Liebe Leser,
Matthäus war nicht das, was wir eine arme Sau nennen würden. Er saß
auch nicht jeden Tag bedrückt hinter dem Tresen seiner Zollstation und
sah jeden mit diesem „Hab-mich-doch-lieb-Blick“ an, der einen Stein zum
Erweichen bringt. Er hatte auch keine Selbstmordgedanken und heulte sich
auch nicht ständig bei seiner Frau aus, was für ein armer Mensch er doch
sei. Nein, der wirkliche Matthäus war ehr ein Mensch wie du und ich und
nicht diese (Witz-) Figur aus der Puppenkiste frommer Bibelstunden. Die
Aufmerksamkeit des Jesus von Nazareth kann man sich nicht verdienen,
auch nicht durch noch so gekonnt dargebotene Verlorenheit und darum
sollte auch keiner dazu aufgefordert werden, sich darin zu üben
Ich kann mir vorstellen, dass Matthäus ehr so ein Typ war, der auf jeder
Veranstaltung mitmachte, die „Die Chance deines Lebens“ hieß. Seine
Zollstation war ja nichts anderes. Eine Lizenz zum Gelddrucken für
begrenzte Zeit unter dem Schutz der Besatzungsmacht Roms. Da war ihm
egal, was seine Nachbarn dachten. Vaterlandsverräter hin, Betrüger her.
Vielleicht hat er sich sogar einen Spaß draus gemacht und abends in der
Dorfkneipe im Kreise seiner braven Mitbürger das Glas erhoben: Prost,
Gemeinde, heute versauf ich meine Kirchensteuer! Und dann die dummen
Milchgesichter, eine wahre Pracht! Matthäus, der jeder sozialen
Kontrolle ins Gesicht lachte und all den Schwachköpfen, die sich ihr
unterwerfen. Der offizielle Hass und manch heimliche Bewunderung seiner
Umgebung war ihm gewiss.
Ob Matthäus wirklich so war? Wir wissen es nicht. Aber vieles spricht
dafür und sympathischer ist dieser Matthäus auch, als diese Zwetschge
der Untröstlichkeit, die ihrer Erlösung angeblich schon
entgegengekrochen sein soll. Nein, liebe Gemeinde, eins steht fest: Auf
Jesus gewartet hat Matthäus nicht. Der ist ihm zugestoßen. Aus heiterem
Himmel!
Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen,
der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und
folgte ihm.
Dürrer und erstaunlicher kann man die Wende eines Lebens nicht erzählen.
Kürzer kann man nicht erzählen von der Attraktion des Evangeliums und
seiner alles unterbrechenden und bewegenden Kraft. Hier fällt wie im
Film die Klappe und dann fängt eine neue Lebensgeschichte an. Da hätten
wir uns die Betrachtungen zu diesem Matthäus doch eigentlich sparen
können. Wenn, ja wenn er nicht sozusagen einen Bruder hätte, von dem das
Matthäusevangelium ein wenig später erzählt (Mt 19/16f). Wir kennen
nicht einmal seinen Namen. Er wird uns als reicher Jüngling vorgestellt.
Ein Mann mit makelloser Vergangenheit, von hoher Ernsthaftigkeit und
Moral und wie Matthäus finanziell nicht mittellos. Der stand auf und
folgte Jesus nicht, sondern ging traurig davon (Mt 19/22).
Wie schade! Den hätten wir uns alle an der Spitze der Kirchenleitung
gewünscht, oder als Bundeskanzler. Was für ein Jammer, dass dieser
hoffnungsvolle junge Mann im Himmelreich ein namenloser bleibt - und
Jesus seine Kirche mit solchen Leuten wie Matthäus ins Werk setzt. Das
hat zu allen Zeiten nicht nur den offiziellen, sondern auch den
heimlichen Hass derer hervorgerufen, die das Leben und auch den Glauben
für eine verdienstvolle und ernste Sache halten. Alles was recht ist,
aber weder im Glauben noch im Leben kann man doch so tun, als ob nichts
gewesen wäre. Das ist doch billig, wie Jesus sich mit einem Matthäus an
einen Tisch setzt, der auch gleich noch seine Freunde und Freundinnen
aus dem Milieu mitgebracht hat – all die Leute, vor denen uns unsere
Eltern immer gewarnt haben. Stellt euch so ein Bild morgen früh in der
Zeitung vor: Jesus im Kreis von solchen Leuten. Da braucht die
Bildzeitung nicht mal was ins Foto montieren. Der Jesus ist erledigt.
Der geht unter im Aufstand der Anständigen.
