Liebe Leser, „Sie müssen einfach dorthin
gehen“, sagt Sabatina am Telefon, „es ist wichtig“, und es klingt
so, als dulde sie keinen Widerspruch. Als sollte ein Stellvertreter
für sie hingehen, denn sie kann nicht. Es wäre lebensgefährlich. Sie
lebt im Opferschutz, und Demonstrationen sind schwer zu sichern. Die
Bäume in der Mönckebergstraße sind mit Lichtergirlanden umwickelt,
Auslagen zeigen Schuhe in Kunstschnee, zwischen Juweliergeschäften
lässt sich ein langbeiniger blonder Engel mit langbeinigen Pudeln
fotografieren. Auch die Pudel tragen Flügel.
Klare Sache: Hamburg bereitet sich auf die Geburt des Erlösers vor.
Oder so. War es das, was Sabatina vorführen wollte? Wie weit uns das
alles schon entglitten ist? Ein paar hundert Meter weiter steht eine
Gruppe von Demonstranten wie eine struppige Störung. Von einem
Podest herab spricht eine Frau vom Iran, von einem Pastor. Die
Menschen schützen ihre Kerzen vor dem Nieselregen. Wie ungemütlich,
die Leute da haben ein Anliegen. Auch das dreht sich ums
Christentum, aber irgendwie düsterer. Die Frau beschwört Passanten,
die mit ihren Einkaufstüten vorüberhasten, an den iranischen Pastor
Jussuf Nadarchani zu denken, der im vergangenen Jahr wegen seiner
Konversion vom Islam zum Christentum zum Tode durch Erhängen
verurteilt wurde. Nadarchani, Vater zweier kleiner Kinder, weigert
sich, die Konversion zu widerrufen, und sitzt.
Sabatina ist anwesend durch ihre Flugblätter. Auf denen heißt es:
„Was würden Sie tun, wenn der Austritt aus der Kirche mit dem Tod
bestraft würde?“ Die Frage klingt natürlich absurd in einer
Gesellschaft, die ihre Kirchenaustritte vollzieht wie die Kündigung
eines Zeitungsabos, das man längst vergessen hat. Und die hier: „Wie
viel Toleranz hätten Sie, wenn man Ihre Kinder töten würde, weil sie
christliche Vornamen haben?“ Die Fragen sind natürlich ein Skandal,
und der liegt darin, dass das christliche Bekenntnis hier im Rummel
plötzlich zur Frage auf Leben und Tod wird. (…)
Sabatina wird sich auch dieses Jahr keinen Weihnachtsbaum zulegen.
Aber sie wird Heiligabend zur Christmette gehen und beten, für ihre
Familie und für Jussuf Nadarchani im Iran - und alle anderen, die
wegen ihres Glaubens in dieser Nacht im Gefängnis sitzen.“ (Matthias
Matussek, Das Model Gottes, Spiegel 51/2011, S. 138)
Leider ist die Situation der Gemeinde des Johannes, der die
Offenbarung geschrieben hat, alles andere als Vergangenheit. Die
Gemeinde des Johannes, die unter brutaler Verfolgung litt und in der
viele als Märtyrer für ihren Glauben in den Tod gingen, hat auch
heute unzählige Brüder und Schwestern, die ihr Schicksal teilen. Und
nicht alle Geschichten gehen so gut aus, wie die von Pastor Jussuf
Nadarchani, der schließlich wieder frei kam. Die Christen sind die
weltweit am meisten verfolgte Religionsgruppe. Die lässt Johannes
vor dem Hintergrund ihrer Todesangst in den Himmel schauen, damit
sie sich dort wiederfinden und wiedererkennen in der Schar der
Unzähligen aus allen Völkern, die um den Thron Gottes versammelt
werden und dort den Sieg feiern. Oh when the saints go marching in.
Gewaltig ertönt der Lobgesang wie aus einem Mund: Heil dem, der auf
dem Thron sitzt, unserm Gott!
Und dem Lamm! Auch die Apokalypse zeigt uns den Richter und
Herrscher des Kosmos nicht als Supermann, sondern als Lamm, das den
Schnitt an der Kehle sichtbar an sich trägt. (Offenbarung 5/6) Das
wehrlose Kind in der Krippe, der hilflos am Kreuz hängende Jesus,
der Auferstandene, dessen Wundmale an Händen und Füßen noch zu sehen
sind und das wie geschlachtet erscheinende Lamm der Apokalypse sind
unschwer als ein und derselbe Christus zu erkennen. Der Erzmärtyrer
Christus sammelt die Märtyrer dieser Welt am Ende um sich als seine
nächsten Brüder und Schwestern. Wo ihr Blut mit dem Blut des
Christus zur Deckung kommt, wird es weiß wie Schnee und hell wie das
Licht Gottes.
Ein Ausleger schreibt: „Neuzeitliches Bewusstsein sollte sich
erinnern lassen, worum es hier geht: Wer leibhaftig in Bedrängnis
ist, braucht leibhaftige Zeichen. Aufs Blut gequälten Frauen und
Männern wird eine Theologie, die kein Blut mehr sehen kann und mit
der Leibhaftigkeit Christi Berührungsängste pflegt, nicht viel sagen
können. Schon Heinrich Böll hat erkannt, was die wirkliche
Alternative zum Sakrament des Lammes ist: Nicht ein leiblos und
blutleer berührungsscheuer Protestantismus tritt an seine Stelle,
sondern ‚das Sakrament des Büffels‘, der politische Kult von Habe,
Angepasstheit, Sieg und Macht.“ (Hans Schlumberger, GPM 4/2005, Heft
1, S.48)
Da darf, ja da muss die Frage gestellt werden, wie das mit unserer
Kirche heute ist. Ob sie zum Sakrament des Lammes steht oder ob sie
es predigt und sich tatsächlich auch dem Sakrament des Büffels
ergibt. Ob sie das Evangelium predigt und sich gleichzeitig auch bei
den Mächtigen andient und sich den Spielregeln des totalen Markts
hier und da anpasst, um wenigstens ein bisschen mehr Aufmerksamkeit,
Lob, gesellschaftliche Relevanz und Medieninteresse zu bekommen.
