von Gott erzählt. Aber wer
will das schon hören. Nicht mal die Kirche. Wenn Gott erst mal zum
Schweigen gebracht ist, kann man in seinem Namen prima regieren.
Später haben die Menschen das Aufklärung genannt und die Kirche bis
zur Bedeutungslosigkeit abgeschafft. Statt im Namen Gottes haben sie
im Namen des menschlichen Geistes und der Humanität gesagt. Und
human ist, was gut für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze ist,
sagt mein Chef. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut es uns
gehen wird, wenn wir von Gott und vom Guten nichts mehr wissen.
Früher wollten die Leute in den Himmel kommen. Heute wollen sie ins
Fernsehen kommen. Ich habe ihm gesagt, dass das für mich eher die
Hölle wäre und ob er sich noch nie so eine Talkshow am Nachmittag
angeschaut hätte. Da ging’s auch nicht viel anders zu, als hier auf
dem Hügel. Wie denn, hat er gesagt, bin doch immer auf Arbeit.
Aber das mit der Dornenkrone war seine Idee. Und das mit dem Schild:
König der Juden. Ich stand neben dem Kreuz. Gedacht war es um den
Juden zu zeigen, wer in Wahrheit die Macht hat, nämlich wir. Aber
das haben die nicht richtig kapiert. Es war wie eine Prozession.
Jeder wollte dieses Kreuz sehen und das Bündel Mensch das dran
festgenagelt war. Gerichtsprozession wäre das richtige Wort dafür.
Was die ihm im Namen Gottes alles an den Kopf geworfen haben. Wo er
denn wäre, sein Gott. Und wo seine Kraft. Gesundheit wünschten sie
ihm. Selbst die Räuber, die neben ihm hingen, kamen ihm von ihren
Kreuzen von oben herab. Sie spuckten rüber auf den, der hilflos
verging im Hagel absoluter Kritik. Er sagte kein einziges Wort. Drei
Stunden lang, während es immer finsterer wurde und die Sonne
verschwand hinter immer mehr Wolkenpaketen.
Seinen Schrei habe ich nie mehr vergessen. Er hat nach Gott
geschrien. Aber der war nicht da. Zweimal hat er geschrien und dann
ist er gestorben. Und der Boden fing an zu zittern. Als wäre er an
seinem Kreuz hinab in die Erde und zur Hölle gefahren um weiter
schreiend nach Gott zu suchen, nach seinem himmlischen Vater, und
nach all den armen Seelen, denen wir freundlich beim Sterben
geholfen haben.
Ich bin der Hauptmann aus der Passionsgeschichte. Ich habe den Satz
gesagt: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen. Ich habe es auf
einmal gewusst, wie man etwas felsenfest weiß. Er hat sie alle
gefunden und seinen himmlischen Vater. Ich stand neben dem Kreuz,
das das Heil der Welt bedeutet. Hier war die Pforte zur Hölle. Hier
war die Pforte zum Himmelreich.
Später kam mein Chef. Na du, stehst du hier betroffen; der Vorhang
zu und alle Fragen offen? Er hat immer so einen Spruch drauf. In
Wahrheit ging der Vorhang nicht mehr zu. Sie haben mir erzählt, dass
genau im Moment seines Todes der Vorhang im Tempel in zwei Stücke
zerrissen ist. Die geschlossene Gesellschaft im Allerheiligsten
wurde offenbar abgeschafft. Ein paar Tote wurden lebend gesichtet.
Und der Leichnam des Jesus von Nazareth verschwand nach drei Tagen.
Als Leichnam für immer. Man hat ihn lebend gesehen.
Mich wundert das nicht. Ich hab ihn auch nie mehr vergessen. Was,
wenn wir uns wieder begegnen? Ich werde sagen ... ich werde nicht
wissen, was zu sagen ist. Wer hätte ihm gegenüber schon recht?
Niemand! Die ganze Welt nicht. Ich werde hoffen, dass er auch mich findet
und sein lässt ...
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche
Hof) (weitere Predigten von
Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de)
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Text:
33 Und als sie an die Stätte kamen mit
Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte,
34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's
schmeckte, wollte er nicht trinken.
35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider
und warfen das Los darum.
36 Und sie saßen da und bewachten ihn.
37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der
Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
38 Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten
und einer zur Linken.
39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe
40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in
drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig
herab vom Kreuz!
41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den
Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen:
42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er
der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen
wir an ihn glauben.
43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm
hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt
waren.
45 Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze
Land bis zur neunten Stunde.
46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama
asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?
47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie:
Der ruft nach Elia.
48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte
ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken.
49 Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm
helfe!
50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
51 Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben
an bis unten aus.
52 Und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen, und die Gräber
taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen
auf
53 und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in
die heilige Stadt und erschienen vielen.
54 Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das
Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen:
Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!
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