Predigt    Matthäus 9/9-13    Septuagesimä (70 Tage vor Ostern)   11.02.01

"Von der Attraktion des Evangeliums"

Liebe Leser,

Matthäus war nicht das, was wir eine arme Sau nennen würden. Er saß auch nicht jeden Tag bedrückt hinter dem Tresen seiner Zollstation und sah jeden mit diesem „Hab-mich-doch-lieb-Blick“ an, der einen Stein zum Erweichen bringt. Er hatte auch keine Selbstmordgedanken und heulte sich auch nicht ständig bei seiner Frau aus, was für ein armer Mensch er doch sei. Nein, der wirkliche Matthäus war ehr ein Mensch wie du und ich und nicht diese (Witz-) Figur aus der Puppenkiste frommer Bibelstunden. Die Aufmerksamkeit des Jesus von Nazareth kann man sich nicht verdienen, auch nicht durch noch so gekonnt dargebotene Verlorenheit und darum sollte auch keiner dazu aufgefordert werden, sich darin zu üben

Ich kann mir vorstellen, dass Matthäus ehr so ein Typ war, der auf jeder Veranstaltung mitmachte, die „Die Chance deines Lebens“ hieß. Seine Zollstation war ja nichts anderes. Eine Lizenz zum Gelddrucken für begrenzte Zeit unter dem Schutz der Besatzungsmacht Roms. Da war ihm egal, was seine Nachbarn dachten. Vaterlandsverräter hin, Betrüger her. Vielleicht hat er sich sogar einen Spaß draus gemacht und abends in der Dorfkneipe im Kreise seiner braven Mitbürger das Glas erhoben: Prost, Gemeinde, heute versauf ich meine Kirchensteuer! Und dann die dummen Milchgesichter, eine wahre Pracht! Matthäus, der jeder sozialen Kontrolle ins Gesicht lachte und all den Schwachköpfen, die sich ihr unterwerfen. Der offizielle Hass und manch heimliche Bewunderung seiner Umgebung war ihm gewiss.

Ob Matthäus wirklich so war? Wir wissen es nicht. Aber vieles spricht dafür und sympathischer ist dieser Matthäus auch, als diese Zwetschge der Untröstlichkeit, die ihrer Erlösung angeblich schon entgegengekrochen sein soll. Nein, liebe Gemeinde, eins steht fest: Auf Jesus gewartet hat Matthäus nicht. Der ist ihm zugestoßen. Aus heiterem Himmel!

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

Dürrer und erstaunlicher kann man die Wende eines Lebens nicht erzählen. Kürzer kann man nicht erzählen von der Attraktion des Evangeliums und seiner alles unterbrechenden und bewegenden Kraft. Hier fällt wie im Film die Klappe und dann fängt eine neue Lebensgeschichte an. Da hätten wir uns die Betrachtungen zu diesem Matthäus doch eigentlich sparen können. Wenn, ja wenn er nicht sozusagen einen Bruder hätte, von dem das Matthäusevangelium ein wenig später erzählt (Mt 19/16f). Wir kennen nicht einmal seinen Namen. Er wird uns als reicher Jüngling vorgestellt. Ein Mann mit makelloser Vergangenheit, von hoher Ernsthaftigkeit und Moral und wie Matthäus finanziell nicht mittellos. Der stand auf und folgte Jesus nicht, sondern ging traurig davon (Mt 19/22).

Wie schade! Den hätten wir uns alle an der Spitze der Kirchenleitung gewünscht, oder als Bundeskanzler. Was für ein Jammer, dass dieser hoffnungsvolle junge Mann im Himmelreich ein namenloser bleibt - und Jesus seine Kirche mit solchen Leuten wie Matthäus ins Werk setzt. Das hat zu allen Zeiten nicht nur den offiziellen, sondern auch den heimlichen Hass derer hervorgerufen, die das Leben und auch den Glauben für eine verdienstvolle und ernste Sache halten. Alles was recht ist, aber weder im Glauben noch im Leben kann man doch so tun, als ob nichts gewesen wäre. Das ist doch billig, wie Jesus sich mit einem Matthäus an einen Tisch setzt, der auch gleich noch seine Freunde und Freundinnen aus dem Milieu mitgebracht hat – all die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Stellt euch so ein Bild morgen früh in der Zeitung vor: Jesus im Kreis von solchen Leuten. Da braucht die Bildzeitung nicht mal was ins Foto montieren. Der Jesus ist erledigt. Der geht unter im Aufstand der Anständigen.

