Liebe Leser,
„Ja, ich rede von einem Ort, wo einen das Lesen in den Wahnsinn
treiben kann. Wo Bücher verletzten, vergiften, ja, sogar töten
können. Nur wer wirklich bereit ist, für die Lektüre dieses Buches
derartige Risiken in Kauf zu nehmen, wer bereit ist, sein Leben aufs
Spiel zu setzen, um an meiner Geschichte teilzuhaben, der sollte mir
zum nächsten Absatz folgen. Allen anderen gratuliere ich zu ihrer
feigen, aber gesunden Entscheidung, zurückzubleiben. Macht's gut,
ihr Memmen! Ich wünsche euch ein langes und sterbenslangweiliges
Dasein und winke euch mit diesem Satz Adieu!" Mit diesem Absatz
beginnt ein fantastischer Abenteuerroman von Walter Moers, der in
eine faszinierende Welt der Bücher führt.“ (zitiert nach Volkmar
Keil, GPM, 4, 2005, Heft 1, S. 9)
Wann haben Sie zuletzt ein Buch regelrecht verschlungen? Seltsam,
wie man nach dem letzten Wort erst wieder ein Gefühl für die eigene
Welt und sich selbst bekommen muss, als wäre man ein anderer in
einer anderen Welt geworden. Bücher können glücklich machen und uns
in Abgründe stoßen. Goethes „Werther“ löste unter den Lesern
bekanntlich eine Selbstmordwelle aus. Aber als die neuen Harry
Potter-Bücher erschienen, standen die Leser bei jedem Wetter und
auch mitten in der Nacht vor den Buchläden um keine Minute länger
ohne das neue Buch leben zu müssen.
Ähnlich muss es dem Seher Johannes gegangen sein. Seine Gemeinde
lebte in Angst und im Elend der Christenverfolgung. Ihr Leben war
ständig bedroht. Welche Zukunft hatte diese Gemeinde eigentlich
noch? Wo war ihr Herr? Hatte er sie im Stich gelassen? Da sieht
Johannes in der Hand Gottes ein Buch, innen und außen beschrieben.
Und außen stand, wie auf heutigen Büchern auch, eine
Kurzzusammenfassung des Inhalts. Dort könnte gestanden haben: Das
Schicksal der Welt, das Ende der Geschichte und das Reich Gottes.
Johannes wollte keine Minute länger ohne dieses Buch leben müssen.
Wenn dieses Buch nicht geöffnet werden konnte, würde die Zukunft
nicht beginnen und alles beim Alten bleiben. Und er weinte sehr,
weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und
hineinzusehen.
Dieses Buch ist gefährlich. Schon beim Aufbrechen seiner sieben
Siegel gerät die Welt aus den Fugen. Es ist aber vor allem ein
gefährliches Buch für alle, die gerne alles beim Alten lassen
würden. Die gerne die Leichen weiter im Keller ließen und das unter
den Teppich Gekehrte unter dem Teppich; die Herren in ihren
Herrengräbern und die Opfer von Hunger, Krieg und Gewalt in ihren
Massengräbern. In Ewigkeit. Amen.
Aber schon beim Aufbrechen der sieben Siegel wird wieder laut, was
auf Erden zum Himmel schrie und schreit und bringt die Welt ins
Wanken. Denn es ist gekommen der große Tag ihres Zorns und wer kann
bestehen? (Off. 6,17) Dann müssen vielleicht die, die in China um
des schnellen Geldes willen, ihre Flüsse verseuchten, ihr Benzol
selber saufen, die Fleischbetrüger ihr vergammeltes Fleisch selber
essen, die Kriegsherrn an ihren eigenen Kugeln sterben, die
Diktatoren in ihren eigenen Folterkammern verrecken. Dann fährt
alles, was zum Himmel schreit, als vernichtender Blitz wieder
herunter und lässt keinen entkommen. Denn alle Tage vom ersten bis
zum letzten sind in dieses Buch geschrieben. Jede große und kleine
Gemeinheit wurde bemessen. Dort steht, was bei jedem und allem
herauskommt. Wem soll man ein solches Buch in die Hand geben?