Und das ist er dann ja auch wirklich! Warum isst euer Meister mit den
Zöllnern und Sündern? In dieser Frage, die die Pharisäer an die Jünger
richten, steckt alles drin, was Jesus ans Kreuz bringt. Alles im Leben
und Glauben hat seine Grenze, auch die Barmherzigkeit, und wer sie
überschreitet, macht sich nicht besser, sondern in aller Augen
schlechter. Er wird ein Teil der schlechten Gesellschaft, in die er sich
begibt. Für Jesus bedeutet das: Er wird selbst ein Zöllner und Sünder
durch das, was er tut.
Und deshalb lässt Jesus seine Jünger mit dieser Frage nicht im Regen
stehen, sondern beantwortet sie selbst. Er nimmt auf sich, was nur er
kann. Nur Gottes Barmherzigkeit kennt keine Grenze. Nur Gott kann den
Sünder rechtfertigen, wie Martin Luther das genannt hat. Ein Ausdruck,
den wir heute nur schwer verstehen. Er bedeutet, was wir vom Christus
gerade gesagt haben. Er lässt sich in der Tat zum Zöllner und Sünder
machen. Er wir ein Teil aller schlechten Gesellschaft. Er lässt sich
alles Böse nachsagen, dass einem Matthäus nachgesagt werden kann. Er
lässt sich in letzter Konsequenz wie einen Verbrecher ans Kreuz
schlagen, damit den Zöllnern und Sündern, Matthäus, sogar dem Mörder,
der neben ihm am Kreuz hängt in alle Zukunft das Gute nachgesagt werden
kann, das dem Christus und Gott nachgesagt werden muss. Einen fröhlichen
Wechsel hat Martin Luther das genannt. Für Gott ein schlechtes Geschäft,
für Matthäus die Chance seines Lebens.
Das ist die Attraktion des Evangeliums und Matthäus zögert keinen
Augenblick, sein Leben liegen und stehen zu lassen und Jesus
nachzufolgen. Sein Leben liegen und stehen zu lassen, dass ist das
Geheimnis des Glaubens. Darin liegt größte Freiheit und manchmal größte
Not. Vom schlechten Teil, von den Schattenseiten unseres Lebens, fällt
uns der Abschied nicht schwer. Die kann auf sich nehmen, wer will, damit
wir dann im Guten, das übrigbleibt, um so heller strahlen. Sein ganzes
Leben liegen und stehen lassen, das ist das Geheimnis des Glaubens. Und
deshalb ist dieser Glaube und die Lehre von der grenzenlosen
Barmherzigkeit Gottes bis heute umstritten.
Billig wäre sie, sagen manche, und Matthäus hätte überhaupt nicht
wirklich oder zumindest nicht genug Buße getan und sich auch nicht
genügend von seiner Vergangenheit distanziert. Tatsache ist, dass
Matthäus nie wieder mit seiner Vergangenheit kokettiert hat. Tatsache
ist, dass der Apostel Paulus für seinen Glauben zum Märtyrer wurde.
Tatsache ist, dass der verlorene Sohn im Haus seines Vaters blieb.
Und Tatsache ist, dass der ältere Bruder des verlorenen Sohnes bis heute
dessen Rückkehr nicht feiern will, weil sie seine Verdienste in den
Schatten stellt (Lk 15/28). Tatsache ist, dass der reiche Jüngling
traurig weggeht, weil er seine Güter nicht im Stich lassen kann.
Tatsache ist, dass der Attraktion des Evangeliums all das entgegensteht,
womit wir uns selbst für eine Attraktion halten. Das, wodurch wir uns
für ein Geschenk des Himmels halten, hindert uns daran ein Geschenk des
Himmels zu werden.
Paulus hat das im Rückblick einmal angesprochen. Im Rückblick auf all
seine frommen Verdienste, mit denen er eine Bewerbung zum Apostel des
Jahres mühelos gewonnen hätte. Er schildert sie und sagt dann der
Gemeinde in Philippi, dass er sie für gar nichts hält, „damit ich
Christus gewinne und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine
Gerechtigkeit, ..., sondern die durch den Glauben an Christus kommt,
nämlich die Gerechtigkeit von Gott aufgrund des Glaubens (Phil 3/8f).
Und darauf hätte auch ein Matthäus nur ein Wort gesagt: Amen!
Pfarrer Johannes Taig |
Text: Mt 9/9-13
(9)Und
als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß
Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte
ihm.
(10)Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen
viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern.
(11)Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum
isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?
(12)Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes
nicht, sondern die Kranken.
(13)Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea
6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich
bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.
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