„Heil Cäsar“ mussten die Menschen zur Zeit des Johannes schreien.
„Heil Hitler“ hat ganz Deutschland vor gerade mal 75 Jahren
geschrien. Im Himmel, in den Johannes uns schauen lässt, wird aber
nur sehr laut „Heil Gott“ gesungen. Das ist die oberste und
politisch zu allen Zeiten relevante und gefährliche Konsequenz des
christlichen Glaubens.
„Gotteslob ist in sich (!) exklusiv. Wer Gott lobt, lobt nicht
zugleich auch (das Geld,) den Mammon oder Caesar, Hitler, Stalin
oder die Gesetze, und das ist natürlich anstößig für weltliche
Sangesbünde, die uns Menschen Doppelzüngigkeit abverlangen: Lieder
mit gespaltener Zunge in Richtung auf den einen Thron und den
anderen.“ (Friedrich W. Marquardt, GPM 4/1987, Heft 1, S.61) Muss
denn bei jedem gesellschaftlichen Großereignis auch noch eine
kirchliche Blockflötengruppe ihren Senf und Segen dazugeben? Was ist
für die Botschaft gewonnen, wenn hinter jedem staatlichen
Würdenträger auch noch ein geistlicher Talarträger im Bild ist?
Oder noch einmal anders gefragt: „Kann in einer Zivilisation, deren
Vorstandsetagen und Werbespots zweckbestimmt mit visionären Motiven
spielen, außer Künstlern und Verrückten noch jemand die irritierende
und tröstende Gewalt religiöser Visionen begreifen? Kann eine
Kirche, deren Planungsgremien und Leitbildkommissionen bloßen
Selbstentwürfen, Kompromissen und Wunschbildern zur Zeit
vorzugsweise den Rang von „Visionen“ verleihen, die Wucht
apokalyptischer Visionen überhaupt aufnehmen und vermitteln? Wir
sind ja nicht etwa in ein visionsloses Zeitalter eingetreten.
Visionen und vieles, was sich als Vision ausweisen will, dienen
unter der Herrschaft der Märkte nur anderen Zwecken als der Ehre
Gottes und der Verheißung von Befreiung. (…) Mitteleuropäische
Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Tage, bestallt, besoldet und
bürgerlichem Ethos verpflichtet, eigneten sich schlecht zur
Prophetie, so hört man es oft und fast bedauernd, und sie taugten
schon gar nicht zur Apokalyptik.
Aber ist der Ruf in die Martyria (der Ruf zum Glaubenszeugnis) denn
nur ein Ruf ins Martyrium? Legt er etwa in milderen Zeiten Pausen
ein? Man kann in falscher Demut Wort und Sache der Martyria (des
Glaubenszeugnisses) so hoch hängen, dass sie ihre fragende,
herausfordernde und tröstende Kraft für unsere Existenz verlieren.
Übersetzen wir Martyria probeweise mit „riskanter Nachfolge auf
Wegen der Deutlichkeit“ oder einfach mit „Deutlichkeit riskieren“,
so rückt näher und wird fassbarer, was gemeint sein könnte.“ (Hans
Schlumberger, aaO. S.50 f.)
Ja, ihr wisst es alle. So ist es überall und leider auch bei uns und
auch in der Kirche: Wer Deutlichkeit riskiert, kann sehr schnell in
der Schublade der Lieblosen, der Gemeinschaftszerstörer und
Querulanten verschwinden und ausgegrenzt sein oder wegen „nicht
gedeihlichen Wirkens“ aus dem Dienst entfernt werden. Das hat
Geschichte. Aber wer wollte im Angesicht einer Sabatina aus dem Iran
und im Angesicht der Unzähligen, die wegen ihres Glaubens um ihr
Leben fürchten müssen, solche Geschichten erzählen? Im Angesicht all
dieser Glaubenszeugen, sollten wir unser Herz ganz schnell wieder
aus der Hose holen. Nicht dass wir dann einmal in der Ewigkeit immer
noch mit den langbeinigen Pudeln in der Weihnachtsdeko stehen und
die Engel sich bei unserem Anblick vor Lachen biegen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
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Die Predigt zum Hören
Text:
9 Danach sah ich, und siehe, eine große
Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und
Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm,
angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen,
10 und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei unserm Gott, der
auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm!
11 Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und
um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht
und beteten Gott an
12 und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis
und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
13 Und einer der Ältesten antwortete und sprach zu mir: Wer sind
diese, die mit den weißen Kleidern angetan sind, und woher sind sie
gekommen?
14 Und ich sprach zu ihm: Mein Herr, du weißt es. Und er sprach zu
mir: Diese sind's, die aus der großen Trübsal kommen und haben ihre
Kleider gewaschen und haben sie hell gemacht im Blut des Lammes.
15 Darum sind sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht
in seinem Tempel; und der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen
wohnen.
16 Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht
auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze; a
17 denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu
den Quellen lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen
von ihren Augen.
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