Heute schlagen wir im Gottesdienst unser Lektionar wieder von vorne
auf. Ein neues Kirchenjahr beginnt. Es enthält für jeden Sonntag
Stücke aus der Bibel. Bibel heißt einfach Buch. Ein Buch, das von
Gott erzählt: Was wir von Gott wissen und erhoffen dürfen und was
wir nach seinem Willen tun sollen. Dieses Buch erzählt vom Gott, der
bereut, die Menschen geschaffen zu haben und schließlich bereut, sie
vom Angesicht der Erde weggespült zu haben. Da macht er es anders:
Kommt zur Welt in einem Stall, wird ein Menschenbruder der
besonderen Art, predigt vom liebenden Vater, der keinen verloren
gibt, entsagt der Macht des Geldes und der Macht der Gewalt. Im
Evangelium für den ersten Advent sehen wir ihn in Jerusalem
einreiten auf einem Esel. Noch jubelt die Menge ihm zu. Ein paar
Tage später wird sie sich enttäuscht von ihm abwenden und ihn ans
Kreuz wünschen. Und dort hängt er auch bald; wird ins Grab gelegt
unter Felsen und Stein. Alles würde beim Alten bleiben.
Aber Gott lässt nicht zu, dass dieses Leben der Liebe und
Barmherzigkeit beerdigt wird und alles beim Alten bleibt. Er setzt
es an Ostern in Kraft. Und in was für welche! Mit dem Seher Johannes
ruht unser Blick auf dem Christus, der in Gestalt des Lammes, den
Schnitt noch sichtbar an der Kehle, zum Thron der Welt hinaufsteigt.
Sieben Hörner zeigen seine vollkommene Macht; sieben Augen seine
vollkommene Weisheit. Er ist von allen Geistern Gottes beseelt. Zu
ihm und nur zu ihm passt das Buch mit den sieben Siegeln. Für ihn
und nur für ihn ist der Richterstuhl bestimmt. Er hat alle Macht und
das letzte Wort über die Welt und über unser Leben.
Da können wir ganz gelassen bleiben, wenn uns christliche Eiferer
und Fundamentalisten die Hölle heiß machen wollen und dem Christus
beim Richten und Verdammen ein wenig behilflich sein möchten. Es hat
schon seinen Sinn, ihr lieben Mitbrüder und Mitschwestern von dieser
Fraktion, dass wir zu Beginn eines jeden Kirchenjahres unsere Bibel
von vorne und nicht von hinten aufschlagen. Dieses Buch gehört in
unsere Hände. Das Buch mit den sieben Siegeln allein in die Hand des
Christus. Gut, zu Beginn des Kirchenjahres daran erinnert zu werden.
Deshalb tun wir das Richtige, wenn wir wieder von vorne hören und
lernen, was es mit dem Lamm, mit dem Christus auf sich hat, der am
Ende der Bibel alle Macht übernimmt. Wir tun das Richtige, wenn wir
uns wieder hineinschmökern in das Evangelium von dem, der nicht zur
Welt kam um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen. Ein Täter
der Liebe, der selbst zum Opfer wurde und es dann sogar noch übers
Herz brachte, für die, die ihm das Leben nahmen, zu beten. Gibt es
einen, der besser geeignet wäre, das Buch der allerletzten Dinge in
die Hand zu nehmen, mit dem die Zeit in die Ewigkeit zurückkehrt und
nach Hause kommt? Und gibt es einen, der besser versteht, wie es
einem Johannes zumute war und uns in dieser Adventszeit. Auch unsere
Zeit ist voller Meldungen von Kriegen und Katastrophen und
Zeugnissen menschlicher Gier, Bosheit und Dummheit von
apokalyptischen Ausmaßen. Manchen von uns wird angesichts von
geschmückten Stuben und Weihnachtslichtern, die eigene Traurigkeit
und Einsamkeit um so deutlicher bewusst.
Dann erinnern wir uns mit dem Seher Johannes, dass es unser Herr
Jesus Christus sein wird, der die Welt einmal herrichten wird.
Seiner Liebe ist alles zuzutrauen. Wie hat es Gustav Heinemann 1950
zum Abschluss des ersten evangelischen Kirchentages gesagt?: „Wenn
Euch die Welt furchtsam machen will, dann denkt daran und antwortet
ihr: Eure Herren gehen, unser Herr aber kommt.“ Darauf sagen wir:
Amen
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
1 Und ich sah in der rechten Hand dessen,
der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen,
versiegelt mit sieben Siegeln.
2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer
ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde,
konnte das Buch auftun und hineinsehen.
4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das
Buch aufzutun und hineinzusehen.
5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es
hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids,
aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.
6 Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und
mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es
hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister
Gottes, gesandt in alle Lande.
7 Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf
dem Thron saß.
8 Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und die
vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte
eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete
der Heiligen,
9 und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch
und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit
deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen
und Völkern und Nationen
10 und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und
sie werden herrschen auf Erden.
11 Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron
und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war
vieltausendmal tausend;
12 die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist,
ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und
Ehre und Preis und Lob.
13 Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der
Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen:
Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und
Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!
14 Und die vier Gestalten sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen
nieder und beteten an.
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