Und das ist er dann ja auch wirklich! Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? In dieser Frage, die die Pharisäer an die Jünger richten, steckt alles drin, was Jesus ans Kreuz bringt. Alles im Leben und Glauben hat seine Grenze, auch die Barmherzigkeit, und wer sie überschreitet, macht sich nicht besser, sondern in aller Augen schlechter. Er wird ein Teil der schlechten Gesellschaft, in die er sich begibt. Für Jesus bedeutet das: Er wird selbst ein Zöllner und Sünder durch das, was er tut.

Und deshalb lässt Jesus seine Jünger mit dieser Frage nicht im Regen stehen, sondern beantwortet sie selbst. Er nimmt auf sich, was nur er kann. Nur Gottes Barmherzigkeit kennt keine Grenze. Nur Gott kann den Sünder rechtfertigen, wie Martin Luther das genannt hat. Ein Ausdruck, den wir heute nur schwer verstehen. Er bedeutet, was wir vom Christus gerade gesagt haben. Er lässt sich in der Tat zum Zöllner und Sünder machen. Er wir ein Teil aller schlechten Gesellschaft. Er lässt sich alles Böse nachsagen, dass einem Matthäus nachgesagt werden kann. Er lässt sich in letzter Konsequenz wie einen Verbrecher ans Kreuz schlagen, damit den Zöllnern und Sündern, Matthäus, sogar dem Mörder, der neben ihm am Kreuz hängt in alle Zukunft das Gute nachgesagt werden kann, das dem Christus und Gott nachgesagt werden muss. Einen fröhlichen Wechsel hat Martin Luther das genannt. Für Gott ein schlechtes Geschäft, für Matthäus die Chance seines Lebens.

Das ist die Attraktion des Evangeliums und Matthäus zögert keinen Augenblick, sein Leben liegen und stehen zu lassen und Jesus nachzufolgen. Sein Leben liegen und stehen zu lassen, dass ist das Geheimnis des Glaubens. Darin liegt größte Freiheit und manchmal größte Not. Vom schlechten Teil, von den Schattenseiten unseres Lebens, fällt uns der Abschied nicht schwer. Die kann auf sich nehmen, wer will, damit wir dann im Guten, das übrigbleibt, um so heller strahlen. Sein ganzes Leben liegen und stehen lassen, das ist das Geheimnis des Glaubens. Und deshalb ist dieser Glaube und die Lehre von der grenzenlosen Barmherzigkeit Gottes bis heute umstritten.

Billig wäre sie, sagen manche, und Matthäus hätte überhaupt nicht wirklich oder zumindest nicht genug Buße getan und sich auch nicht genügend von seiner Vergangenheit distanziert. Tatsache ist, dass Matthäus nie wieder mit seiner Vergangenheit kokettiert hat. Tatsache ist, dass der Apostel Paulus für seinen Glauben zum Märtyrer wurde. Tatsache ist, dass der verlorene Sohn im Haus seines Vaters blieb.

Und Tatsache ist, dass der ältere Bruder des verlorenen Sohnes bis heute dessen Rückkehr nicht feiern will, weil sie seine Verdienste in den Schatten stellt (Lk 15/28). Tatsache ist, dass der reiche Jüngling traurig weggeht, weil er seine Güter nicht im Stich lassen kann. Tatsache ist, dass der Attraktion des Evangeliums all das entgegensteht, womit wir uns selbst für eine Attraktion halten. Das, wodurch wir uns für ein Geschenk des Himmels halten, hindert uns daran ein Geschenk des Himmels zu werden.

Paulus hat das im Rückblick einmal angesprochen. Im Rückblick auf all seine frommen Verdienste, mit denen er eine Bewerbung zum Apostel des Jahres mühelos gewonnen hätte. Er schildert sie und sagt dann der Gemeinde in Philippi, dass er sie für gar nichts hält, „damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, ..., sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit von Gott aufgrund des Glaubens (Phil 3/8f).

Und darauf hätte auch ein Matthäus nur ein Wort gesagt: Amen!

Pfarrer Johannes Taig

Text: Mt 9/9-13

(9)Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.
(10)Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern.
(11)Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?
(12)Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.
(13)Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.


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